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NS-Dokumentationszentrum in München
Nerdinger: München stellt sich seiner Geschichte

Dass das NS-Dokumentationszentrum erst nach 25 Jahren Engagement eröffnet werden kann, habe vor allem an zu wenig Resonanz auf politischer Ebene gelegen, sagte der Gründungsdirektor des Zentrums, Winfried Nerdinger, im DLF. Es soll gesellschaftliche Zusammenhänge zeigen, unter denen der Nationalsozialismus in München entstand.

Winfried Nerdinger im Gespräch mit Christiane Kaess | 30.04.2015
    Der Gründungsdirektor des NS-Dokumentationszentrums in München, Winfried Nerdinger.
    Der Gründungsdirektor des NS-Dokumentationszentrums in München, Winfried Nerdinger. (Imago / H. R. Schulz)
    Die Aufarbeitung der Geschichte habe überall in Deutschland lange gedauert, so Nerdinger. - in München besonders. "Ich erkläre das damit, dass München mehr als jede andere Stadt mit dem Nationalsozialismus verknüpft und verstrickt war. Hier ist ja alles entstanden." Hitler und die Partei seien mit der Unterstützung weiter Teile der Bürgerschaft groß geworden. "Da ist die Aufarbeitung dann besonders schwer." Die heutige Eröffnung des NS-Dokumentationszentrums sei ein Zeichen dafür, dass sich die Stadt München ihrer Geschichte stelle.
    Der Bau sei ein Zeichen der Moderne. Die asymmetrischen Formen stünden im Gegensatz zu den Bauten der NS-Zeit in der Maxvorstadt und am Königsplatz und auch sollen dort bewusst stören.
    Gesellschaftliche Zusammenhänge erklären
    Im Gegensatz zu den Gedenkstätten Weiße Rose und Dachau werden im NS-Dokumentationszentrum nicht die Opfer geehrt. Dort gehe es um die Täter, und die Frage, wieso der Nationalsozialismus in München groß werden konnte: "Welche gesellschaftlichen Konditionen haben dazu geführt?"
    Dass es ein Vierteljahrhundert gedauert habe, bis das Dokumentationszentrum eröffnet werden konnte, habe an zu wenig Resonanz auf der Entscheidungsebene gelegen. Vom bürgerlichen Engagement sei Nerdinger, dessen Vater im Widerstand war, immer unterstützt worden.

    Das Interview in voller Länge:
    Christiane Kaess: Winfried Nerdinger ist Architekturhistoriker und er ist der Gründungsdirektor des NS-Dokumentationszentrums in München. Guten Morgen, Herr Nerdinger!
    Winfried Nerdinger: Guten Morgen, Frau Kaess!
    Kaess: Schauen wir erst mal auf die Architektur von außen. Ein weißer Kubus aus Beton mit schwarzen Fensterscheiben, das passt gar nicht zur Architektur des Königsplatzes mit den klassizistischen Bauten. Aber das war offenbar Absicht?
    Nerdinger: Ja, das sollte genauso sein. Der Bau soll sich absetzen, er sollte ein Zeichen der Moderne sein, deswegen ein anderes Material - die Bauten der Umgebung sind ja alle aus Naturstein - und auch ganz bewusst asymmetrisch gestaltet gegenüber dieser Symmetrie der NS-Bauten. Er soll durchaus auch stören.
    Kaess: War es Ihnen wichtig, auch architektonisch ein Zeichen zu setzen, weil ja auch die Nazis die Architektur für ihre Zwecke benutzt oder vielleicht muss man auch sagen: missbraucht haben?
    Nerdinger: Ja. Das ist ein Gegenzeichen, das hier architektonisch mitten in diesem sonst so harmonischen Ensemble der Marxvorstadt errichtet wird. Und es ist ein Zeichen dafür, dass sich die Stadt München nun endlich ihrer Geschichte stellt.
    Kaess: Es gab ja viele Widerstände gegen das Zentrum. War ein Vorwurf auch, dass es eben die Architektur des Königsplatzes kaputt machen könnte?
    Nerdinger: Es gab Widerstand auch aus bestimmten Bürgerkreisen oder man hatte sich - kann man allgemein sagen - daran gewöhnt, dass an dieser Stelle eben nur noch Gras wuchs. Und da störte dann ein doch kräftiger Neubau. Aber das soll er ja gerade.
    "München war mehr als jede andere Stadt mit dem Nationalsozialismus verknüpft"
    Kaess: Wir kennen ja aus anderen Städten, zum Beispiel aus Berlin die Topografie des Terrors, wir kennen aus Nürnberg das entsprechende Doku-Zentrum. Warum hat es denn in München so lange gedauert, bis man sich der Vergangenheit gestellt hat?
    Nerdinger: Nun ja, auch diese sogenannten Dokumentationszentren sind erst in den 80er-Jahren und zum Teil noch stärker entstanden. Also, es hat überall in Deutschland lange gedauert, in München besonders lange. Ich erkläre das damit, dass München mehr als jede andere Stadt mit dem Nationalsozialismus verknüpft und verstrickt war, hier ist ja alles entstanden. Und Hitler und die Partei sind mit Unterstützung weiter Teile der Völkerschaft großgeworden. Da ist die Aufarbeitung natürlich dann besonders schwer.
    Kaess: Sie haben selbst einmal in einem Aufsatz im Jahr 1991 München als Hauptstadt der Verdrängung bezeichnet. Ab wann hat sich denn in Ihrer Wahrnehmung was daran verändert?
    Nerdinger: Ja, in den 90er-Jahren gab es eine ganze oder bildeten sich eine ganze Reihe von Bürgerinitiativen. Ich würde sagen, es war dann so die dritte Nachkriegsgeneration, die zunehmend darauf drängte, dass die Geschichte der Stadt aufgearbeitet wird. Die Bürger haben sich dann auch zusammengeschlossen zu einem Initiativkreis für ein NS-Dokumentationszentrum. Und dann endlich, im Jahr 2001, wurde ein Grundsatzbeschluss im Stadtrat gefasst, ein solches Zentrum zu errichten. Und der Freistaat Bayern folgte dann ein Jahr später.
    Kaess: Die Kritiker sagen ja, das mit der Verdrängung, das stimmt überhaupt nicht. Es gibt die KZ-Gedenkstätte Dachau oder es gibt Stellen der Erinnerung auch an die Geschwister Scholl und die Weiße Rose in München. Warum hat Ihnen das nicht gereicht?
    Nerdinger: Das sind zwei unterschiedliche Dinge. Das eine ist das Gedenken an die Opfer, natürlich, dafür gibt es Dachau, dafür gibt es auch Orte, an denen die Widerstandskämpfer geehrt werden. Hier geht es um die Auseinandersetzung mit den Tätern. Warum ist das alles hier entstanden, wer steht dahinter, welche gesellschaftlichen Konditionen haben dazu geführt, dass Menschen zu solchen Verbrechern wurden? Und das wollen wir hier aufklären, das ist etwas ganz anders als gedenken.
    "Unser Leitthema ist: Das geht uns heute noch etwas an"
    Kaess: Und Sie haben es gerade schon angedeutet, die SS, die SA, die Hitlerjugend, alle diese Nazi-Organisationen sind in München entstanden. Wie wird das im Dokumentationszentrum widergespiegelt?
    Nerdinger: Wir dokumentieren, wir präsentieren ganz rational die Fakten und Dokumente, was ist wo entstanden, zeigen die Zusammenhänge, die gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen und Bedingungen und erläutern dann, wie es dazu kommen konnte. Eine zentrale Frage ist beispielsweise eben, welche Rolle spielte München?
    Kaess: Und es ist, wenn ich das richtig verstanden habe, ein Rundgang von oben nach unten. Soll das sinnbildlich stehen für den Niedergang durch das Nazi-Regime?
    Nerdinger: Nein, eigentlich nicht. Das ist etwas, was man ja in vielen Museen findet, dass man oben anfängt und dann langsam nach unten geht, damit man nicht am Schluss wieder durch die ganze Ausstellung zurückgehen muss. In unserem Fall ist es auch besonders sinnvoll, man beginnt im vierten Obergeschoss, da wird man zuerst mit dem Ersten Weltkrieg konfrontiert, und geht dann langsam herunter und ist am Schluss in der Gegenwart angelangt. Denn wir hören ja nicht 1945 auf, unser Leitthema ist: Das geht uns heute noch etwas an. Und wird dann damit, mit diesem Wissen und diesen Dokumenten praktisch in seine eigene Gegenwart wieder entlassen.
    Kaess: Gibt es eine Zielgruppe, die Sie besonders ansprechen möchten?
    Nerdinger: Wir wenden uns an alle interessierten Bürger. Aber wir haben spezielle Medien-Guides entwickelt für Jugendliche, die auch von Jugendlichen entwickelt worden sind, wir haben einen eigenen Medien-Guide für Kinder, dort wird das Schicksal eines jüdischen Holocaust-Opfers in München erläutert. Wir differenzieren da noch mal auf dieser Ebene.
    "Ein Zeichen in dieser Stadt, dass man sich zu dieser Geschichte bekennt"
    Kaess: Herr Nerdinger, Sie setzen sich seit 1988 für dieses Dokumentationszentrum ein, ein sehr langer Weg also. Wo lagen für Sie im Rückblick die größten Hindernisse?
    Nerdinger: Ja, ich habe mich in den 90er-Jahren schon auch an den damaligen Oberbürgermeister gewandt, an den damaligen Ministerpräsidenten, habe das vorgeschlagen, habe auch immer wieder Vorträge dazu gehalten und Veröffentlichungen gemacht. Es gab einfach noch zu wenig Resonanz auf der, sagen wir mal, Entscheidungsebene. Vom bürgerschaftlichen Engagement her wurde ich immer ganz stark unterstützt.
    Kaess: Also, Sie sehen die Hindernisse eher auf politischer Ebene?
    Nerdinger: Ja, muss man so wohl sagen.
    Kaess: Vor dem Hintergrund von diesem langen Weg und auch vor dem Hintergrund Ihrer persönlichen Familiengeschichte - Ihr Vater war ja im Widerstand gegen die Nazis -, was bedeutet dieser Tag jetzt heute für Sie?
    Nerdinger: Nun, ich freue mich natürlich, dass nach fast einem Vierteljahrhundert Engagement dieses Haus eröffnet werden kann. Es ist wirklich ein Zeichen nun hier in dieser Stadt, dass man sich zu dieser Geschichte bekennt, es ist ein zentraler Ort, in dem die Bürger, die Gäste, aber auch zukünftige Generationen nun über diese schlimmste Zeit aufgeklärt werden. Das ist eigentlich das oberste Ziel.
    Kaess: Winfried Nerdinger, er ist der Gründungsdirektor des NS-Dokumentationszentrums in München, das heute eröffnet wird. Danke für dieses Interview!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.