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Notre Dame de Paris
Nabel Frankreichs mit Hang zum Absoluten

Die Kathedrale von Notre Dame ist der Mittelpunkt des Landes - von hier wird gemessen wie weit andere Städte und Dörfer von Paris entfernt sind. Der Roman von Victor Hugo und die Verfilmungen machten sie weltweit bekannt. Der Brand hat die Kirche angegriffen, aber nicht zerstört.

Von Kathrin Hondl | 22.12.2019
Zwei Skulpturen auf dem Dach der Pariser Kathedrale Notre-Dame (2017).
Beeindruckende Bösewichte auf dem Dach der Pariser Kathedrale auf einer Aufnahme aus dem Jahr 2017 - vor dem Brand (picture alliance / dpa / Xinhua/ Chen Yichen)
Umgeben von Baukränen und Gerüsten, abgeschirmt durch einen gut drei Meter hohen Metallzaun mit Stacheldraht - Notre Dame de Paris, acht Monate nach dem Brand: Sie steht, nichtsdestotrotz, und wirkt hinter all den Bauzäunen und Warnhinweisen wie eine schwer Kranke auf der Intensivstation.
Die Krankengeschichte wird in einer kleinen Ausstellung auf dem grauen Metallzaun erzählt. Davor drängen sich Besucherinnen und Besucher aus aller Welt.
"Man kann einfach nicht nach Paris kommen, ohne wenigstens vorbeizuschauen", sagt dieser Mann aus Bristol. "Jeder auf der Welt kennt doch Notre Dame. Auch wegen des Kinofilms."
Disneyfilm und Lieblingsmotiv für Paris-Besucher
"Der Glöckner von Notre Dame", die Walt Disney-Produktion von 1996, ist eine von vielen Verfilmungen und wohl die bekannteste Nacherzählung von Victor Hugos großem historischen Roman "Notre-Dame de Paris", der im 19. Jahrhundert eine Welle der Begeisterung auslöste für die frühgotische Kathedrale.
Flammen und Rauch steigen vom Dach der Kathedrale Notre-Dame in Paris auf, aufgenommen am 15. April 2019. 
Wahrzeichen des offenen Christentums Kein Ort symbolisiere die französische Geschichte gleichermaßen wie Notre-Dame, sagte Gila Lustiger im Dlf. Der Cousin ihres Vaters, Jean-Marie Lustiger, war Erzbischof von Paris. Für den getauften Juden habe die Kathedrale immer auch dafür gestanden, Judentum und Christentum vereint zu sehen.
Die beeindruckend geometrische Silhouette mit den beiden Natursteintürmen der Westfassade auf der Seine-Insel mitten in Paris – x-mal wurde sie gemalt: Von Impressionisten wie Auguste Renoir und Camille Pissarro, von Maurice Utrillo und Francis Picabia – Lieblingsmotiv der Paris-Fotografinnen und Fotografen ist sie sowieso. Von Notre Dame gibt es so viele Bilder, dass sie vielen als die Kathedrale schlechthin erscheint. Zu Recht, meint die Mediävistin Claude Gauvard:
"Die Fassade ist sehr ausgeglichen und symmetrisch. Im Mittelalter war sie noch dicht von Häusern umstellt. Aber nun steht sie frei an diesem wunderschönen Ort. Notre Dame symbolisiert Paris. Frankreich. Und vielleicht spüren die Menschen auch: Dieser Bau zieht sie hinauf, zum Absoluten, zum Wesentlichen – und diese Kathedrale berührt das Herz. Sie ist einfach zu verstehen und zu verinnerlichen."
Konkurrenz durch andere Kathedralen
Notre Dame de Paris, das sind 850 Jahre Geschichte, Kunst, Kirche, Politik - der Mittelpunkt des Landes. Denn wie weit französische Dörfer und Städte von Paris entfernt sind, das wird seit jeher von Notre-Dame aus gemessen.
"C’est le nombril de la France."
Der, wie Claude Gauvard sagt, "Nabel Frankreichs" musste die Kathedrale allerdings erst werden.
Als im 12. Jahrhundert der ehrgeizige Bischof Maurice de Sully den Bau der Kathedrale beschloss, war die Konkurrenz enorm.
"Notre Dame hatte es schwer. Die Könige wurden in Reims gekrönt, begraben wurden sie in Saint Denis. Und dann ließ Ludwig IX, der Heilige, auch noch die Sainte-Chapelle erbauen für die bedeutenden Passions-Reliquien, die Dornenkrone Christi. Die Kathedrale musste sich ihren Platz also erst erkämpfen. In Paris und im Königreich."
Und das gelang ihr. Im Mittelalter wurde Notre Dame bald zu einem Ort des prallen Pariser Lebens.
"Stellen Sie sich flanierende Menschenmassen vor. In Notre Dame wurden Handelsverträge geschlossen, es gibt ja keinen besseren Ort als einen heiligen, um etwas zu besiegeln. Die Kathedrale war auch ein Marktplatz für Wachs und Kerzen. Kurzum: Hier blühte das Leben."
Marode Wände und groteske Chimären
Vom Glanz des Mittelalters war nicht mehr viel übrig, als Victor Hugo im 19. Jahrhundert mit seinem Roman die moderne Welt für Notre Dame begeisterte. Die Kathedrale war bereits verwahrlost, der alte Spitzturm zerstört, als die Revolutionäre dort wüteten. Sie plünderten den Kirchenschatz und köpften die Statuen an der Fassade, weil sie die dort dargestellten Könige Judäas für französische Herrscher hielten.
Zur Kaiserkrönung Napoleons 1804 wurde Notre Dame notdürftig aufgehübscht und die maroden Wände mit Stoffen verhängt. Doch erst nach dem Weckruf von Victor Hugos "Glöckner" machte der Architekt Viollet-le-Duc Notre Dame zu jenem Urbild einer Kathedrale, als das sie heute gilt. Mit dem neu errichteten 96 Meter hohen Spitzturm, und den grotesken Chimären-Skulpturen an der Fassade wurde Notre Dame zu einem Gebäude, das, so die Überzeugung von Claude Gauvard, wie kein anderes das mittelalterliche Zeitverständnis symbolisiert.
"Es gibt die Ewigkeit, die überdimensioniert sein muss, und es gibt die unmittelbare Gegenwart. Denn das Leben ist zerbrechlich, man lebt allein den Augenblick. Die Chimären symbolisieren dieses Jetzt. Sie erheitern und ängstigen, es geht um Emotionen, um den Moment. Und der Spitzturm symbolisiert das Absolute. Die Ewigkeit."
Neues Kapitel im steinernen Geschichtsbuch
Dieses Symbol, der Spitzturm, stürzte am 15. April glühend in sich zusammen. Und Frankreichs Präsident Macron versprach die baldige Rückkehr des Absoluten.
"Wir werden Notre Dame wiederaufbauen, weil es das ist, was unsere Geschichte verdient. Weil es unser tiefes Schicksal ist."
Wie auch immer die Kathedrale nach der Restaurierung aussehen wird: Der zerstörerische Brand des Jahres 2019 hat dem steinernen Geschichtsbuch Frankreichs ein neues Kapitel eingeschrieben. Als sie vor ein paar Jahren Notre Dame ihrer 5-jährigen Enkelin zeigte, erzählt Claude Gauvard, habe die etwas Schönes gesagt: "In Notre Dame können die Steine sprechen".