Dienstag, 23. April 2024

Archiv

Novemberpogrome 1938
Der 9. November und ich

Während der Schulzeit sollte unser Autor nicht mitfahren, als seine Klasse das KZ Bergen-Belsen besuchte. Die Lehrerin wollte ihn schützen, denn er ist "Betroffener", ein Nachfahre von Opfern der Shoah. Danach hörte er erst recht zu, wenn in seiner Familie und in der Öffentlichkeit über "damals" gesprochen wurde.

Von Gerald Beyrodt | 08.11.2018
    Passanten vor einer zerstörten Fensterfront eines jüdischen Geschäfts in Berlin nach der Reichspogromnacht 1938.
    Passanten vor einer zerstörten Fensterfront eines jüdischen Geschäfts in Berlin nach der Reichspogromnacht 1938 (picture alliance/KEYSTONE)
    Als ich in die sechste Klasse ging, nahmen wir in der Schule das Thema Holocaust durch. Zu meiner Schulzeit tat man das öfter. Die Klasse fuhr auch ins KZ Bergen-Belsen. Ich sollte nicht mitkommen, fanden die Lehrerinnen. Sie wollten mich vor irgendetwas beschützen. Irgendwie hatten sie die fixe Idee, der KZ-Besuch würde mir Schaden zufügen. Mein Großvater war Insasse in zwei KZ gewesen, in Sachsenhausen und Theresienstadt, ich hatte im Unterricht davon erzählt, somit war ich ein "Betroffener". Die Lehrerinnen sagten, meine Mutter solle eine Entschuldigung schreiben und eine fiebrige Erkältung angeben. Das ließ mich zweifeln. Autoritätspersonen forderten dazu auf, einen Grund anzugeben, der offensichtlich gelogen war. Ich habe Bergen-Belsen bis heute nicht besucht. Aber neulich war Jahrgangstreffen. Eine Mitschülerin erzählte mir, es habe nicht viel zu sehen gegeben. Die Alliierten hätten alles eingeebnet.
    Gesehen habe ich allerdings das KZ Sachsenhausen in Oranienburg bei Berlin. Dorthin brachte die Gestapo um den 9. November 1938 herum meinen Großvater. Meine Mutter musste das miterleben, als sechsjähriges Mädchen.
    "Es war so, dass zwei Männer kamen von der Gestapo, das wusste ich damals nicht, die meinen Vater haben wollten. Da sagte meine Mutter, mein Mann ist nicht zu Hause. Da sagten die, ja, dann warten wir eben, bis er kommt, und machten sich in unserem Wohnzimmer breit. Und ich soll gesagt haben: Mutti, die beiden Männer sehen so finster aus."
    "Und dann hat alles gebrannt"
    Ich habe mir das Haus angesehen, in dem das geschehen ist, in Berlin-Schlachtensee. In der Kindheit meiner Mutter war im Erdgeschoss ein Bäckerladen, heute ist es ein Optiker. Erstaunt hat mich vor allem, wie alltäglich das Haus wirkte, so als Häuser, in denen dergleichen passiert ist, ganz besonders scheußlich aussehen müssten oder wenigstens schwarz-weiß wie in den einschlägigen Dokumentationen. Dieses Haus aber sah sehr heutig aus.
    Auch meine Großtante Ilse hat das Novemberpogrom erlebt. Eigentlich war sie meine Großtante zweiten oder dritten Grades. Als ich in den Neunzigern in Berlin studierte, habe ich sie oft besucht. Dann fing ich an, beim Radio zu arbeiten, und eine meiner ersten Taten war, mit einem tragbaren Aufnahmegerät aufzuzeichnen, was Ilse mit ansah.
    "Man kann es sich nicht vorstellen, wenn man in deiner Generation ist, man kann es sich wirklich nicht vorstellen. Überall waren Schilder dran, 'Kauft nicht bei Juden' und 'Geschlossen' und so weiter, und dann hat alles gebrannt, in der Fasanenstraße hat die Synagoge gebrannt. Und da habe ich mit meiner Mutter davorgestanden und das gesehen. Mir liefen die Tränen runter. Und da hat meine Mutter gesagt: 'Einem Volk, das Gotteshäuser anzündet, dem wird es nie gut gehen.' Das werde ich nie vergessen."
    Ein folgenreicher Entschluss
    Ilses Mutter ist später ermordet worden, wie fast alle Juden in ihrer Umgebung. Ihr selbst brachte die Ehe mit einem Christen einen gewissen Schutz - eine Mischehe, wie man sagte. Der Literatur ist zu entnehmen: Auch die Vernichtung von Jüdinnen und Juden in solchen Ehen war geplant - nur eben später.
    Neulich haben wir das Haus meiner Eltern entrümpelt. Da stieß ich auf die Schatulle mit den Orden meines Großvaters: mit dem Eisernen Kreuz, mehreren anderen Abzeichen aus dem Ersten Weltkrieg und zwei gelben Sternen mit der Aufschrift "Jude". Mein Großvater hieß mit Vornamen Fritz, er trug einen Kaisernamen. Seine Zeit im Konzentrationslager Sachsenhausen war kurz, noch war die Endlösung nicht geplant. Doch meine Großeltern fassten einen folgenreichen Entschluss: Sie schickten ihre beiden Töchter nach England. Jüdische Kinder duften dorthin einreisen, wenn jemand für sie aufkam. Jüdische Erwachsene ließ man hingegen nicht ins Land, das war nicht durchsetzbar. Auf einem Kreuzfahrtschiff erlebte meine Mutter 1939 die Reise nach England.
    "An die Überfahrt erinnere ich mich. Ich war damals sechseinhalb Jahre alt. Es war ein Luxusliner, Manhattan mit Namen, also ein amerikanisches Schiff. Ich war bis ins dritte Deck raufgeklettert und fand das alles furchtbar spannend. Ich fühlte mich ganz wohl dabei."
    Meine Mutter und ihre Schwester kamen ins Seebad Blackpool in Nordengland. Ein Ort von prolligem Charme. Hinterste Provinz, wie mir Engländer immer wieder versichern. Die jüdische Gemeinde am Ort sammelte Geld für die deutschen Kinder, bürgte für sie, betrieb ein Kinderheim. Bis heute ist meine Mutter der Gemeinde dankbar. Ein Komittee aus wohlhabenden Damen und Herren koordinierte die Arbeit.
    "Die Komiteedamen, die uns in Empfang nahmen, die küssten uns schrecklich ab und meine Schwester schrieb nach Hause: 'Glücklicherweise war der Kuss trocken'. Die hatten alle viel Makeup und Puder und Parfum und so weiter, und für uns Kinder war das nicht besonders angenehm, aber man fühlte sich schon herzlich aufgenommen."
    "Wer soll sich denn entschuldigen?"
    Meine Mutter hasste das Kinderheim, besonders die Heimleiterin, die nur dann freundlich war, wenn Kommitteedamen anwesend waren. Ein zweites Zuhause wurde die Schule. Schnell wurde meine Mutter Klassenbeste. Ein schwerer Schlag war für sie, dass sie nicht auf das Gymnasium durfte, die Grammar School. Eine so lange Schulzeit womöglich mit anschließendem Studium wollten die Kommitteemitglieder nicht finanzieren.
    Mit meinen Großeltern schrieb sich meine Mutter zuerst Briefe, dann nur noch Kurzbotschaften, über das Rote Kreuz. Bei Kriegsende waren meine Mutter und ihre Schwester die einzigen im Kinderheim, deren Eltern überlebt hatten.
    "Ich weiß nur, dass die anderen sagten, was habt ihr’s gut, was seid ihr glücklich, ihr beiden. Es war ja nicht so, dass sie irgendwann einen Brief bekommen hätten, eure Eltern sind da und da umgekommen, sondern irgendwann war’s eben klar, dass es so gewesen sein musste."
    Ich habe mich mit meiner Großtante über die Nachkriegszeit unterhalten und wollte wissen, ob sich irgendjemand bei ihr entschuldigt hat. Meine Großtante fand die Frage ziemlich dämlich.
    "Entschuldigen? Wer soll sich denn entschuldigen? Na, das gab's doch nicht."
    Und heute? Heute gehören die Gedenkveranstaltungen zum Ritual. Von nicht-jüdischen Deutschen höre ich häufig, es müsse "Normalität" einkehren. Eine jüdische Mutter erzählte mir neulich folgende Geschichte. Ihre kleine Tochter sage: 'Kuck mal, da ist auch eine Synagoge'. Die Mutter konnte keine Synagoge entdecken. Die Tochter zeigte auf eine Polizeistreife. Sie dachte, wo eine Polizistin oder ein Polizist patrouilliert, dort findet sich auch eine Synagoge.