Mittwoch, 24. April 2024

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Antisemitismus
"Der Begriff taugt nicht"

Wann sollte man von antisemitisch, wann von antijüdisch sprechen? Der Begriff Antisemitismus sei "schwer und schwammig", sagte der Historiker Michael Wolffsohn im DLF. Er plädiert für eindeutige Begriffe: "Wenn du Fritz meinst, dann sollst du Fritz sagen."

Michael Wolffsohn im Gespräch mit Andreas Main | 31.07.2018
    Verfolgung der Juden unter Philippe le Bel (1285-1314) in Frankreich; Gravure tiree de Les societes secretes de Pierre Zaccone, 19eme siècle, Collection privee
    Verfolgung der Juden unter Philippe le Bel (1285-1314) in Frankreich (imago stock&people)
    Andreas Main: Manchmal kommen bei uns Anrufe an, die dann in unserem Hörerservice landen. Da gibt es dann wundervolle Kolleginnen und Kollegen, die das zusammenfassen, was da kritisiert oder gelobt wird. Manchmal ist es auch so, dass wir aus solchen Notizen dann prompt eine Sendung machen. So auch heute. Aus einem dieser Anrufe mal ein Zitat:
    "Angeregt durch die Sendung am 14.05.2018, als sich der Begriffe alttestamentlich und alttestamentarisch und deren Anwendung im allgemeinen Sprachgebrauch gewidmet wurde, plädiere die Anruferin dafür, dies auch einmal für die Begriffe Antisemitismus und Antijudaismus umzusetzen und zu versuchen, dafür eventuell Professor Michael Wolffsohn als Gesprächsgast zu gewinnen, da sie der Meinung sei, dass die Begriffe antisemitisch und Antisemitismus im Grunde genommen immer wieder falsch gebraucht würden." (Notiz des DLF-Hörerservice)
    Main: Zitat Ende. Das machen wir. Michael Wolffsohn und ich - wir sitzen in unserem Berliner Deutschlandfunk-Studio zusammen, und zwar bei einer Aufzeichnung vor der Ausstrahlung der Sendung. Michael Wolffsohn, Historiker, 71 Jahre alt, er hat viele Debatten in Deutschland geprägt. Mal schauen, ob er das leisten kann, was sich die Hörerin wünscht. Willkommen, Michael Wolffsohn.
    Michael Wolffsohn: Vielen Dank, I’ll try my best, auf Hochdeutsch.
    Der Historiker Michael Wolffsohn bei einer Lesung aus seinem Buch "Deutschjüdische Glückskinder" im Jüdischen Museum Berlin
    Der Historiker Michael Wolffsohn bei einer Lesung aus seinem Buch "Deutschjüdische Glückskinder" im Jüdischen Museum Berlin (imago stock&people / Uwe Steinert)
    Main: Er wird sein Bestes geben. Eigentlich haben wir letztlich vier Begriffe, Herr Wolffsohn, um dieses Phänomen zu skizzieren: Antisemitismus, Antijudaismus, Judenfeindlichkeit, Judenhass. Die letzten beiden von mir in jüngster Zeit eher bevorzugt. Welchen bevorzugen Sie?
    Wolffsohn: Das kommt auf den Zusammenhang an. Jeder Begriff ist nur so gut, wie er die jeweilige Problematik oder die Situation beschreibt. Was ist die Funktion eines Begriffes? Er soll Wirklichkeit wiedergeben. Also, wir sollten uns den konkreten Situationen widmen und dann versuchen zu testen, welcher der Begriffe sich hierfür am besten eignet.
    Antisemitismus
    Main: Gehen wir mal auf den Begriff Antisemitismus. Können Sie den in drei bis vier Sätzen definieren?
    Wolffsohn: Das ist deswegen so schwer und schwammig, weil es hier um Semiten geht und wenn also jemand Antisemit ist, dann ist er gegen die Semiten. Und zu den Semiten zählen bekanntlich nicht nur die Juden. Das heißt, wenn jemand Antisemit ist - und damit ist meistens gemeint, gegen die Juden gerichtet - dann ist er auch automatisch gegen Araber.
    Ich will Ihnen dazu eine wahre, schöne - genauer gesagt unschöne Geschichte erzählen. Bekanntlich waren die Nationalsozialisten wild antijüdisch oder es hieß dann eben antisemitisch. Seit 1936, vor allem 1939 folgende, bemühte sich das Dritte Reich, um Großbritannien im Nahen Osten zu schwächen, um die Sympathie und Kooperation mit den Arabern. Der damalige saudische König schickte zu Alfred Rosenberg, einer der schlimmsten Ideologen des Nationalsozialismus, einen Gesandten, der dann Rosenberg fragte: "Aber ihr seid doch als Nationalsozialisten Antisemiten und wollt mit uns zusammenarbeiten. Wie kommt das eine mit dem anderen zusammen?" Antwort Rosenberg: "Ja, unser Antisemitismus richtet sich gegen die Juden und natürlich nicht gegen die Araber."
    Das Zitat, wenige Tage später von Adolf Hitler über die Araber war, ich zitiere, um nicht missverstanden zu werden: Araber seien 'lackierte Halbaffen, die die Peitsche spüren wollen'. Also, Sie merken den ganzen Zynismus. Also letztlich waren dann die Nationalsozialisten natürlich auch gegen Araber und Muslime, auf der anderen Seite haben sie dann, je negativer der Zweite Weltkrieg sich für die Wehrmacht entwickelte, alles getan, um beispielsweise im Kaukasus und auf dem Balkan Muslime für die Wehrmacht als Kämpfer zu gewinnen. Wie passt das zum Antisemitismus? Gar nicht. Also, Sie merken, der Begriff taugt hier nicht.
    Antijudaismus
    Main: Also, wenn der Begriff Antisemitismus oftmals nicht passt, ist dann das Reden von Antijudaismus die Alternative?
    Wolffsohn: Ja, natürlich, wenn du Fritz meinst, dann sollst du Fritz sagen. Das Gleiche gilt für alles, was mit Juden zusammenhängt. Aber nicht zuletzt aufgrund der deutschen Geschichte - aber die deutsche Geschichte ist Teil der europäischen Geschichte: Die Juden wurden als Juden verfolgt und wer Jude heute sagt, ist befangen. Es gibt ja die verschwurbelten Bezeichnungen für "mosaischen Glaubens", um das Wort Jude zu vermeiden - oder "israelitisch". Die jüdischen Gemeinden in Bayern nennen sich "israelitische Kultusgemeinde". Das ist doch alles völlig verschwurbelt.
    Es handelt sich um Juden, und der Name Jude ist auch nachvollziehbar. Er ist sozusagen die Ableitung aus Judäa, Judäa ist wiederum abgeleitet von Juda, dem einen Sohn von Jakob. Juda kennen wir auch im Christlichen als Judas. Und da sind wir wiederum hier in der Doppelbödigkeit dieses Begriffes, der dazu geführt hat, dass also auch Juden - vor allem im späten 19. Jahrhundert bis Mitte des 20. Jahrhunderts - das Word Jude gar nicht so gerne gehört haben, weil damit die Assoziation an Judas kommt. Judas, der also den Herrn verraten hat. Also mit anderen Worten, Sie merken die Befangenheiten bezüglich der Begrifflichkeit.
    Nur wenn Sie die Wirklichkeit nicht durch den richtigen Begriff wiedergeben, dann kriegen Sie auch die Wirklichkeit nicht in den Griff. Das ist so, wie wenn ein Arzt eine Diagnose zu fällen hat, die ihm nicht gefällt und dann sagt er zum Patienten, der ein Krebsgeschwür hat, eigentlich hast du nur Halsschmerzen.
    "Antisemitismus light"
    Main: Es geht ja in der Sache eigentlich um Menschen und wir machen jetzt hier so eine Begriffsanalyse. Dennoch bleiben wir mal dabei. Sie haben jetzt sozusagen die Lanze für den Begriff Antijudaismus gebrochen. Wenn Sie nachschlagen in einem einschlägigen Internetlexikon, dann finden Sie da als Definition, das sei überwiegend benutzt, um zu beschreiben die Ablehnung des Judentums aus religiösen Motiven. Also der Begriff Antijudaismus ist auch schwammig und wirkt oft auch ein bisschen wie "Antisemitismus light" oder eine Diätform davon.
    Wolffsohn: Nein, das sehe ich ganz anders.
    Main: Das sehen Sie nicht so?
    Wolffsohn: Ich bin als Historiker an den Tatsachen orientiert. Also der Antijudaismus ist ungefähr 3.000 Jahre alt. Das ist auch keine christliche Erfindung, sondern stammt aus Ägypten - also aus dem antiken Ägypten. Das wiederum muss man sehen als eine Reaktion auf die Echnaton-Revolution, also den Beginn des monotheistischen Glaubens im Vorderen Orient. Der Echnaton - bekanntlich der Ehemann von Nofretete, zu besichtigen in Berlin, wunderbare Skulptur. Und man ist sich weitgehend in der Forschung einig, dass das frühe Judentum undenkbar wäre, undenkbar ist ohne die echnatonischen Einflüsse. Das ist ein Einflussgebiet.
    Das andere Einflussgebiet ist das Mesopotamien, die andere Hochkultur der Frühgeschichte der Menschheit. Die finden Sie im Alten Testament in der Abrahamsgeschichte. Sozusagen als Teil der Reaktion auf die Revolution von Echnaton in Ägypten richtet sich der Hass der Reaktion gegen diejenigen, die den Echnaton-Glauben fortgesetzt haben.
    Und dieser Echnaton-Glaube findet sich - nicht eins zu eins, aber doch im Kern - im frühen Judentum und damit die Ablehnung des Judentums und das hat sich dann verselbstständigt. Heute weiß kaum jemand - es sei denn, man liest das vorzügliche Buch von Peter Schäfer - aber wenn man über dieses Thema spricht, dann sollte man wirklich die Ursprünge des Antisemitismus, Antijudaismus kennen.*
    Antijudaistisch oder antijüdisch?
    Main: Der Begriff "antijudaistisch" hat dann ja auch noch so einen leicht akademischen Hauch und ist vielleicht auch nicht für jeden so nachvollziehbar. Man könnte ja ganz einfach auch in Ihrem Sinne, um sozusagen das Problem wirklich bei den Hörnern zu fassen, von antijüdisch sprechen.
    Wolffsohn: Ja, natürlich, und damit kommen wir nun auf die christliche Variante, denn eine der christlichen Legenden ist das Stichwort der Gottesmörder - der Juden als Gottesmörder. Und derjenige, der Jesus verrät, ist nun Judas, und Judas und Jude hat ja nun auch etwas miteinander zu tun. Also, das passt ganz wunderbar.
    Dann haben Sie natürlich die antijüdische Polemik, vor allem im Johannes-Evangelium, also dem jüngsten Evangelium. Und warum ist da der Antijudaismus stärker? Weil wir hier in der Frühphase der Institutionalisierung des Frühchristentums uns befinden und in dieser Konkurrenzsituation ist die Abgrenzung vom Judentum natürlich auch schärfer. Darauf reagiert seinerseits das Judentum und dann sind wir in der Geschichte der christlich-jüdischen Problematik.
    Also noch einmal: Wir müssen hier tatsächlich das Wort "Jude" benutzen, um die gesamte theologisch-historische Rivalität und Problematik zu erkennen. Und wenn wir von Semitismus sprechen, bringen wir hier ein rassistisches Element rein - oder ein rassisches genauer gesagt - das am Anfang überhaupt keine Rolle gespielt hat. Sondern es war ein theologischer und damit auch politischer Kampf zwischen verschiedenen Gruppierungen.
    Überhaupt: Begriffsspielerei ist zwar interessant, aber man muss immer ausgehen von der Wirklichkeit und fragen: Was ist da los? Und dann versuche ich für diese Wirklichkeit einen Begriff zu finden. Und wenn wir feststellen, dass Semiten sowohl Araber als auch Juden sein können, dann kann eben Antisemitismus nicht nur auf Juden bezogen sein. Also lassen wir diese akademische Glasperlenspielerei. Die interessiert den einen oder anderen von uns, aber das Hochpolitische wird durch diese begriffliche Verschwurbelung eigentlich nicht erkennbar.
    Judenhass
    Main: Gehen wir ins Hochpolitische. Sie hören den Deutschlandfunk, der Historiker Michael Wolffsohn im Gespräch bei "Tag für Tag – Aus Religion und Gesellschaft". Herr Wolffsohn, mit Blick auf die Realität, die Sie einfordern: Es gibt heute noch oder wieder Judenhass. Wo sehen Sie heute die größten Gefahren im Moment?
    Wolffsohn: Die größte Gefahr ist ganz eindeutig aus der muslimischen Diaspora. Das zu sagen heißt nicht, dass die muslimische Diaspora in ihrer Gesamtheit militant antijüdisch wäre. Aber auch hier muss man die Geschichte des Islam sehen. Auch in seinen Heiligen Schriften gibt es ganz eindeutige antijüdische - nicht antisemitische, sondern antijüdische Elemente, die nichts mit dem Nahostkonflikt zu tun haben an sich, aber das kommt dann später dazu.
    Durch die demografische, also bevölkerungspolitische Verflechtung von Europa und dem Nahen Osten sind die Probleme des Nahen Ostens auch unsere Probleme. Und das bedeutet - das können wir an den terroristischen Anschlägen, also an der antijüdischen Gewalt, nachvollziehen, empirisch auch benennen: Die größte physische Gefahr für Juden hier und jetzt besteht aus der militanten Minderheit – Ausrufezeichen! - Minderheit, der muslimischen Minderheit.
    Main: Dann war der September 2015 doch ein dunkler Monat, obwohl Sie mehrfach die Entscheidung der Bundeskanzlerin, die Grenzen zu öffnen, befürwortet haben?
    Wolffsohn: Ja, die Wirklichkeit ist immer vielschichtig. Und diesbezüglich gilt: Der humanitäre Imperativ ist - ich variiere Artikel 1 Grundgesetz "Die Würde des Menschen ist unantastbar" – "Der humanitäre Imperativ ist unantastbar." Punkt. Gleichzeitig aber war klar, dass man Teile einer hochradikalisierten Menschengruppe - radikalisiert gegen Juden, nicht nur in Israel, sondern Juden ganz allgemein - in das eigene Haus hineingelassen hat.
    Auch da hätte man den humanitären Imperativ ungebrochen gelten lassen müssen, aber – und hier kommen die Vollzugsdefizite – mit der Naivität und der Schlampigkeit, mit der in Deutschland und Westeuropa Fragen der inneren und äußeren Sicherheit behandelt werden, war das ein Fehler.
    "Jüdischer Antichristianismus"?
    Main: Wir müssen an dieser Stelle vielleicht auch darüber sprechen, dass es auch auf jüdischer Seite nicht nur Menschen gibt, die euphorisch sind, was das Christentum betrifft. Gehört es nicht dann auch letzten Endes dazu, neben christlichen, muslimischen oder wie auch immer gearteten Antijudaismus, auch über so etwas – mit Verlaub – wie jüdischen Antichristianismus zu sprechen?
    Wolffsohn: Aber natürlich, das ist Teil der theologischen und historischen Wirklichkeit. Das Christentum entwickelt sich aus dem Judentum. Das frühe Christentum war sich auch noch nicht klar: Spalten wir uns ab? Nachdem es zu dieser Abspaltung gekommen war, hatten sich auch die politischen Machtverhältnisse völlig klar zugunsten der Christenheit entwickelt. Stichwort: Das Christentum wurde Staatsreligion in Rom und damit waren die Machtverhältnisse geklärt.
    Das wiederum bedeutete, dass das Judentum seine nachvollziehbare Polemik gegen die Abspalter - und das waren die Christen - vorsichtig argumentieren musste und auch vorsichtig argumentiert hat. Das kann man etwa sehr schön belegen an dem Babylonischen Talmud auf der einen Seite und dem Jerusalemer Talmud auf der anderen Seite.
    Der Jerusalemer Talmud ist niedergeschrieben worden im Herrschaftsbereich von Ostrom, Byzanz, sodass also die antichristliche Polemik immer sehr geschickt formuliert, sonst florettartig und noch vorsichtiger, viel vorsichtiger war als in den vergleichbaren Passagen des Babylonischen Talmuds, der eben im außerchristlichen Bereich niedergeschrieben worden ist, nämlich im Perserreich, wo man sozusagen dem Christentum gegenüber offen-kritischer oder auch teilweise feindlicher sein konnte. Die Machtverhältnisse waren völlig klar.
    "Der Dissens ist konstruiert"
    Main: Heißt das nicht in der Konsequenz, dass es Differenzen zwischen Christen und Juden immer im hohen Maße gegeben hat, geben wird, die auch nicht zu überwinden sind und waren. Sollten wir es nicht einfach versuchen, mit diesem Dissens, mit diesem nicht überwindbaren Konflikt zu leben? Da muss man sich ja nicht den Kopf einschlagen.
    Wolffsohn: Das sowieso nicht, wenn die Würde des Menschen, sprich das Leben des Menschen, unantastbar ist. Aber Sie beschreiben nur den ersten Schritt, nämlich den Dissens. Ich gehe weiter und sage: Der Dissens ist im Grunde genommen konstruiert. Aus verschiedenen Gründen, machtpolitisch, theologisch, haarspalterisch oder wie auch immer Sie wollen.
    Ich nenne dafür ein Beispiel: Die Heilige Dreieinigkeit, die ja immer wieder sozusagen als Kernpunkt des Trennenden zwischen Christentum und Judentum gebracht wird. Gottvater ist völlig unstrittig zwischen Christentum und Judentum. Gottes Sohn Jesus: Auch in der jüdischen Vorstellung haben Sie etwa im Gebet "Awinu Malkenu": unser Vater, unser König. Jeder Mensch ist Gottes Kind, also ist jeder Mann ein Gottessohn und jede Frau eine Gottestochter.
    Und der Heilige Geist, "Ruach HaKodesh" oder "Ruach Elohim" im Hebräischen: Das finden Sie bereits in Genesis, im zweiten Satz: "Ruach Elohim merahepet al peney hamayim" – "der Geist Gottes schwebt über dem Meer". Oder Sie finden in Psalmen und anderen Teilen des Alten Testaments - der Hebräischen Bibel ganz wortwörtlich "Ruach HaKodesh", der "Heilige Geist".
    So - und was ist denn eigentlich die Religion des Christentums und des Judentums? Es ist der Weg des Menschen zu Gott, an den man ja glaubt. Also, meine These ist viel steiler: Nicht nur, dass man selbstverständlich den unterschiedlichen Ansatz, das unterschiedliche Verständnis von Judentum und Christentum - bleiben wir nur bei denen - auf dem Weg zu Gott akzeptiert, sondern dass letztlich die Substanz von Christentum und Judentum - ich sage es einmal überspitzt, aber ich halte daran fest - identisch ist.
    "Ziel von Judentum und Christentum ist der Weg zu Gott"
    Main: Ihnen ist aber schon klar, dass sowohl der orthodoxe Rabbiner als auch ein orthodoxer Dogmatiker - wenn man so sagen darf - auf kirchlicher Seite Sie des Relativismus bezichtigt?
    Wolffsohn: Und dann sage ich: Ihr habt eine Ideologie. Für Euch ist das unumstößlich, weil Ihr institutionelle Interessen vertretet, an die ihr wahrscheinlich auch glaubt. Aber meine Aufgabe als Wissenschaftler ist die Analyse. Und die Analyse besagt ganz eindeutig: Das Ziel sowohl von Judentum als auch Christentum - wir reden wohlgemerkt nicht vom Islam, das kann man aber auch hier erweitern - ist der Weg des Menschen zu Gott.
    So, wenn das Ziel identisch ist, kann man doch auch über unterschiedliche Wege reden und völlig als Selbstverständlichkeit akzeptieren. Ich kann als Jude auch in die Kirche gehen und zu Gott beten, ohne dass ich dann die spezifisch christlich-jesuanischen Elemente berücksichtige. Was ist das Problem darin?
    Main: Wie viel Prozent von jüdischen Menschen können Ihrer Position folgen an dem Punkt?
    Wolffsohn: Das weiß ich nicht und das ist auch gar nicht entscheidend, sondern - und das macht doch das Abenteuer des Denkens aus: Wir müssen das Abenteuer des Denkens wagen - ohne zu fragen: Ist die Mehrheit mit mir oder gegen mich? Es gilt in diesem Falle die Frage: Ist die Analyse richtig oder falsch?
    Main: Der Münchener Historiker Michael Wolffsohn. Ich bedanke mich ganz herzlich für die Zeit, die Sie sich genommen haben. Danke, Michael Wolffsohn.
    Wolffsohn: Ich danke Ihnen.
    * Michael Wolffsohn meint dieses Buch: Peter Schäfer: Judenhaß und Judenfurcht - Die Entstehung des Antisemitismus in der Antike, Verlag der Weltreligionen im Insel Verlag, Berlin 2010
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.