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Nordsyrien
Flucht aus der Sicherheitszone

Im Oktober starteten türkische Streitkräfte eine Offensive in Nordsyrien. Auf syrischem Territorium schufen sie eine sogenannte Sicherheitszone - einen etwa 30 Kilometer tiefen und mehr als 100 Kilometer breiten Streifen entlang der türkischen Grenze. Doch sicher fühlt sich dort offenbar niemand.

Von Björn Blaschke | 23.12.2019
Eine Syrerin flieht aus der Kampfzone zwischen türkisch geführten Truppen und kurdischen Kämpfern der syrisch-demokratischen Kräfte (SDF)
Flucht aus Syrien (AFP / Delil Souleiman)
Die Wände des Häuschens aus grauen Betonsteinen gemauert, das Dach - aus Plastikplanen. Eine Notunterkunft in Qamishli im Nordosten Syriens. Hierhin mussten Mahdi Daoud und seine Familie Anfang Oktober fliehen, berichten sie einem örtlichen Mitarbeiter des ARD-Studios Kairo. Ihre Heimatstadt Ras al-Ain, eine Stadt rund zwei Autostunden westlich – liegt jetzt in der sogenannten türkischen Sicherheitszone in Nordsyrien:
"Früher hatte es öfters Gefechte zwischen beiden Seiten gegeben. Aber dieses Mal war es anders: Die Türken starteten sofort mit Luftangriffen. Kurz nach dem Angriff herrschte Panik und die Menschen flohen und ließen alles stehen und liegen. Tragische Szenen haben sich da abgespielt. Es war sehr schwer, dem Bombardement und anderem zu entkommen."
Berichte von möglichen türkischen Kriegsverbrechen
Internationale Menschenrechtsorganisationen erheben gegen die Türkei Vorwürfe. Die türkischen Streitkräfte und ihre syrisch-arabischen Verbündeten hätten im Zuge ihrer Militäroffensive gegen die kurdischen YPG-Milizionäre möglicherweise "Kriegsverbrechen" verübt, es sei zu "Massentötungen" gekommen, so beispielsweise Amnesty International. Auch Mahdi ist nach wie vor entsetzt:
"Sie sind ausgesprochen niederträchtig und gewissenlos mit den Leuten umgegangen. Wir haben Vieles gesehen. Aber diese Menschen besitzen keine Werte und keine Moral."
Mahdi Daoud ist pensioniert, hat früher als Lehrer in Ras el-Ain gearbeitet. Es sei ihm und seiner Familie gut gegangen. Das änderte sich, als sie auf der Flucht vor der türkischen Armee und ihren arabischen Kämpfern in Qamishli ankamen – sagt Mahdis Frau Sheikha:
"Offen gestanden leiden wir sehr als Flüchtlinge. Wir hatten alles, nichts hat uns gefehlt - und jetzt haben wir gar nichts mehr. Kein Gas zum Heizen, keine Möbel, nichts - deshalb leiden wir sehr."
Keine Schule, kein Wasser
Drei Kinder haben Sheikha und Mahdi. Die älteren beiden seien zum Glück versorgt, einer studiere im Ausland, der andere arbeite für eine Hilfsorganisation. Aber ihr Jüngster, ein 14-jähriger Teenager, geht nicht mehr zur Schule, seit er als Flüchtling in Qamishli wohnt, der Unterricht fällt aus, die Zahl der Flüchtlinge ist einfach zu groß.
Die medizinische Versorgung und auch die mit Lebensmitteln sei für die etwa 300.000 Menschen, die vor den türkischen Invasoren geflohen sind, einigermaßen in Ordnung – sagt Fee Baumann. Die Deutsche arbeitet als Projekt-Managerin für den Kurdischen Roten Halbmond Nordost-Syrien. Aber es gebe andere gravierende Mängel – sagt Fee Baumann per Internet-Telefon:
"Eins der größten Probleme ist, dass immer noch das Wasserhauptversorgungsrohr nicht funktioniert. Das wurde bei einem Angriff der Türkei beschädigt. Das heißt, wir haben jetzt weit mehr als 700.000 Menschen, die immer noch ohne adäquate Wasserversorgung sind."
Derzeit bekommen die Menschen in der Region rund um Qamishli Wasser in Tanklastzügen geliefert. Ein hygienisches Problem, das zur Verbreitung von Infektionen führen kann.
Lieber im Flüchtlingslager als in der Sicherheitszone
Trotz dieser Probleme bleiben Familien wie zum Beispiel die von Sheikha und Mahdi lieber als Flüchtlinge in Qamishli, außerhalb der so genannten Sicherheitszone. Aber mehrfach hat die türkische Führung angekündigt, ihre Besatzung noch ausweiten zu wollen. Daher fürchten Flüchtlinge wie Mahdi und Sheikha, dass sie erneut zu Flüchtlingen im eigenen Land werden könnten.
"Bevor wir hierhergekommen sind, haben wir gehört, dass es auch in dieser Region Raketen- und Mörser-Beschuss gab. Also, bis jetzt leben wir in der Angst, dass sie auch hier wieder angreifen."