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Nordsyrien-Konflikt
"Es gibt einen kurdischen Nationalismus"

Viele Kurden wünschten sich einen Nationalstaat, sagte die Politologin Gülistan Gürbey im Dlf. Allerdings habe sich bei den politischen Akteuren die pragmatische Sichtweise durchgesetzt, dass ein nationaler Staat bei dieser Konstellation der Weltpolitik nicht möglich sei.

Gülistan Gürbey im Gespräch mit Benedikt Schulz | 27.10.2019
Ein Mann hat sich eine Fahne um den Kopf gebunden.
Kurden sind das drittgrößte Volk im Nahen Osten, sagte die Politologin Gülistan Gürbey im Dlf (AFP/ ANP/ Remko de Waal)
Kurden seien keine homogene Gruppe, sagte die an der Freien Universität lehrenden Politologin Gülistan Gürbey im Dlf. Die Frage sei, ob es überhaupt homogene Gruppen auf der Welt gebe. Dennoch sei es wichtig festzuhalten, dass die Kurden das drittgrößte Volk im Nahen Osten seien - und das keinen Staat habe. Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges und dem Zerfall des Osmanischen Reiches folgte eine künstliche Grenzziehung von Nationalstaaten. "Die Kurden wurden dann auf die Türkei, den Iran, den Irak und Syrien aufgeteilt", sagte sie.
So habe sich die Situation für die Kurden in den jeweiligen Ländern, in denen sie zur Minderheit geworden sind, unterschiedlich entwickelt. Es gebe aber dennoch eine Gemeinsamkeit: Jegliche politische, kulturelle und rechtliche Forderung der Kurden wurde jahrzehntelang massiv unterdrückt. Teils habe man diese Forderungen gewaltvoll durchsetzen wollen, teils aber auch friedlich. "Wir haben aber zum Beispiel im Irak eine autonome Region Kurdistan, die verfassungsrechtlich seit 2005 anerkannt ist. Das stellt für die Kurden die fortschrittlichste Entwicklung dar", sagte die Politologin. Bei vielen Kurden herrsche eine zunehmende emotionale Empfindung, eine eigene Gruppe zu sein - und auch ein Recht auf einen Nationalstaat zu haben.
"Es handelt sich um ein geografisches Gebiet"
Allerdings habe sich bei den verschiedenen politischen Akteuren eine pragmatische Sichtweise durchgesetzt - nämlich, dass ein nationaler Staat bei dieser Konstellation der Weltpolitik nicht möglich sei. Dennoch: "Es gibt einen kurdischen Nationalismus", sagte Gürbey. Dieser habe im Zuge der Globalisierung nach dem Ende des Kalten Krieges und parallel zu den Entwicklungen in den jeweiligen Staaten zugenommen. Je massiver ihre Unterdrückung gewesen ist, desto größer sei der Widerstand gewesen und dadurch sei der kurdische Nationalismus erstarkt. Dazu käme die Möglichkeit, sich durch die Digitalisierung grenzüberschreitend zu vernetzen. Auch der Begriff Kurdistan würde von vielen Kurden immer noch gebraucht - dabei gehe es nicht zwingend um einen Nationalstaat, sondern vielmehr handele es sich um ein geografisches Gebiet, in dem die Kurden seit Jahrzehnten lebten.