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Norbert Elias
Vom Außenseiter zum Klassiker

Der Soziologe Norbert Elias galt lange als Außenseiter. Seine breit angelegten Untersuchungen langfristiger gesellschaftlicher Prozesse passten in keine der akademischen Disziplinen. Das änderte sich erst gegen Ende seines Lebens. Inzwischen gilt der vor 25 Jahren verstorbene Wissenschaftler als Klassiker seines Fachs.

Von Cornelia Rühle | 01.08.2015
    Der deutsch-britische Soziologe, Kulturphilosoph und Psychologe Norbert Elias (1897-1990).
    Der deutsch-britische Soziologe, Kulturphilosoph und Psychologe Norbert Elias (1897-1990). (dpa/picture-alliance/Roland Witschel)
    "Die Verleihung des Adorno-Preises hat für mich die Bedeutung eines Symbols. Sie stellt für mich die öffentliche Anerkennung dar der Möglichkeit und sogar der Notwendigkeit für Menschen, selbständig und unbekümmert um die älteren Autoritäten weiter zu denken und zu beobachten. "
    Als "Menschenwissenschaftler", der das in Einzelwissenschaften Zersplitterte wieder zusammenführt – so stellte sich der Philosoph, Soziologe und Psychologe Norbert Elias vor, als er 1977 den Theodor W. Adorno-Preis der Stadt Frankfurt am Main erhielt. Es war die erste Auszeichnung für den inzwischen Achtzigjährigen.
    Geboren wurde Norbert Elias am 22. Juni 1897 in Breslau. Er war das einzige Kind eines vermögenden deutsch-jüdischen Textilfabrikanten. 1915 meldete er sich freiwillig als Telegrafist zum Kriegsdienst. Nach einem Zusammenbruch wurde er Sanitätssoldat und begann zu studieren – zunächst Medizin, dann Philosophie. Um in den Jahren der Inflation die Familie zu unterstützen, wurde der junge Doktor der Philosophie Leiter der Exportabteilung einer Eisenwarenfabrik.
    „Es kamen wieder geordnetere Verhältnisse. Und da entschloss ich mich – das wusste ich doch immer, dass es mein Beruf sei, auf die Universität – ich wollte immer Universitätslehrer werden."
    1925 ging Elias nach Heidelberg, entschlossen, sich der Soziologie zu widmen, die wirklichkeitsnäher war als die Philosophie. Er hatte Glück. Karl Mannheim, der Begründer der Wissenssoziologie, dessen inoffizieller Assistent und Freund er bald geworden war, erhielt einen Ruf auf den Soziologie-Lehrstuhl der Frankfurter Universität. Er bot Elias an, als Habilitand mit nach Frankfurt zu kommen. Während Mannheim seine Wissenssoziologie ausbaute und unter der Leitung des Sozialphilosophen Max Horkheimer am Institut für Sozialforschung das Projekt eines interdisziplinären Materialismus in Gang kam, verfolgte Elias seinen eigenen Weg.
    Die Vergangenheit als Antwort auf aktuelle Probleme
    „Ich glaube nicht, dass es immer nur nützlich ist, wenn man von den akuten Problemen der eigenen Zeit her denkt. Ich sah, dass der Hof eine so wichtige Gesellschaftsform ist wie die Industriegesellschaft heute. So nahm ich mir also den mächtigsten Hof, den es im 17.Jahrhundert gab: von Ludwig XIV. Das ist eine Frage, die man sich stellen muss: Wie ist es überhaupt möglich, dass ein einzelner Mensch so viel Macht haben kann?"
    Der Hof des absolutistischen Herrschers wurde für Elias zum Modell für die Zivilisierung einer Elite. Das enge Zusammenleben führte zu gegenseitigen Abhängigkeiten und Verflechtungen und zwang dazu, Konflikte nicht länger kriegerisch auszutragen, sondern in Formen, die auf Affekt- und Triebkontrolle basierten – auf der Verwandlung von "Fremdzwang" in "Selbstzwang".
    Der Selbstzwang als Grund für gesellschaftliche Verschlechterung
    Die nationalsozialistische Machtübernahme führte zum Abbruch des Habilitationsverfahrens. Elias floh zunächst nach Frankreich, 1935 weiter nach England. Dort entstand sein Hauptwerk "Über den Prozess der Zivilisation". Im Nationalsozialismus sah er den Zusammenbruch eines Zivilisationsstandards.
    "Und die Frage, die sich mir aufdrängte, ist nun auch umgekehrt: Wie ist es denn überhaupt je zu dieser Gewissensbildung gekommen?"
    In seiner Untersuchung meinte er einen langfristigen Prozess im Abendland erkennen zu können, der ungeplant und unbeabsichtigt, aber gerichtet verlief: zunehmende gesellschaftliche Verflechtung ging einher mit zunehmender verinnerlichter Trieb- und Affektkontrolle der Individuen.
    Der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs machte Elias' Hoffnung auf eine Universitäts-Karriere in England zunichte. Erst 1954 wurde er Dozent für Soziologie an der Universität Leicester. Seit 1962 folgten Gastprofessuren. Der enorme Erfolg der 1976 erschienenen Taschenbuch-Ausgabe von "Über den Prozeß der Zivilisation" und der Adorno-Preis im Jahr darauf beflügelten ihn. In der Folge entstand nahezu die Hälfte seiner Publikationen. Tatsächlich wurde der Außenseiter zu einem Klassiker der Soziologie, der beispielhaft für eine Theorie langfristiger gesellschaftlicher Prozesse steht. Am 1. August 1990 starb Norbert Elias in seiner Wohnung in Amsterdam.