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Nolte: Der Dissens ist an die Ränder gewandert

Ein langweiliger Wahlkampf - dieses Urteil macht die Runde. Für den Historiker Paul Nolte stimmt das nur bedingt. Allerdings fehlten in der Politik die Klarheit der Visionen, das mache eine Polarisierung schwieriger.

Paul Nolte im Gespräch mit Peter Kapern | 20.09.2013
    Peter Kapern: Mehr als zwei Drittel der Bundesbürger finden, dass der Bundestagswahlkampf langweilig ist. Das hat das Meinungsforschungsinstitut Forsa herausgefunden. Das ist doch bei Licht betrachtet ein seltsamer Befund, schließlich legt er ja den Schluss nahe, dass die Wähler die Politik offenbar für so eine Art Wanderzirkus halten, der gefälligst seine Tanzbären anständig auf Touren zu bringen hat.

    Was also ist vom Bundestagswahlkampf 2013 zu halten? Waren Wahlkämpfe früher besser, spannender? Bei der Einordnung soll uns Paul Nolte helfen, Historiker an der Freien Universität in Berlin. Guten Morgen, Herr Nolte.

    Paul Nolte: Ja! Schönen guten Morgen.

    Kapern: Herr Nolte, langweilen Sie sich auch?

    Nolte: Ach ja, das war nicht der glorreichste, nicht der interessanteste aller Wahlkämpfe, sowohl was den Inhalt angeht als auch was die Form, die Art, wie dieser Wahlkampf geführt worden ist, und beides muss man ja auch ein bisschen unterscheiden. Aber man muss natürlich auch aufpassen mit diesen Urteilen, und wenn jetzt kurz vor der Wahl eine Umfrage gemacht wird, ob oder wie langweilig dieser Wahlkampf gewesen ist, dann darf man auch nicht vergessen, dass dieses Urteil, dieser Wahlkampf sei langweilig gewesen, sich durch die Medien auch schon über fünf, sechs, acht Wochen in den Köpfen festgesetzt hat. Da ist dann auch nicht viel anderes zu erwarten.

    Kapern: Dieses Attribut der Langeweile, das dem Wahlkampf verliehen wird, über wen sagt das eigentlich am meisten aus, über die Politiker, die Wahlkämpfer also, über die Wähler, oder über die Medien?

    Nolte: Es sagt über viele was aus. Es sagt über das ganze Zusammenwirken auch etwas aus in dem Dreieck zwischen Medien, zwischen Politik auf der anderen Seite und auch den Wählern oder der Gesellschaft. Ich glaube, um bei diesem Punkt der Wähler und unserer Gesellschaft, uns allen, wenn wir so wollen, anzusetzen, dass wir ein bisschen auch selber daran Schuld sind. Die Deutschen wollten diesen Wahlkampf, glaube ich, auch nicht sehr konfrontativ führen, obwohl sie sich teilweise anders geäußert haben. Ich glaube, das hängt auch damit zusammen, dass wir aus einer Zeit herausgekommen sind in den letzten zehn, fünfzehn Jahren, in denen es sehr polarisiert, sehr konfrontativ teilweise zugegangen ist, und in vielen Themen habe ich auch nicht den großen Dissens gesehen, jedenfalls nicht den großen Dissens zwischen den beiden großen Lagern oder den beiden großen Parteien, den viele sich erwartet haben. Es gibt keinen großen Dissens über die Frage einer Energiewende. Da geht es eigentlich nur um langsamer oder schneller, oder etwas zügiger oder doch wieder etwas mehr abbremsen.

    Es gibt auch keinen Dissens über die ganz große gesellschaftspolitische Frage, mit der wir uns in den letzten zehn Jahren beschäftigt haben, nämlich über die Hartz-IV-Reformen. Da rudert die SPD jetzt ein bisschen zurück, steht aber zu Schröder, das wissen ja auch alle. Also der Dissens befindet sich an den Rändern eigentlich. Das gilt in diesem Fall für Die Linke, aber – und das ist natürlich das große Thema, über das auch und eindeutig zu wenig diskutiert worden ist – für den anderen Rand, für die Alternative für Deutschland, und damit für die Diskussion über die Euro-Rettung und das, was damit zusammenhängt.

    Kapern: Wenn Wähler mehrheitlich den Wahlkampf langweilig finden, heißt das, dass diese Wähler den Wahlkampf heute für eine Form von Entertainment halten, wie etwa einen Besuch im Kino oder im Fußballstadion?

    Nolte: Da muss man vorsichtig sein. Es spricht daraus dann auch so ein bisschen eine Blasiertheit. Und wir sehen ja auch eigentlich, haben auch bei den bayerischen Landtagswahlen gerade gesehen, übrigens mit deutlich steigender Wahlbeteiligung – also auch da wäre ich mit einer Prognose für übermorgen noch vorsichtig, was eine vielleicht weiter sinkende, ein Rekordtief der Wahlbeteiligung angeht -, dass es dann doch da wieder einen common sense gibt.

    Wir haben viele Umfragen, in denen Zweifel, auch sehr grundsätzliche Zweifel an der Demokratie, am parlamentarischen System geäußert werden, und dann doch einen common sense, der sich auch am Wahltag äußert. Vielleicht wollen die Wähler einen etwas anderen Wahlkampf und ich finde, da sollten wir ab dem 23. September auch mal drüber nachdenken, da müssen auch die Parteien drüber nachdenken, wie machen wir das lebendiger und kreativer. Andere Länder machen es ja auch vor. Ich finde, von dem, was in den USA, was Barack Obama und die Demokraten nicht erst 2012, sondern schon bei der ersten Obama-Wahl 2008 gemacht haben, dieser intensive digitale Wahlkampf, davon ist bei uns doch sehr wenig angekommen bisher.

    Nachdenken über neue Wahlkampfformen
    Kapern: Was genau ist das Faszinierende an einem digitalen Wahlkampf, der ja möglicherweise auch weite Wählerschichten ausschließt, die keine Digital Natives sind?

    Nolte: Ja sicher. Inzwischen sind wir das ja mehrheitlich, nicht natives, aber doch so ein bisschen ansozialisiert oder mit Kontakt zum Internet. Es geht einfach darum: Früher hatten auch nicht alle Menschen einen Fernseher, da musste man sich vors Schaufenster stellen. Aber das sind die neuen Kommunikationsmethoden, die kommen. Und wenn wir das bisherige langweilig finden, dann müssen wir das ja nicht durch das neue vollkommen ersetzen, aber dadurch ergänzen, durch neue Formen ergänzen. Da ist eine direktere, eine individuellere Ansprache auch möglich, die Mobilisierung von Personen. Auch das sind Elemente, die jetzt ja wieder eine Rolle gespielt haben. Der direkte Wahlkampf an der Haustür, auch das wird vielleicht stärker wiederkommen.

    Das ist ja gar nicht etwas ganz Neues und über uns Schwebendes, sondern im Grunde ist das auch eine Rückkehr durch die digitale Hintertür von sehr traditionellen Elementen, nämlich einer individuelleren Ansprache der Wähler, einer individuelleren Einbindung, dann bekomme ich eine E-Mail und dann will ich vielleicht mal fünf Euro spenden für die Steinbrück-Kampagne, beziehen sie meinen Newsletter, und wer weiß: Vielleicht gefällt uns das ja immerhin besser, als nur diese Armada von Plakaten auf dem morgendlichen Weg zur Arbeit an den Allee-Bäumen zu sehen, oder diese Wahlspots im Fernsehen, die schön quotengerecht zugeteilt werden, vor der Tagesschau oder der Heute-Sendung ansehen zu müssen.

    Eine Wahlkampfhelferin in Kalifornien hält Sticker mit der Aufschrift "I Voted"
    Eine Wahlkampfhelferin in Kalifornien hält Sticker mit der Aufschrift "I Voted" (picture alliance / dpa / Michael Nelson)
    In der Mitte der Gesellschaft herrscht Konsens
    Kapern: Sie haben eben gesagt, die große, harte Konfrontation bei zentralen wichtigen Themen, die fehle ein bisschen, und da wird ja in diesem Zusammenhang auch immer wieder erinnert beispielsweise an die Wahlkampf-Auseinandersetzungen in den 70er-Jahren, als es um die Ostpolitik ging, immer mit dem Unterton, solche großen Themen gibt es nicht mehr. Kann das stimmen in den Zeiten der Finanzkrise, die sich zu einer Krise der gesamten EU gemausert hat? Ist das nicht groß genug als Wahlkampfthema?

    Nolte: Die Themen sind noch da, die großen Themen. Aber es hat sich etwas verändert im Unterschied zu den 70er-Jahren. damals waren tatsächlich die Wahlkämpfe zugespitzter und polarisierter, teilweise übrigens auch dann auf eine brutale und unfreundliche Weise und man kann auch bis heute lange darüber streiten, was daran jetzt Taktik war und man sich dann hinter den Kulissen auch wieder die Arme um die Schultern legte. Es gab damals aber auch – und das war nicht gut - sehr viel wirkliches Misstrauen zwischen dem, was damals die CDU die Sozis nannte, die nicht mit Geld umgehen konnten, und umgekehrt die Vorwürfe.

    Mit anderen Worten: Da gab es auch eine Polarisierung der politischen Kultur und ein Misstrauen in den beiden Mehrheitslagern, das auch für eine demokratische Gesellschaft, wenn es einen bestimmten Punkt überschreitet, nicht gut ist. Was das ist, wie das funktioniert, das sehen wir heute in den USA in diesem grundtiefen Misstrauen zwischen Demokraten und Republikanern, das die Politik lahmlegt.

    Wir haben heute noch große Themen, ja, aber wie gesagt: Der Dissens in diesen Themen, der läuft nicht mehr durch die Mitte der Gesellschaft, so wie das 1972 gewesen ist, und dann sind 45 Prozent SPD- plus FDP-Wähler, also die Hälfte der Gesellschaft ungefähr, für Brandt und die Ostpolitik und die andere Hälfte ist aber auch ganz entschieden dagegen und findet das einen Verrat und Ausverkauf der deutschen Interessen, sondern dieser Dissens ist eher an die Ränder gewandert und dann sind da letztlich eben doch – wir werden es sehen, ob es 3,5 oder vielleicht doch 5,5 Prozent sind -, die ihrem ganz tiefen Unbehagen mit der Euro-Rettung oder ihrem ganz tiefen Unbehagen über die soziale Spaltung Deutschlands (da spiele ich auf Die Linke an) Ausdruck geben wollen. Aber wir haben noch in der Mitte der Gesellschaft einen Konsens, der die Grünen ebenso umkreist wie die beiden Volksparteien.

    Und ein zweites kommt hinzu: Wir sind uns in der Lösung dieser Fragen unsicherer geworden. Das ist auch ein Signum unserer Zeit. Die 70er-Jahre, die waren noch so zukunfts- und sicherheitsbewusst. Man wusste noch, wo es hingehen sollte. Jede Partei, jedes Lager meinte jedenfalls zu wissen, das ist die Lösung.

    Und heute geraten wir eigentlich bei jedem Ansatz selber ins Grübeln und relativieren ihn, indem wir ihn ausbrechen, selber. Das gilt ja auch für den Übergang zu erneuerbaren Energien, in ein Europa, das stärker integriert sein soll, aber auf der anderen Seite auch – und dann kommen uns wieder die Falten auf die Stirn. Also diese Klarheit der Visionen, die gibt es heute nicht mehr, und auch das macht diese Positionierung, auch Polarisierung gegeneinander schwieriger.

    Kapern: Diese harte Konfrontation, die es früher gegeben hat und heute nicht mehr, die hatte ja einen Nebeneffekt. Ich kann mich an Wahlkämpfe erinnern, bei denen Schüler Aufkleber trugen mit dem Spruch "Grüß Gott, Herr Strauß, ich bin eine Ratte", als Antwort darauf, dass Strauß die Linken als rote Ratten beschimpft hatte. Oder ein paar Jahre später in den Zeiten der Flick-Affäre, da tauchten Studenten bei Wahlkampfauftritten von Helmut Kohl auf und wedelten mit Geldscheinen. Da hatte man den Eindruck, das Wahlvolk mischte sich selbst ein in den Wahlkampf. Sind sie heute nur noch Zuschauer?

    Keine politische Bekenntniskultur in Deutschland
    Nolte: Ja, die Wähler sind tatsächlich mehr zu Zuschauern geworden. Das ist eigentlich eine merkwürdige Entwicklung in einer Gesellschaft, die an anderen Stellen ja auch mehr und mit Recht – ich finde das gut und bemerkenswert. Da setzen wir mehr auf unmittelbare spontane Beteiligung, auf Mitmachen, und daher kommt ja auch ein Teil der Skepsis gegenüber der repräsentativen Demokratie, dass wir sagen, dass wir nicht mehr die alle das vier Jahre machen lassen und wir wählen mal, sondern wir mischen uns jetzt ein und machen unterwegs auch in den 48 Monaten dazwischen das eine oder das andere. Die Fähigkeit oder Bereitschaft, sich zu politischen Parteien oder politischen Lagern oder auch zu Personen zu bekennen, oder anti zu bekennen, wie in dem Beispiel von Strauß, das Sie gerade genannt haben, die hat deutlich nachgelassen. Da sind viele auch diffuser geworden.

    Das ist im Grunde auch eine Spiegelung dieses neuen Unsicherheitsphänomens in der Sache, das ich beschrieben habe. Es ist nicht mehr so bei vielen 30-, 40-Jährigen, oder noch jüngeren, dass sie sagen, ganz klar, ich bin links oder ich bin für die CDU und mit Haut und Haaren für Helmut Kohl oder jetzt für Angela Merkel, sondern da sagt man, natürlich bin ich ein bisschen grün, aber auch wertkonservativ, und sozial bin ich sowieso. Das spielt eine Rolle, diese Unsicherheit in der eigenen politischen Positionierung.

    Aber dann zweitens auch die nachlassende Bereitschaft, sich selber zu bekennen. Es ist peinlicher geworden, als das in den 70er-Jahren noch der Fall war, über das eigene politische Bekenntnis zu sprechen, was wählt man eigentlich. Das trägt man nicht mehr buchstäblich im Button auf der Brust, oder man stellt es sich nicht auf einem Schild, Bush, Romney oder Obama, in den Vorgarten, so dass die Nachbarn es sehen können, zu welcher Kampagne, zu welcher politischen Partei ich mich bekenne, wie das in den USA der Fall ist. Also da würde ich mir etwas mehr tatsächlich Offenheit und politische Bekenntniskultur auch von den Deutschen wünschen.

    Kapern: Der Historiker Paul Nolte über den zu Ende gehenden Bundestagswahlkampf. Herr Nolte, danke für das Gespräch, schönen Tag und auf Wiederhören!

    Nolte: Auf Wiederhören!


    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.