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Norwegen
Fünf Jahre nach dem Breivik-Massaker

Vor fünf Jahren verbreitete der Massenmörder Anders Breivik in Norwegen Angst und Schrecken. Bei Anschlägen in Oslo und auf der Insel Utøya tötete er 77 Menschen. Überlebende, Hinterbliebene und Helfer von damals leiden bis heute. An diesem Freitag gedenkt Norwegen der Todesopfer.

Von Kai Schlüter |
    Der frühere norwegische Ministerpräsident Stolenberg legt auf Utøya einen Kranz nieder.
    Der frühere norwegische Ministerpräsident Stoltenberg legt 2015 auf Utøya einen Kranz nieder. ( Fredrik Varfjell / NTB SCANPIX / AFP)
    Marte Ödegarden ist zum Jahrestag Breivik-Massakers auf einer Urlaubsreise in den USA. Vor fünf Jahren wurde sie von zwei Kugeln in den Oberkörper lebensgefährlich verletzt. Krankenhaus, Reha, chronische Schmerzen, Angstattacken. Schon im vergangenen Jahr mied sie zum Jahrestag den Ort des Massakers, wo Anders Behring Breivik 69 Menschen erschoss und versuchte, auch sie zu töten. Nie mehr, auch nicht in 10, 15 oder 20 Jahren werde sie dorthin zurückfahren. Nie mehr.
    Breiviks Leben ist vollständig erforscht
    Marte Ödegarden versucht ein normales Leben. Das ganze Land versucht ein normales Leben. Heute gibt es Gedenkfeiern. Im Regierungsviertel, wo Breivik mit einer Autobombe acht Menschen tötete, und auf der Insel Utöya. Wie Gedenkfeiern so sind: Die Ministerpräsidentin spricht, das Kronprinzenpaar ist anwesend. Gottesdienst, Schweigeminute, Trauermusik.
    Breiviks Leben ist vollständig erforscht. Es gibt polizeiliche Ermittlungsberichte, Gerichtsakten, Biografien, psychiatrische Gutachten, Zeitzeugenberichte und Aussagen des Täters. Aber es gibt keinen Konsens in der Frage, warum Breivik zum Massenmörder wurde. War er krank? War er zurechnungsfähig? War es Hass?
    Die Journalistin Åsne Seierstad hat eine bemerkenswerte Breivik-Biografie geschrieben. Sie gab ihrem Buch, das im Frühjahr auch auf deutsch erschienen ist, den provozierenden Titel "Einer von uns". Neben der Trauer um die Toten und dem Mitgefühl für die vielen Verletzten ist dies wohl der größte Schmerz.
    "Er lebte unter uns". Ein Norweger. Hat er mit seiner Untat das Land verändert? Die Polizei versagte 2011; ein Jahr später trat der Polizeichef zurück. Die sozialdemokratische Regierung von Jens Stoltenberg, der heute NATO-Generalsekretär ist, wurde von einer Koalition der konservativen Høyre mit der rechtspopulistischen Fortschrittspartei abgelöst. Breivik hatte ihr einige Jahre angehört, sich jedoch lange vor dem Attentat von der Fortschrittspartei abgewandt. Und der politische Aufstieg der Rechtspopulisten hatte lange vor Breivik begonnen.
    Lange hat das Land über ein nationales Denkmal diskutiert
    "Wir sind uns nicht einig, dass sich Norwegen so oder so geändert hat", sagt Åsne Seierstad. "Wir sind im Grunde weitgehend dieselben geblieben, die Debatten auch."
    Lange hat das Land über ein nationales Utøya-Denkmal diskutiert. Am Festland gegenüber der Insel wird eine Landzunge abgetrennt. Eine dreieinhalb Meter breite Spalte wird bis unter die Wasseroberfläche in den Fels geschnitten. Eine "Wunde der Erinnerung" mit den Namen aller Opfer. Anlieger und einige Hinterbliebene fühlen sich übergangen. Eine ganz normale Debatte, die Kulturministerin Linda Hofstad Helleland entschieden hat.
    "Das war ein langer Prozess, und leider war es nicht möglich, zu einer Einigung zu kommen. Manchmal muss man einfach einen Beschluss fassen, auch wenn einige uneinig sind. - Alle, die jemanden verloren haben, werden dann einen Platz zum Trauern haben."
    Norwegen, sagt die Breivik-Biografin Åsne Seierstad, ruht auf einem soliden Fundament. Es werde nicht durch die Tat eines Einzelnen ausgelöscht oder verändert.