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Norddeutschland
Hünengräber liefern Einsichten in die Jungsteinzeit

Wer durch Norddeutschland reist, kennt die Hünengräber. Von den Mittelgebirgen bis hinauf an die Küste Schleswig-Holsteins trifft man im Wald und auf der Heide auf mächtige Grabhügel, aufgetürmt aus gewaltigen Steinbrocken. Diese Findlinge sind aus den Eiszeiten zurückgeblieben, die Gletscher haben sie mitgebracht.

Von Matthias Hennies | 12.11.2015
    Das Hünengrab "Teufelsküche" im Forst in Haldensleben (Sachsen-Anhalt), aufgenommen am 04.08.2015. Das rund 4.000 Jahre alte Hügelgrab stammt aus der Jungzeit, als Siedler aus Nordwesteuropa im heutigen Gebiet um Haldensleben sesshaft wurden.
    Das Hünengrab "Teufelsküche" im Forst in Haldensleben (Sachsen-Anhalt) (dpa / picture alliance / Jens Wolf)
    Die Gräber, die aus den Steinen errichtet wurden, gehen zurück auf die Jungsteinzeit, die Epoche der ersten Bauern und Viehzüchter.
    Ein Forschungsschwerpunkt an der Universität Kiel untersucht, wie und warum die Menschen die riesigen Brocken zu monumentalen Gräbern auftürmten – und gewinnt dabei neue Einsichten in Lebensweise und Denken im Neolithikum.

    Der Beitrag in voller Länge:
    Das Grab bei Wangels in Schleswig-Holstein liegt im dichten Wald, wenige Kilometer von der Ostsee entfernt. Ein stetiger Wind von der Küste zerrt an den Kronen der alten Buchen. Ein Dutzend Archäologen mit Schaufeln und Sieben, Schabern und Pinseln arbeitet an dem mächtigen Erdhügel. Von den tonnenschweren Findlingen, die das Grab in der Jungsteinzeit umgaben, stehen nur noch zwei. Die anderen wurden in früheren Jahrhunderten als Baumaterial abtransportiert. Man muss sich im Kopf ausmalen, wie der Bau ursprünglich aussah:
    "Wir müssen uns vorstellen, dass große Steine rundherum standen und darauf Steine als Dach gedeckt waren, Decksteine, das Ganze war überhügelt, ein Eingangsbereich blieb frei. Da ist auch ein kleiner Gang zu diesem Eingang, der Eingang lag dort, wo jetzt der tiefe Schnitt in unserer Fläche zu sehen ist."
    Große Zeit der Megalith-Bauten
    Die frühen Bauern errichteten die Großsteingräber, erzählt Grabungsleiter Martin Hinz. Die sesshaften Ackerbauern und Viehzüchter hatten sich bereits gut etabliert und die letzten, halbnomadischen Jäger und Sammler waren an den Rand gedrängt worden, als um 3650 vor Christus in Norddeutschland und Skandinavien die große Zeit der Megalith-Bauten begann. Im Volksmund heißen sie "Hünengräber", weil man sie einem großen Anführer zuordnete, doch der Name ist irreführend. Ausgrabungen haben gezeigt, sagt Dr. Hinz:
    "Dass hier kein ausgewählter Personenkreis bestattet worden ist, wir haben Kinder, Frauen, Männer, daher ist anzunehmen, dass es wirklich ein Bestattungsort war für jedermann, keine expliziten Häuptlingsgräber, wie man das früher immer noch gedacht hat."
    Eine Siedlungsgemeinschaft setzte alle ihre Toten zwischen den Findlingen bei, oft über Jahrhunderte, ohne Einzelne durch eine besondere Position oder kostbare Beigaben hervorzuheben. Archäologen finden in Norddeutschland allerdings keine Knochen der Toten mehr. Die Böden sind hier so sauer, dass alle Skelettreste vergehen.
    Im Wald von Wangels geht es auch nicht um die Grabkammer, die bereits gründlich erforscht wurde. Die Ausgräber, großenteils Archäologie-Studenten von der Universität Kiel, wollen zum Boden unter dem Grabbau vordringen – doch heute kommen sie nicht recht voran.
    "Ist das Timing, Baby? Eine Minute, dann geht's los hier!"
    Der Wind trägt immer wieder finstere Regenwolken herbei - und nach jedem Guss muss das Wasser mit Schwämmen aus der Grabungsfläche getupft werden.
    Martin Hinz möchte hier klären, ob das Grab auf gepflügtem Land errichtet wurde. Er vermutet, dass die frühen Bauern ihre Toten mitten auf dem Acker bestatteten.
    Enge Beziehung zum Land wird deutlich
    "Das ist sicher nicht losgelöst davon, dass Land jetzt eine ganz andere Qualität bekommt, es wird eine Ressource, man investiert in das Land, man muss den Acker roden, man muss Arbeit hineininvestieren und da kommt sicher auch ein anderes Bewusstsein auf für Landschaft."
    Denn Jäger und Sammler waren immer dorthin gezogen, wo die Natur ihnen die besten Ressourcen bot. Die sesshaften Bauern aber entwickelten erstmals eine enge Beziehung zum Land, ihrer Lebensgrundlage – und mit den weithin sichtbaren Megalithgräbern zeigten sie, dass es ihr Land war.
    Der Übergang von Wildbeutern zu Bauern und Viehzüchtern, die "Neolithische Revolution", setzte hier erst spät ein. Während sich Ackerbau und Viehzucht in Süddeutschland schon um 5500 vor Christus verbreiteten, dauerte es noch knapp anderthalb Jahrtausende, bis die Menschen im Norden die neue Lebensweise übernahmen.
    Noch einmal 500 Jahre danach, um 3650 vor Christus, begannen sie, monumentale Gräber zu errichten – zu einer Zeit, als die Landwirtschaft dramatisch expandierte. Jetzt erst begann ein großflächiger Ackerbau: Dass man nun die Findlinge an einigen Orten für Grabbauten sammelte, könnte daher auch praktische Gründe gehabt haben, meint Johannes Müller, Professor für Ur- und Frühgeschichte in Kiel.
    "Um 3650 vor Christus haben wir hier große Rodungsaktivitäten, haben wir wohl die Einführung des Hakenpfluges, und mit so einem Hakenpflug stören einfach die Findlinge, die ja noch überall rumlagen. Ich glaube, man hat so eine praktische, profane Angelegenheit dann eben verbunden mit Toten-Ritualen – die Ahnen wurden eingesetzt, um die Felder, die Landschaft, die Gemarkung zu markieren."
    Grab wurde in Kiel nachgebaut
    Johannes Müller koordiniert ein Schwerpunktprogramm der Deutschen Forschungsgemeinschaft zum Thema "Frühe Monumentalität und soziale Differenzierung". Er hat das Grab von Wangels leicht verkleinert in Kiel nachbauen lassen: Werbung für das Projekt und zugleich eine nützliche Übung in experimenteller Archäologie. 70 - 80 Wissenschaftler und Studenten rollten Fünf-Tonnen-schwere Steinbrocken über Baumstämme vor die Uni-Mensa, stellten sie in zwei Reihen auf und hievten mithilfe einer Rampe und langen Seilen die Decksteine darauf. Anschließend deckten sie den Bau mit einer Schicht Erde ab.
    Wenn man sich den Nachbau an der Kieler Mensa ansieht, versteht man einiges besser als im Wald von Wangels, denn die Forscher haben Details nachgebildet, die am jahrtausendealten Original kaum noch zu erkennen sind.
    "Sie sehen natürlich einerseits die Kammer mit den Findlingen, die so leicht nach innen biegend aufgestellt sind, die Decksteine. Das ist architektonisch eigentlich einmalig. Dann hier das sogenannte Zwickelmauerwerk zwischen den Trägersteinen, was die Lücken schließt. Das andere, was Sie hier sozusagen als Fußboden sehen, das ist gebrannter Feuerstein, der mit 400 - 600 Grad gebrannt wird, dann dieses weiße Farbe erhält und auf diesem Feuerstein fanden früher die Leichendeponierungen statt.
    Menschen des Neolithikums waren äußerst innovativ
    Das kleinteilige Trocken-Mauerwerk zwischen den dicken Findlingen beweist einmal mehr, wie innovativ die Menschen des Neolithikums waren: Sie erfanden sowohl den Hakenpflug als auch Rad und Wagen – und sie lernten, wie man mit Stein baut. Ihre Wohnhäuser errichteten sie trotzdem aus Holz und Lehm. Warum? Viele Forscher meinen: Weil sie das Reich der Toten als ewig ansahen, blieb der dauerhafte Baustoff Stein den Ahnen vorbehalten. Für die Welt der Lebenden dagegen benutzte man vergängliche Materialien.
    Der Aufwand für die Großsteingräber belegt auch, wie wichtig die Gemeinschaft den Menschen war.
    "Die Crux an der ganzen Geschichte ist der Transport dieser immens schweren Decksteine, und ich glaube, die Zahl von 70 - 80 Leuten ist realistisch."
    Was bedeutet, dass alle leistungsfähigen Bewohner eines neolithischen Dorfs mitanpacken mussten, um einen Megalithbau zu errichten: Es war eine Gemeinschaftsleistung. Jeder konnte dann damit rechnen, in der Grabanlage bestattet zu werden – und niemand wurde bevorzugt. Die frühen Bauern lebten rund 500 Jahre lang in einer egalitären Gesellschaft ohne starke Hierarchien. Erst ab etwa 3100 vor Christus nahm die Bedeutung des Individuums zu.
    Dass sie sich das Land angeeignet hatten, dokumentierten die frühen Bauern nicht nur durch die weithin sichtbaren Großsteingräber. Sie gingen auch in die Fläche und hoben ausgedehnte, meist ringförmige Grabenwerke aus, die die Wissenschaft vor noch mehr Rätsel stellen. Dr. Franziska Hage, ebenfalls Archäologin an der Universität Kiel, hat eine Anlage in Büdelsdorf bei Rendsburg untersucht, die über Jahrhunderte immer wieder genutzt wurde.
    Auf einem leicht erhöhten Sporn, der in das Flüsschen Eider hineinragt, rodeten die Menschen zuerst den Wald, dann trennten sie mit drei Ringen tiefer Gräben eine fünf Hektar große Fläche vom Umland ab. Der Innenraum, rund fünf Fußballfelder groß, blieb vermutlich leer, entscheidend waren die Gräben.
    "Die Anlage selbst ist ja ungefähr um 3750 vor Christus das erste Mal ausgehoben worden, in Form von drei umlaufenden Gräben und vermutlich einer Palisade. Danach ist sie direkt wieder verschlossen worden und ungefähr 300 Jahre später fast symmetrisch erneut ausgehoben worden. "
    Offenbar lagen die kilometerlangen Gräben nur wenige Tage offen, so Franziska Hage, bevor sie wieder zugeschüttet wurden. In der Zwischenzeit müssen die Steinzeitleute sie für etwas sehr Wichtiges genutzt haben – so wichtig, dass sie die Lage der Gräben dauerhaft kennzeichneten, vielleicht durch schwere Steine, damit ihre Nachfahren sie wiederfinden konnten. Nach 300 Jahren, nach der Lebenserwartung der Steinzeit an die zehn Generationen später, hoben die Menschen exakt die selben Gräben erneut aus. Sie kannten sogar ihre Tiefe, denn sie hörten auf zu graben, kurz bevor sie die alte Grabensohle erreichten. Vermutlich eine Geste des Respekts vor den Vorfahren.
    "Nach der zweiten Aushebung der Gräben hat wohl eine leichte Wiederbewaldung des Sporns stattgefunden, man hat die Anlage also etwas vernachlässigt und hat dann etwa 3250 auf dem Platz eine Siedlung errichtet, eine sehr große Siedlung mit etwa 50 Häusern, die auch recht groß waren. "
    Auf dem Sporn entstand kein alltägliches Dorf: Eine alte Fernhandelsverbindung, die von Skandinavien nach Süden verlief, kreuzte hier die Eider und die Siedlung fungierte als Handwerks- und Handelszentrum. Die Archäologen fanden viel weißen Feuerstein, der offensichtlich als Halbfabrikat in quaderförmigen Blöcken angeliefert und im Dorf zu Beilklingen weiterverarbeitet wurde. Die Bewohner müssen gut daran verdient haben, denn bei den Ausgrabungen kamen Bernsteinschmuck und zahlreiche verzierte Tongefäße zutage. Nach rund 100 Jahren wurde die Siedlung aufgegeben. Die Steinzeitleute hoben die Gräben dann ein letztes Mal aus und errichteten zusätzlich zwei massive, monumentale Palisadenringe. Aber wozu?
    Heilger Ort der Ahnenverehrung?
    Da die weite Innenfläche wieder leer blieb, kann die Anlage nicht als Befestigung gedient haben. Da sie vom Wasser abgeschnitten war, eignete sie sich auch nicht als Kraal für das Vieh. Die besten Hinweise auf die Nutzung liefern andere Grabenwerke, bei denen Knochen im Boden erhalten geblieben sind. Dr. Hage verweist auf eine Ausgrabung auf der dänischen Insel Fünen:
    "Da gibt es zahlreiche unterschiedliche Deponierungen von Knochen, auch Menschenknochen: Einerseits, dass ganze Schädel in den Gräben deponiert wurden, aber auch, dass Knochen zermahlen und deponiert worden sind, also Menschenknochen tatsächlich, die auf Reiskorn-Stärke zusammengerieben und dann deponiert wurden, aber auch einzelne Langknochen, also man kann da kein festes Ritual rekonstruieren heute, jedoch dürften die Grabenwerke durchaus im Zusammenhang mit einem Bestattungsritual gesehen werden."
    Vielleicht stellten die Grabenwerke einen heiligen Ort der Ahnenverehrung dar. Er wurde nur alle paar Generationen genutzt, blieb in der Erinnerung der Menschen aber dauerhaft präsent. Die Totenrituale führten wohl ausgewählte Persönlichkeiten durch, die sich durch die Palisaden symbolisch vom Rest der Bevölkerung abgrenzten.
    Einen Eindruck vom Alltagsleben – und damit auch von der Bedeutung des Totenkults – vermitteln die Rekonstruktionen neolithischer Häuser im Steinzeitpark Dithmarschen in Albersdorf.
    "Wir stehen hier tatsächlich jetzt vor einem der ältesten Bauernhäuser bei uns in Norddeutschland, dieses ist auch tatsächlich aus der Zeit der Großsteingräber, ungefähr um 3200 vor Christus gebaut."
    Mit 13 Metern Länge allerdings relativ klein, so Dr. Rüdiger Kelm, der Leiter des Parks. Oft waren auch die Häuser der frühen Bauern monumental. Manche erreichten eine Länge von 70 Metern und der Giebel am Eingang ragte fünf Meter hoch in den Himmel.
    Typisch ist hier aber die Konstruktion: Lange, massive Rundholzpfosten tragen das schwere, tief herunterhängende Dach aus Gras. Die Außenwände aus Weidengeflecht sind sorgsam mit Lehm abgedichtet. Das Innere – dunkel, da Fenster fehlen – unterteilen Trennwände in drei Räume. Durch einen Vorraum, der wohl als Lager diente, geht es in die Mitte des Hauses, wo man sich um das Feuer sammelte.
    Ahnenkult soll kollektive Identität sichern
    "Häufig haben wir bei diesen Häusern dann auch einen dritten Raum, wo wir jetzt auch mal hingehen können, der vermutlich auch als Lagerraum gedient hat, aber der vielleicht auch eine kultische Funktion hatte, es gibt nämlich oft Gruben, die auch mit Stein eingefasst sind, wo tatsächlich auch Knochen, und zwar nicht nur Tierknochen, sondern auch Menschenknochen, niedergelegt worden sind. Vielleicht ist das der mythische Ahnherr dieses Hauses, dieser Familie, der sich hier im Leben der Menschen, die ihm nachfolgen, wiederfindet."
    Stein für die Toten, Holz und Lehm für die Lebenden: Das selbe Prinzip findet sich in einem benachbarten Gebäude wieder, das nach den Funden einer Ausgrabung in Dänemark rekonstruiert wurde. Den ungewöhnlichen Bau deuten die Archäologen daher als Kulthaus:
    "Das Besondere an diesem Haus ist, dass es nicht nur aus vergänglichem Material, also Holz und Lehm, gebaut ist wie die anderen Häuser, sondern dieses Haus hat auch tatsächlich Steine, große Findlinge, die hier verbaut worden sind."
    Die Verehrung der Toten spielte für die Kultur der frühen Bauern eine zentrale Rolle. In Gesellschaften, die keine Schrift kennen, dient ein komplexer Ahnenkult häufig dazu, sich der kollektiven Identität zu versichern, betont Johannes Müller, der Koordinator des Forschungsprojekts "Frühe Monumentalität". Daher wurden die Vorfahren im Neolithikum Norddeutschlands und Skandinaviens nicht nur an Großsteingräbern und Grabenwerken verehrt, sondern waren überall präsent.