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NS-Verbrechen
Der lange Schatten der Vergangenheit

Ein 93-Jähriger aus Mecklenburg soll in Auschwitz im Dritten Reich als Sanitäter und Mitglied der Waffen-SS Vernichtungsaktionen unterstützt haben. Seine heutigen Mitbürger können es nicht glauben. Mit der Idylle im Dorf ist es vorbei.

16.07.2014
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    Hubert Z. wird der Beihilfe zum Mord in mehr als 1.700 Fällen verdächtigt. (Deutschlandradio - Margarete Wohlan)
    Ein kleines idyllisches Dorf im mecklenburgischen Tollensetal. – Die alte Kopfsteinpflasterstraße ist von Bäumen gesäumt, alte Backsteingehöfte ducken sich wie zum Schutz hinter allerlei Pflanzen und Büschen.
    Doch im März wird die Idylle jäh gestört. Ein Sondereinsatzkommando der Polizei rückt an. Ein Mann wird verhaftet.
    "Was ist denn in Gnevkow passiert, da war ja heute Polizei und Krankenwagen. Ob dem was passiert ist? Oder ob der umgefallen ist. Aber was will die Polizei dabei?"
    Hubert Z., ein 93-jähriger Mann wird der Beihilfe zum Mord in mehr als 1.700 Fällen verdächtigt. Er soll als Sanitäter und Mitglied der Waffen-SS den Lagerbetrieb und Vernichtungsaktionen unterstützt haben. Ulrich Steltn erinnert sich noch genau an den Tag danach - in Gnevkow. Vor allem an die Schlagzeilen und die Berichterstattung
    "Mutmaßlicher Naziverbrecher wurde entdeckt, er hat sich versteckt in der Idylle Vorpommerns, ein Namensschild suchte man vergebens, er hatte keins dran. Na hallo, wer hat denn noch eins dran, die Meisten haben keins dran, na ja macht nichts."
    Macht doch was - Ulrich Steltner ist aufgewühlt. Und nicht nur er.
    "Das hat bei vielen zu Verwirrung geführt: Kann das sein, ist das so einer? Und ein Kollege, der hat mir das erzählt, der wurde angesprochen in Gnevkow von zwei Frauen Haben sie das denn auch gewusst, dass das so einer ist, der Leute umbringt und mitgemacht hat... na ja, jeder stellt sich vor, er ist ein Massenmörder und hat mit der Pistole da Einzelne erschossen oder selbst Giftgas reingebracht - das doch eine große Unsicherheit, wenn man gesprochen hat. Die sagen, das kann doch nicht sein, das war doch den Behörden bekannt, und dem Bürgermeister, den wir damals hatten, als er aus Gefangenschaft kam, der hat das doch auch gewusst, – wir haben doch einen ABV gehabt, der hat das doch auch gewusst."
    "Anwalt: Eine persönliche Beteiligung hat es nicht gegeben"
    Die Normalität im Dorfalltag ist weg – die Bewohner leiden unter den Anschuldigungen gegen ihren Mitbürger Hubert Z. Sie haben den alten Mann als aufrechten Dorfbewohner erlebt und nun soll ein Kriegsverbrecher sein. Die Diskrepanz bringt das Dorf in einen emotionalen Ausnahmezustand – auch weil die staatliche Prämisse in der DDR immer lautete, dass Nazi-Verbrecher in der DDR unbarmherzig verfolgt und bestraft worden sind – anders als im Westen.
    "Ich vermute mal, da wollen ein paar Journalisten in großer Eilfertigkeit den Kampf gegen das 3. Reich führen, der in der BRD leider nicht geführt wurde."
    DR. PMD, so wie er genannt wird, ist in seinem Element. Peter Michael Dienstel, gebürtiger Rüganer, letzter Innenminister der DDR – unter Lothar de Maziere, eine schillernde Persönlichkeit, hat die Verteidigung übernommen
    "Ich kann mich an eine Situation in der U-Haft erinnern, als er dann – ich sag mal – aus seiner altersbedingten Schweigsamkeit ausgebrochen ist und gesagt hat, natürlich wusste ich, dass diese großen Schornsteine nicht dazu da waren, Energie zu erzeugen, sondern dort sind Menschen verbrannt worden. Das war ihm klar, aber eine persönliche Beteiligung hat es nicht gegeben."
    Diestel hält seinen Mandanten für unschuldig – auch im Sinne eines erweiterten Beihilfebegriffs, der all die für schuldig erklärt, die das System unterstützt haben.
    "Ich halte diese Ausdehnung der Rechtsprechung für fragwürdig."
    Diestel bezweifelt, dass es überhaupt zur Anklage kommt – die Staatsanwaltschaft ermittelt unterdessen weiter.
    "Ich bin ja nicht gegen die Aufklärung der Verbrechen des Dritten Reichs, im Gegenteil. Aber es dürfen keine neuen Verbrechen auf dem Rücken von Auschwitz geschehen."
    Gleichwohl ist es für eine Schlussstrichdebatte über die Verbrechen der Nazis, die in der ganzen Diskussion mitschwingt, auch noch zu früh. Das Dorf ist in Aufruhr. Diese Situation kann es auch nutzen.