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Novum im Streit rund ums Wahlrecht

Listenstimmen, Direktsitze, Überhangmandate, Ausnahmeregelungen für die Fünf-Prozent-Hürde: Das Wahlrecht ist kompliziert und steht zur Diskussion, denn das Bundesverfassungsgericht hat bis zum 30. Juni eine Reform angemahnt. Volker Beck, parlamentarischer Geschäftsführer Bündnis 90/Die Grünen, kritisiert den Ansatz der Regierung - und droht mit einem neuen Gang nach Karlsruhe.

Volker Beck im Gespräch mit Friedbert Meurer | 19.04.2011
    Friedbert Meurer: Am Telefon begrüße ich Volker Beck. Er ist der parlamentarische Geschäftsführer der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen. Guten Morgen, Herr Beck.

    Volker Beck: Guten Morgen!

    Meurer: Seit etwa zwei Jahren ähnelt die Suche nach einer Reform des Wahlrechts dem Mikadospiel, wenig bewegt sich. Wird das überhaupt noch etwas?

    Beck: Na ja, also auf jeden Fall, wenn die Koalition bei ihrem Vorschlag bleibt, kommt es erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland zum Streit zwischen Koalition und Opposition über das Wahlrecht und es gibt keine gemeinsame Entscheidung. Und zweitens ist nicht klar, ob überhaupt mit dem Vorschlag der Koalition der Effekt des negativen Stimmgewichts beseitigt wird. Deshalb kann es gut sein, dass wir uns in Karlsruhe wiedersehen.

    Meurer: Verstehen Sie das mit dem negativen Stimmengewicht?

    Beck: Es ist schwierig zu erklären und ich glaube, die Sendezeit reicht nicht aus, um es den Wählern wirklich verständlich zu machen.

    Meurer: Das befürchte ich auch.

    Beck: Das Entscheidende ist: Es kann beim negativen Stimmengewicht dazu kommen, dass, obwohl man eine Partei mit der Zweitstimme wählt, eine andere Partei davon profitieren würde und die Partei, die man eigentlich begünstigen will, dadurch, dass man sie wählt, einen Sitz verliert. Das ist absurd, das hat das Bundesverfassungsgericht gerügt, das muss korrigiert werden.
    Der zweite Punkt aber, der auch korrigiert werden müsste, ist, dass die Wählerinnen und Wähler ein Lager, die Seite A/B, im Bundestag wählen, mit Mehrheit, aber die Seite C/D am Ende die Mehrheit der Sitze hat. Das ist dann zu befürchten, wenn ...

    Meurer: Wer ist C und D?

    Beck: Also, man könnte sich vorstellen, die Union und die FDP haben durch das Stimmensplitting relativ viele Überhangmandate auf der Seite der Union und im Lager von Rot-Grün gibt es vielleicht nicht so viele Stimmen. Das Splitting könnte aktuell bei der Wahl auch sein, weil wir in vielen Wahlkreisen durchaus nicht entschieden haben, wer tatsächlich auf Platz eins liegen könnte. Dann könnte es zu 30 bis 60 Überhangmandaten kommen. Und die könnten am Ende die Wahl entscheiden, dass nämlich zwar es ein knappes Ergebnis gibt, wo die eine Seite vorne liegt, aber durch die Überhangmandate die andere Seite dann die Mehrheit der Sitze hat.

    Meurer: Ist das so sicher, dass die Überhangmandate alle an die CDU gehen? Es gibt ja auch Berechnungen, dass, wenn SPD und Grüne sich einigen in den Wahlkreisen, dass dann eine Menge Überhangmandate an die SPD gehen.

    Beck: Oder an die Grünen. Auch das könnte am Ende des Tages sein. Aber das Entscheidende ist ja nicht, wer davon profitiert, sondern dass wir ein Wahlrecht haben, das tatsächlich den Wählerwillen auch im Parlament abbildet. Und dass, wenn die Mehrheit der Bevölkerung eine bestimmte Kombination oder eine bestimmte Seite wählt, darf nicht die andere Seite am Ende die Mehrheit im Parlament haben, weil dann kommt es nicht mehr darauf an, was die Leute wollen, sondern auf komplizierte Effekte innerhalb des Wahlsystems. Deshalb haben wir einen Vorschlag gemacht, der auf Überhangmandate ganz verzichtet. Den haben wir schon in der letzten Wahlperiode übrigens gemacht. Damals hat man gesagt, es sei nicht genügend Zeit für die Verabschiedung des Gesetzes. Jetzt haben wir gerade noch zwei Monate im Parlament, der Gesetzentwurf der Koalition liegt nicht vor. Und wir riskieren am Ende wegen dieser knappen Beratungszeit, ein Gesetz zu machen, das in Karlsruhe nicht standhält.

    Meurer: Bei Ihrem Vorschlag, Herr Beck, Entschuldigung, da heißt es ja, dass im Zweifelsfall Politiker, die ein Direktmandat erobert haben, nicht in den Bundestag ziehen, weil sie sozusagen unter den Tisch fallen. Haben Sie das damals vorgeschlagen, weil Sie sich nicht vorstellen konnten, selbst Direktmandate zu gewinnen?

    Beck: Also, wir machen Wahlrechte immer so, dass der Wählerwille das entscheidende Augenmerk kriegt. Und der Wählerwille soll sich bei der Wahl durchsetzen. Das entspricht dem Demokratieprinzip. Alles andere, was davon abweicht oder dieses sogar konterkariert, ist demokratiefeindlich.
    Es gibt übrigens auch die Möglichkeit – das ist eher der Vorschlag der SPD, dem wir zur Not auch nähertreten könnten -, die Überhangmandate durch Ausgleichsmandate auszugleichen, mit dem Ergebnis allerdings, dass der Bundestag dann eben durch Überhangmandate und Ausgleichsmandate aufgebläht wird. Und der Vorschlag hat den Charme, dass diese zusätzlichen Kosten und Sitze nicht entstehen müssten.

    Meurer: Das könnten dann fast 100 zusätzliche Sitze werden, wenn ich es richtig rechne, wenn Sie davon ausgehen, 30 bis 60 Überhangmandate?

    Beck: Das wäre der Preis dafür, dass man auf den Effekt verzichtet, dass Überhangmandate zum Teil dazu führen, dass Direktwahlkreise keinen Abgeordneten über das Direktwahlergebnis haben. Das ist übrigens ein Effekt, den das bayerische Verfassungsgericht ausdrücklich als wahlrechtlich zulässig erachtet hat.

    Meurer: Die Union und FDP haben ja vor Kurzem einen Vorschlag doch gemacht, zumindest angedeutet, nämlich sie sagen, es wird nicht mehr zwischen den Bundesländern verrechnet. Jedes Bundesland wählt sozusagen alleine seinen Teil bei der Bundestagswahl. Lehnen Sie das rundweg ab?

    Beck: Das lehne ich deshalb ab, weil es eben die Überhangmandatsproblematik nicht beseitigt. Und deshalb führt dieser Vorschlag nur weiter, wenn man es mit dem Effekt der Ausgleichsmandate verbinden würde. Dann könnten wir damit leben, obwohl es eigentlich auch nicht sehr charmant ist, wenn man die Aussage stehen lässt, dass der Bundestag nicht mehr vom deutschen Volk, sondern von den 16 Völkern der deutschen Länder gewählt wird. Das ist eigentlich nicht der Sinn in unserer Verfassung, aber ...

    Meurer: Wir sind ein föderaler Staat!

    Beck: Ja, wir sind ein föderaler Staat. Trotzdem wählt das Volk den Deutschen Bundestag und wir haben eben den negativen Effekt - den haben wir bei diesen Wahlen wahrscheinlich nicht zu befürchten, aber vielleicht die FDP oder Die Linke -, dass Reststimmen, die nicht einen vollen Sitz ergeben, dazu führen, dass dieses Land dann keinen Abgeordneten einer kleineren Partei hat. Und das ist ein Nachteil für die Repräsentanz. In der Vergangenheit mit der Verrechnung beim alten Wahlrecht, das wir hatten, gab es die Möglichkeit, dass eine Partei durch Reststimmen aus einem anderen Bundesland dann trotzdem auch aus den kleineren und bevölkerungsärmeren Bundesländern dann trotzdem einen Repräsentanten bekommen kann.

    Meurer: Was machen Sie, wenn Schwarz-Gelb mit der eigenen Mehrheit seinen Vorschlag durchsetzt?

    Beck: Wenn Schwarz-Gelb einen Vorschlag durchsetzt, der die Problematik der Überhangmandate nicht beseitigt und der, wie übrigens Wahlrecht.de behauptet, auch das negative Stimmgewicht nicht beseitigt, dann sehen wir uns in Karlsruhe wieder. Dann werden wir prüfen, ob wir Organklage oder Normenkontrollklage vor dem Bundesverfassungsgericht erheben. Und dann könnte es sein, dass wir schon Ende dieses Jahres ein neues Verfassungsgerichtsurteil haben, das dem Bundesgesetzgeber aufgibt, seine Hausaufgaben doch noch mal zu machen.

    Meurer: Volker Beck, der parlamentarische Geschäftsführer von Bündnis 90/Die Grünen im Bundestag, bei uns heute Morgen im Deutschlandfunk. Herr Beck, schönen Dank und auf Wiederhören!

    Beck: Bitte schön! Auf Wiederhören!