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Auschwitz-Prozesse
Schwerpunktthema: Der Holocaust vor Gericht

Am 20. Dezember 1963 begann in Frankfurt am Main das größte Strafverfahren der Nachkriegszeit. Vor aller Öffentlichkeit wollte Generalstaatsanwalt Fritz Bauer beweisen, wie in der NS-Mordmaschinerie ein Rädchen ins andere griff und vom Kommandanten bis zum Koch alle Beteiligten schuldig wurden.

Von Regina Kusch und Andreas Beckmann | 19.12.2013
    Der erste AuschwitzProzess wird am 20.12.1963 im Plenarsaal der Frankfurter Stadtverordnetenversammlung eröffnet. Das Bild zeigt einen Blick auf die Pressefotografen und Kameraleute, die die Angeklagten aufnehmen. Die Angeklagten sitzen flankiert von Poli
    Der Frankfurter Auschwitz-Prozess wird 1963 im Plenarsaal der Frankfurter Stadtverordnetenversammlung eröffnet. (picture alliance / Roland Witschel)
    Zwar entfachte die Verhandlung längst überfällige Debatten über den Mord an den Juden, aber das Gericht verurteilte am Ende nur solche Angeklagten, denen es eine individuelle Teilnahme an Tötungen nachweisen konnte. Diese juristische Linie führte in der Folgezeit zu zahlreichen milden Urteilen gegen NS-Täter. Anlässlich des 50. Jahrestages bilanzieren Historiker und Juristen die Auswirkungen des Auschwitz-Prozesses.
    "Die Verhandlung vor dem Schwurgericht am Landgericht in Frankfurt am Main ist eröffnet."
    22 Männer sind an diesem 20. Dezember 1963 des gemeinschaftlichen Mordes angeklagt, begangen in Tausenden von Fällen in Auschwitz. Mehr als 360 Zeugen werden aussagen, über 180 Verhandlungstage sind angesetzt, etwa 20.000 Besucher werden im Laufe des Verfahrens kommen.
    Initiiert hat diesen Mammutprozess ein einziger Mann: Fritz Bauer, der damalige Generalstaatsanwalt von Hessen: "Ziel des Verfahrens kann nicht sein, lediglich rückwärts zu blicken. Es ist die Aufgabe, neue Werttafeln zu errichten und an der Zukunft mitzuarbeiten. Aus Deutschlands Schutt und Asche ist ein neuer Staat und eine Wirtschaft erwachsen. Auch eine neue menschliche Gesinnung ist notwendig."
    Ronen Steinke: "Man muss sich vorstellen, der Prozess findet statt im Rathaus von Frankfurt, weil das der größte Saal ist. Fritz Bauer lädt 200 Journalisten ein. Gleichzeitig mit dem Prozess findet eine Ausstellung in der Paulskirche, es finden Premieren an 12 Theatern gleichzeitig statt, des Theaterstücks 'Die Ermittlung' von Peter Weiss, das den Auschwitz-Prozess aufgreift. Also, Bauer tut alles, um diesen Prozess in die Öffentlichkeit zu bringen, um dafür zu sorgen, dass man darüber spricht, dass dieser Prozess etwas auslöst in diesem Land und eben nicht nur in einem kleinen Kammerspiel von Gerichtssaal."
    Der Münchener Jurist Ronen Steinke porträtiert Fritz Bauer in einer neuen Biografie als einen Mann, der juristische Innovationen in der Bundesrepublik durchsetzen wollte. Das Gericht sollte nach seinen Vorstellungen nicht nur Wahrheitsfindung betreiben, sondern historische Aufklärung.
    Cover - "Fritz Bauer - oder Auschwitz vor Gericht" von Ronen Steinke
    Cover - "Fritz Bauer - oder Auschwitz vor Gericht" von Ronen Steinke (Piper Verlag)
    Bevor der erste Zeuge aufgerufen wurde, traten deshalb renommierte Historiker des Münchener Instituts für Zeitgeschichte als Gutachter auf. Sie sollten im Vorfeld der Beweisaufnahme erklären, in welchem Umfeld die Taten geschahen und was Auschwitz war: ein Vernichtungslager, in dem ein Rädchen ins andere griff, eine Tötungsfabrik, in der jeder Beteiligte seinen Beitrag zum Massenmord leistete. Ronen Steinke:
    "Fritz Bauer hat die Historiker eingeladen, alle technischen Möglichkeiten auszuschöpfen, große Projektoren zu benutzen, die Gutachten möglichst an die Wand zu werfen und dadurch fürs Publikum nachvollziehbar zu machen, weil er eben das Anliegen hatte, deren Botschaft an die breite Öffentlichkeit zu bringen."
    Es waren nicht allein Hitler und ein paar andere führende Nationalsozialisten, die den Mord an den Juden ausführten. Es waren Millionen Deutsche beteiligt: Soldaten, die die Menschen zusammentrieben, Reichsbahner, die die Transporte organisierten, SS-Leute in den Konzentrationslagern. Das war die Botschaft, die damals in Deutschland kaum jemand hören mochte.
    Um diese Botschaft zu untermauern, wollte Fritz Bauer die Taten der Angeklagten nicht isoliert beurteilen lassen. Deshalb brachte er sie nicht einzeln vor Gericht, sondern alle gemeinsam. Und deshalb wählte er gezielt höhere wie niedere Dienstgrade aus, vom persönlichen Adjutanten des KZ-Kommandanten, also dem zweiten Mann in der KZ-Hierarchie, bis hinunter zum einfachen Bediensteten in der Kleiderkammer.
    Ronen Steinke: "Insofern zielt Bauers Anklage nicht auf eine einzelne Person, sondern auf ein soziales Phänomen, auf die Zusammenarbeit, auf das reibungslose Zusammenwirken verschiedenster Menschen, die erst gemeinsam dieses Verbrechen begehen konnten."
    Devin Pendas: "Das Problem ist, dass das Recht nicht dazu geeignet ist, es hat seine eigene Logik, es fragt nach individueller Schuld und nicht nach historischem Kontext. Und einen Prozess als Lehrstück zu benutzen ist immer sehr schwierig, weil es ist irgendwie zu grob auf der einen Seite, was die Geschichte betrifft und zu fein geschnitten, was die individuellen Täter betrifft."
    Die Skepsis des Rechtshistorikers Devin Pendas vom Boston College, ob sich ein Völkermord wie der Holocaust überhaupt juristisch adäquat aufarbeiten lässt und die Bewunderung Ronen Steinkes für den scharfsinnigen Ankläger - zwischen diesen Polen oszillieren die Betrachtungen der Historiker, die sich zum 50. Jahrestag des Auschwitz-Prozesses zu Wort melden.
    Alle Betrachter sind sich dabei einig, dass in dem Verfahren nicht nur wegen seines Umfangs Rechtsgeschichte geschrieben wurde:
    Annette Weinke: "Ein weiterer wichtiger Punkt war die Beiziehung von Zeugen. Ich denke, das Vorbild war der Eichmann-Prozess, denn dieser Jerusalemer Prozess hatte ja nicht zuletzt deshalb so eine große Aufmerksamkeit hervorgerufen, weil dort zum ersten Mal in der Nachkriegsgeschichte aus der Perspektive von Opfer-Zeugen geschildert wurde, was ihnen im Einzelnen zugestoßen war."
    Im Auschwitz-Prozess, erläutert die Jenaer Zeithistorikerin Annette Weinke, wurden zum ersten Mal von einem deutschen Gericht die Geschehnisse in einem Konzentrationslager aufgerollt.
    In allen vorherigen Verfahren, in denen es um Verbrechen während der NS-Zeit ging, waren ausschließlich Taten angeklagt worden, die im direkten Zusammenhang mit Kriegshandlungen standen - der systematische Massenmord aus rassischen Beweggründen kam allenfalls am Rande vor, erklärt Annette Weinke:
    Das Konzentrationslager Auschwitz (1945)
    Das Konzentrationslager Auschwitz (1945) (AP Archiv)
    "Das hing damit zusammen, dass man sich nach Gründung der Bundesrepublik bewusst dagegen entschieden hatte, internationales Völkerrechtsstrafrecht in das bundesdeutsche Strafrecht zu transformieren. Man wollte Verbrechen gegen die Menschlichkeit, also alliierte Straftatbestände nicht in das bundesdeutsche Strafrecht aufnehmen. Das hätte sicherlich die Überführung vieler Täter ungemein erleichtert. Das wollte man nicht, weil es als alliiertes Relikt, als alliierter Fremdkörper betrachtet wurde."
    Wo kein Kläger, da kein Richter - nach diesem Motto verhielt sich fast die gesamte deutsche Justiz zwei Jahrzehnte lang zum Tatkomplex Judenmord. Weinke:
    "Es gab in der Bundesrepublik keine rechtsdogmatischen Diskussionen über diese ganze Problematik. Es gab nur einzelne wissenschaftliche Außenseiter, die sich überhaupt der Thematik der NS-Strafverfahren angenommen haben."
    Die Rolle des Außenseiters kannte Fritz Bauer schon aus der Zeit der Weimarer Republik. Weil er Sozialdemokrat war, galt er damals in Baden-Württemberg als "Roter Richter". Weil er Jude war, wurde er unmittelbar nach Hitlers Machtergreifung von der SA in ein Lager verschleppt.
    Ende 1933 kam Bauer wieder frei. Er floh nach Dänemark und später weiter nach Schweden, berichtet sein Biograf Ronen Steinke:
    "Nach dem Krieg kommt Fritz Bauer zurück und hat einen für uns heute unvorstellbaren Enthusiasmus. Er stellt sich vor, dieses Land, was in Trümmern liegt, kann man wieder aufbauen, der ganze alte Schutt kommt weg, jetzt kann man ein neues, modernes, besseres Deutschland aufbauen. Er glaubt an das Gute in den Deutschen, an eine bessere Zukunft und kehrt zurück, kehrt auch in die Justiz zurück und erlebt, dass in der Justiz das Personal im Wesentlichen unverändert ist."
    Heimlich, aber entschlossen treibt Bauer als Staatsanwalt Ermittlungen gegen Nazitäter voran. Er ist es, der die entscheidenden Nachforschungen zum Aufenthaltsort Adolf Eichmanns anstellt. Aber er teilt seine Erkenntnisse nicht mit deutschen Stellen, weil er fürchtet, sie könnten den Organisator des Holocaust warnen. Er überlässt seine Information dem israelischen Geheimdienst, der Eichmann nach Jerusalem bringt.
    Vom Bundesgerichtshof lässt sich Bauer die Zuständigkeit für Ermittlungen in Sachen Auschwitz übertragen. Als dann aber der Prozess beginnt, überlässt er anderen die Bühne.
    Ronen Steinke: "Viele haben sich gewundert, wo denn eigentlich dieser Fritz Bauer ist, den man aus dem Fernsehen kennt, mit seinen flammenden weißen Haaren und seiner sehr markanten Erscheinung, aber Fritz Bauer war nicht im Gerichtssaal. Fritz Bauer kam einmal nur zur Eröffnung und hat sich später rein im Hintergrund aufgehalten. Das hängt auch mit einer gewissen Symbolik zusammen."
    Devin Pendas: "Viele Deutschen haben den Prozess abgelehnt, die haben gesagt, das geht nur weiter mit diesen Siegerprozessen, die haben Bauer selbst als Jude abgelehnt."
    Ronen Steinke: "Man stelle sich vor, auf der einen Seite hat man 20 Jedermänner, die Angeklagten, die sozusagen aus der Mitte der deutschen Gesellschaft gegriffen waren, eine Existenz bürgerlicher als die andere. Und auf der Gegenseite hätte man den Staatsanwalt Fritz Bauer, mit einer Biografie, wie sie in Deutschland einzigartig ist. Man kann sich die Frage stellen, wem hätten die Sympathien des breiten Publikums in Deutschland eher gegolten? Ich glaube, Fritz Bauer hat sich da keinen Illusionen hingegeben."
    Devin Pendas: "Bauer hat viele Drohbriefe bekommen und der war selbst von vielen seiner Kollegen abgelehnt worden. Der war ein mutiger Mann."
    Ronen Steinke: "Die Staatsanwälte, die Fritz Bauer vertreten haben im Gerichtssaal, waren alle jung, Anfang 30, gerade am Anfang ihrer Karriere und standen mit ihrer Erscheinung auch für eine neue Generation, die der alten Generation der Väter Fragen stellt. Er hat die Staatsanwälte, die den Prozess geleitet haben, gelenkt aus dem Hintergrund, er hat sie wöchentlich zu sich einbestellt und mit ihnen die neuesten taktischen Vorgaben abgesprochen."
    Fritz Bauer: "Entscheidend ist, dass Hitler und seine Mannen einen verbrecherischen Befehl, einen Mordbefehl gegeben haben, und dass an der Durchführung dieses Befehls einige Leute beteiligt waren. Sie waren dabei und haben mitgewirkt, zum Beispiel den Befehl zur Liquidierung aller Juden durchzuführen. Das war keine fremde Tat und das sind für mich Mittäter."
    Adolf Hitler wird 1933 jubelnd in München begrüßt
    Adolf Hitler im Jahr 1933 in München (AP Archiv)
    Wer in Auschwitz eine deutsche Uniform trug, ist Täter, nicht etwa nur Gehilfe Hitlers oder der SS - darauf besteht Fritz Bauer. Und er ergänzt: Das gilt für alle, nicht nur für diejenigen, die eigenhändig gemordet haben.
    Ronen Steinke: "Die Richter haben den Staatsanwälten praktisch den Vogel gezeigt. Das ist ja auch eine steile These, wenn man das zum ersten Mal hört. In dieser Auswahl von Angeklagten ist auch ein SS-Mann dabei, der nur dafür verantwortlich war, Häftlingskleidung auszugeben. Wo man sagt, das Ausgeben von Kleidung ist ja an sich kein Verbrechen, das ist auch der Einwand, den die Verteidiger erhoben haben, aber Fritz Bauer sagt eben, man arbeitet mit verteilten Rollen an einem gemeinsamen Ziel und das ist die Vernichtung der Menschen. Da zählt es genauso dazu, dass der eine in der Kleiderkammer arbeitet, wie dass der andere in der Gaskammer arbeitet. Erst das arbeitsteilige Zusammenwirken macht es möglich, dass in einer Weise effizient gemordet wurde in Auschwitz wie noch nie in der Weltgeschichte."
    Fritz Bauer: "Die Prozesse sollten uns wieder etwas zu lehren, was wir in Deutschland im Laufe der vergangenen 100 Jahre völlig vergessen haben: die klare Erkenntnis, dass es gewisse Dinge gibt, die man auf Erden nicht tun kann, weil sie natürlich wider alle Religion und alle Moral sind. Wenn etwas befohlen wird, sei es Gesetz, sei es Befehl, was rechtswidrig ist, dann musst du Nein sagen."
    Dass die Verteidigung dagegen einwandte, die Angeklagten hätten seinerzeit in Auschwitz unter Befehlsnotstand gehandelt, kann auch 50 Jahre später kaum überraschen.
    Eher schon, dass es sich ihr Wortführer Hans Laternser erlauben konnte, viele Zeugen allein deshalb als unglaubwürdig abzuqualifizieren, weil sie Juden waren:
    "So müssen Sie bei den jüdischen Zeugen daran denken, dass sich ein tiefer Hass gegen alle diejenigen richtet, die mit dem Verbrechen gegen das jüdische Volk im Zusammenhang standen. Das aber ist gerade die schlechteste Grundlage für Zeugenaussagen. Das Gericht wird daran denken müssen, wenn es die Aussagen jüdischer Zeugen bewertet."
    Zeuge: "Die Zwischenrufe, die also durch die Verteidiger kamen, waren so bedrückend und so ja, ich bin völlig aus dem Konzept gebracht worden, weil man also angezweifelt hat, dass das, was ich da erzähle, der Wahrheit entspricht."
    Devin Pendas: "Das Gericht wollte sehr, sehr präzise Informationen von den Zeugen und es war höflich, aber es hat nicht die Schwierigkeit für die Überlebenden, über diese traurigen Vorfälle in Auschwitz auszusagen, das hat das Gericht wirklich nicht gut verstanden, würde ich sagen. Heutzutage, bei solchen Prozessen ist es normal, dass man Psychologen dabei hat, um die Zeugen zu betreuen, damals gab es so etwas nicht. Das Gericht hat dafür überhaupt nichts getan."
    Die Richter blieben stets korrekt und ernsthaft an der Wahrheitsfindung interessiert. So fasst Devin Pendas vom Boston College seine umfassende Analyse des Auschwitz-Prozesses zusammen, die jetzt in deutscher Übersetzung erschienen ist.
    Pendas untersucht in seinem Buch auch die politischen Auswirkungen des Verfahrens. Das verhalf der Bundesrepublik zu einem besseren Image, sowohl in Israel wie bei allen europäischen Nachbarn, auch denen im Osten. Nur ein Staat zeigte sich beunruhigt, so Pendas:
    "Damals hat die DDR ziemlich starke Propagandaangriffe auf die Bundesrepublik gemacht, genau über die Frage der NS-Täter, die in der westdeutschen Gesellschaft reintegriert worden waren. Und für die war der Auschwitz-Prozess ein Problem, weil dann müssen sie sagen, jetzt machen die Westdeutschen etwas gegen die Nazis."
    Christian Dirks: "Diese Aktivitäten hat man in Ost-Berlin natürlich ganz genau wahrgenommen und man kam unter Druck. Selbst hatte man keinen solchen NS-Prozess zum Komplex Auschwitz aufzuweisen."
    Der Berliner Historiker und Kurator Christian Dirks schildert in seiner Dissertation die Bemühungen der SED-Führung, diese Scharte im Propagandakrieg auszuwetzen. Der ostdeutsche Staat hatte sich stets als das anti-faschistische Deutschland präsentiert, das kompromisslos mit den Nazitätern gebrochen hatte. Deshalb war es gar nicht so einfach, jetzt plötzlich einen DDR-Bürger zu präsentieren, der an Verbrechen in Auschwitz beteiligt gewesen war.
    Am 11. Juni 1965, als in Frankfurt bereits die Schlussplädoyers gehalten wurden, konnten die DDR-Medien dann aber doch einen Verdächtigen präsentieren: Horst Fischer, der als SS-Arzt in Auschwitz Tausende ins Gas geschickt hatte.
    O-Ton DDR-Fernsehen: "20 Jahre konnte sich Fischer unter uns verbergen. Er fälschte Fragebögen, verschwieg seine Zugehörigkeit zur SS und zur Hitlerpartei. Unsere Untersuchungsorgane aber hatten ihn dennoch ermittelt, diesen KZ-Arzt Fischer."
    Christian Dirks: "Das war ein Schauprozess. Schauprozess in dem Sinne, als dass der gesamte Ablauf vom Ministerium für Staatssicherheit festgelegt, mit der Generalstaatsanwaltschaft und dem Obersten Gericht abgesprochen war. Unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten betrachtet, was das eine Farce, ein großes Theaterstück. Und so ist es dann auch abgelaufen, wie geplant."
    An Fischers Schuld konnte kein Zweifel bestehen, bestätigt Christian Dirks, der sämtliche Verhörprotokolle der Stasi gelesen hat. Fischer war sofort geständig. Nichts deutet darauf hin, dass er unter Druck gesetzt oder gar gefoltert worden wäre. Er kooperierte, um die Vernehmer milde zu stimmen.
    Die wollten unbedingt verhindern, dass Fischer bei seinem Auftritt vor dem Ostberliner Gericht auf Verständnis, Sympathien oder auch nur Mitgefühl von Seiten der Zuschauer hoffen durfte. Die DDR-Behörden wollten ein Verfahren, in dem der Angeklagte uneingeschränkt als bösartig zu erkennen sein sollte - und das sich damit eindeutig vom Frankfurter Prozess unterschied.
    Auch unter den dortigen Angeklagten war ein SS-Arzt, Franz Lucas. Ebenso wie Fischer hatte er in Auschwitz Menschen in den Tod geschickt. Ebenso wie Fischer hatte er gestanden, allerdings erst, nachdem Zeugen ihn belasteten.
    Und ebenso wie Fischer hoffte auch Lucas auf Milde. Denn ausgerechnet mehrere Überlebende von Auschwitz sagten in Frankfurt zu seinen Gunsten aus.
    Franz Lucas habe ihnen heimlich Medikamente und Essen zugesteckt, berichteten diese Zeugen:
    "Doktor Lucas war im Lager ein Mensch. Und wir haben, wenn ich mich so poetisch ausdrücken darf, durch ihn den Glauben an einen deutschen Menschen wiederbekommen."
    Szenen wie diese waren genau das, was die Propagandisten in Ostberlin schon im Vorfeld ihres Auschwitz-Prozesses ausschließen wollten.
    Sprecherin DDR-Rundfunk und Wolfgang Vogel: "Im Prozess gegen den KZ-Arzt Fischer sprach heute Nachmittag Rechtsanwalt Dr. Vogel, als er feststellte, die Aufgabe der Verteidigung im Namen von Recht und Gesetz sei eine andere als jenes traurige Schauspiel, das sich im Frankfurter Auschwitz-Prozess abgespielt habe: 'Eine solche makabere Rolle der Verteidigung wollen wir Recht und Gerechtigkeit, den Prozessbeteiligten, den lebenden und toten Opfern, dem Ansehen der Verteidigung an sich und nicht zuletzt auch dem Angeklagten ersparen.'"
    Wolfgang Vogel hatte sich damals schon einen Namen gemacht als Vermittler beim Agentenaustausch zwischen Ost und West. Später arrangierte er den Freikauf von Tausenden von politischen Gefangenen der DDR.
    Auch im Fischer-Prozess konnte sich die SED-Spitze auf ihn verlassen, stellt Christian Dirks fest:
    "Vogel hatte sehr gute Verbindungen zum Parteiapparat und dem MfS und er war Teil dieses Spiels. Und er hat mitgespielt. Er hat zum einen schon versucht, seinen Mandanten zu verteidigen das war aber ganz klar, dass dem Grenzen gesetzt sind. Im Vorfeld hat er intensive Gespräche mit der Ehefrau von Fischer geführt. Und Frau Fischer hat versucht, Entlastungszeugen heranzukarren und ihrem Mann Schützenhilfe zu leisten. Und das hat Vogel verhindert."
    Wolfgang Vogel riet seinem Mandanten, den Ermittlern und Richtern genau jene Fakten zu liefern, die sie hören wollten. Christian Dirks:
    "Die Staatssicherheit hat interessiert, Fakten zusammenzutragen, Aussagen zusammenzutragen, die Fischer belasten und in einen unmittelbaren Zusammenhang stellen mit der IG Farben. Das war das Hauptaugenmerk der Propagandisten aus Berlin, dort die Verantwortlichkeit der IG Farben zur Sprache zu bringen. Über das Instrument Fischer sozusagen hat man die Gelegenheit gesehen, einen Propagandacoup zu machen und über die IG Farben die Bundesrepublik als Ganzes zu beschuldigen."
    O-Ton DDR-Fernsehen: "Als Lagerarzt im IG-Farben-eigenen KZ Molowitz senkte er den Krankenstand, indem er Häftlinge aus dem Revier und aus den Baracken in die Gaskammern überstellte. Die Häftlinge wurden von der SS an die IG-Farben vermietet wie ein Werkzeug, wie ein Zugtier. Kranken billigte die IG Farben nur 14 Tage Aufenthalt im Häftlings-Krankenbau zu. Nur drei Monate war die Überlebenserwartung für Häftlinge im IG-Farben-KZ."
    Die Fakten stimmten. Mit ihrer Hilfe versuchten das Gericht wie das DDR-Fernsehen die These zu untermauern, nicht die SS sei die treibende Kraft in Auschwitz gewesen, sondern Chemiekonzerne wie BASF oder Bayer, die von 1925 bis 1945 in der IG Farben zusammengeschlossen waren.
    Direktoren der IG Farben, die 1947 bei den Nürnberger Prozessen angeklagt waren
    Direktoren der IG Farben, die 1947 bei den Nürnberger Prozessen angeklagt waren (dpa)
    Devin Pendas: "Die Überlebenden haben nicht sehr viel über IG Farben gesagt."
    Nach Ansicht des Rechtshistorikers Devin Pendas wurde der wirtschaftliche Aspekt von Auschwitz im Frankfurter Prozess vernachlässigt. Die Ankläger gingen auf dieses Thema kaum ein: "Das hatte weniger mit den Vernichtungsaktionen zu tun und genau die wollte Bauer thematisieren. Also Vernichtung und nicht so sehr Ausbeutung."
    Der Tenor der beiden Verfahren prägte lange Zeit die Debatten über den Holocaust in den beiden deutschen Staaten. In der DDR wurde die Naziherrschaft als Auswuchs des Kapitalismus interpretiert, in dem profitgierige Konzerne buchstäblich über Leichen gingen. In der Bundesrepublik rückte nach jahrelangem Leugnen der Antisemitismus ins Zentrum der Diskussion.
    So unterschiedlich wie die Analysen fielen auch die Urteile aus. Hans Hofmeyer, der Vorsitzende Richter in Frankfurt, verkündete seines am 19. August 1965.
    "Im Namen des Volkes! Es sind schuldig:
    der Angeklagte Mulka der gemeinschaftlichen Beihilfe zum gemeinschaftlichen Mord in mindestens vier Fällen an mindestens je 750 Menschen,
    der Angeklagte Höcker der gemeinschaftlichen Beihilfe zum gemeinschaftlichen Mord in mindestens drei Fällen an mindestens je 1.000 Menschen ..."
    Nur sechs Angeklagten legte das Gericht Mord zur Last. Drei wurden freigesprochen, die übrigen der Beihilfe für schuldig befunden.
    "... Der Angeklagte Doktor Lucas der gemeinschaftlichen Beihilfe zum gemeinschaftlichen Mord in mindestens vier Fällen an mindestens je 1.000 Menschen.
    Es werden danach verurteilt:
    der Angeklagte Mulka zu einer Gesamtzuchthausstrafe von 14 Jahren,
    der Angeklagte Höcker zu einer Gesamtzuchthausstrafe von sieben Jahren ..."
    Weil das Gericht in den meisten Fällen den Tatvorwurf abgemildert hatte, wurden die Beschuldigten auch nur zu milden Strafen verurteilt.
    "... Der Angeklagte Doktor Lucas zu einer Gesamtzuchthausstrafe von drei Jahren und drei Monaten."
    Nach Meinung von Devin Pendas konnte ein bundesdeutsches Gericht damals kaum härtere Strafen aussprechen:
    "Das deutsche Rechtssystem definiert Mord in Bezug auf ganz spezifische Motive der Täter. Nach deutschem Recht, wenn man Täter ist, muss man niedrige Beweggründe haben, wenn nicht, ist man nur Gehilfe, und Gehilfen werden weniger bestraft als die Täter. Also wenn zum Beispiel der ehemalige Adjutant von Auschwitz, Robert Mulka, verurteilt wurde, weil er an der Rampe an Selektionen teilgenommen hat, in Auschwitz, aber das Gericht sagte, man kann nicht beweisen, dass er selbst niedrige Beweggründe hatte, der wollte möglicherweise nur Befehle befolgen und deswegen wird er nur als nur Gehilfe verurteilt und hat nur 14 Jahre Haft bekommen statt lebenslänglich."
    Das Oberste Gericht der DDR unterlag solchen juristischen Beschränkungen nicht.
    O-Ton DDR-Fernsehen: "Der Präsident des Gerichts, Dr. Töplitz eröffnet die letzte Sitzung gegen den SS-Arzt Dr. Fischer.
    'Im Namen des Volkes, der Angeklagte wird wegen fortgesetzt begangener Verbrechen gegen die Menschlichkeit zum Tode verurteilt.'"
    Das Ostberliner Urteil stand bereits vor Beginn des Verfahrens fest, wie Christian Dirks anhand der Prozessakten recherchiert hat. Horst Fischer stellte zwar noch ein Gnadengesuch, wurde aber am 8. Juli 1966 in Leipzig mit der Guillotine hingerichtet.
    Die DDR-Führung glaubte, damit ein weiteres Ausrufezeichen im anti-faschistischen Kampf gesetzt zu haben. Ihre Bevölkerung aber zeigte ungewöhnlich deutlich ihren Unmut. Christian Dirks:
    "Das sind schon einige Hundert Zuschriften, die wir gefunden haben, da kann man schon sagen, dass das auch eine gewisse Strömung in Teilen der DDR-Bevölkerung war, ganz analog der Mentalität in der Bundesrepublik, die von einem Schlussstrich gesprochen hat. Es müsse doch auch gut sein, und 20 Jahre danach, wie lange wolle man denn noch? Das ist durchaus vergleichbar."
    Auch zahllose IM-Berichte bestätigen diese Stimmung. Partei und MfS zogen ihre Konsequenzen für den weiteren Umgang mit der deutschen Vergangenheit.
    Christian Dirks: "Durch die intensiven Ermittlungstätigkeiten des MfS ist nicht nur Fischer aufgeflogen, sondern in dem Zusammenhang sind auch andere damals in der DDR lebende NS-Täter aufgeflogen. Das war von der DDR-Seite aber nicht Anlass nach eigenen Defiziten in der Ahndung von NS-Verbrechen zu suchen, sondern mit dem ersten großen Auschwitz-Prozess in der DDR war zugleich auch das Ende der Ahndung dieses Verbrechenskomplexes beschlossen. Das war der erste und letzte Prozess, der Auschwitz zum Thema hatte in der DDR."
    In Frankfurt, erzählt Ronen Steinke, legte Fritz Bauer gegen die milden Urteile Revision ein, die sich über Jahre hinziehen sollte:
    "Die Mitarbeiter Bauers, die ich sprechen konnte, schildern, dass sich seine Stimmung immer mehr verdüstert hat, dass er immer mehr geraucht hat, ja, gegen Ende der 60er häuften sich die Niederlagen. Die milden Urteile, die Gerichte folgten der Gehilfenrechtssprechung weiterhin, die sehr nachsichtig war, sie folgten nicht den innovativen juristischen Ansätzen von Fritz Bauer. Fritz Bauer erlebte, wie er immer isolierter wurde in der Justiz, wie eben nicht ein Aufbruch in der Justiz in Gang kam und sich viele ihm anschlossen, sondern im Gegenteil, bei Deutschen Juristentag 1966 ganz isoliert am Rande war, angefeindet wurde von allen Seiten und verbittert dann darüber."
    Fritz Bauer: "Ich muss Ihnen sagen, die Welt würde aufatmen, ich glaube, Deutschland würde aufatmen und die gesamte Welt und die Hinterbliebenen derer, die in Auschwitz gefallen sind, und die Luft würde gereinigt werden, wenn endlich einmal ein menschliches Wort fiele."
    Am 1. Juli 1968 starb Fritz Bauer einsam in seiner Wohnung, wenige Wochen vor seinem 65. Geburtstag.
    So konnte er nicht mehr erleben, wie in den 70er-Jahren die deutsche Jugend, auf die er so sehr gehofft hatte, langsam doch Worte der Trauer fand. Dabei ging der Wandel in der Haltung der Deutschen ganz wesentlich auf ihn zurück, meint die Jenaer Zeitgeschichtlerin Annette Weinke:
    Das Thema Auschwitz war auf jeden Fall präsent seitdem. Das kann man in jedem Fall sagen, dass dieser Prozess dazu beigetragen hat, dass das Vernichtungslager Auschwitz zu einem Erinnerungsort der bundesdeutschen Gesellschaft wurde, dass Auschwitz gewisserweise eine Chiffre wurde für die Judenpolitik des Dritten Reichs.
    Fritz Bauer musste nicht mehr miterleben, wie die Frankfurter Urteile in späteren Instanzen noch weiter abgemildert wurden, so sehr, dass etwa Franz Lucas sogar freigesprochen wurde. Der Versuch, den Holocaust vor Gericht aufzuarbeiten, schien damit weitgehend gescheitert.
    Generalstaatsanwalt Fritz Bauer (r.) im Gespräch mit Generalbundesanwalt Ludwig Martin (l.), 1967 in Kassel
    Generalstaatsanwalt Fritz Bauer (r.) im Gespräch mit Generalbundesanwalt Ludwig Martin (l.), 1967 in Kassel (picture-alliance/ dpa)
    Zumal sich auch der ostdeutsche Versuch als nicht Erfolg versprechend erwiesen hatte. Einen Schauprozess zu inszenieren, um ein politisch korrektes Lehrstück zu erzwingen; Menschen hinzurichten, um das grenzenlose Unrecht von Auschwitz mit der maximal möglichen Strafe zu sühnen - dieser Ansatz erwies sich nicht einmal in einer Diktatur als gangbarer Weg.
    Weil die SED den Fischer-Prozess in Vergessenheit geraten ließ, ging auch der begrenzte Erkenntnisgewinn verloren, den die Ostberliner Verhörprotokolle durchaus hätten bieten können, erklärt der Berliner Historiker Christian Dirks:
    "Wenn man sich mal auf den Angeklagten Fischer konzentriert und seine Aussagen nimmt, ist das schon ein bleibendes Ergebnis. Diese Aussagen sind erhalten geblieben und auch zentral wichtig für die Forschung. Wie funktionierte die Vernichtungsmaschinerie in Auschwitz aus der Sicht eines SS-Mediziners? Auch darüber hinaus das ganze Umfeld, wie haben die gelebt? Also gut ausgebildete Akademiker, die in den 40er-Jahren nach Auschwitz gekommen sind, in der Regel ihre Familien nachgeholt haben, in Häusern wohnten unmittelbar in der Umgebung des Stammlagers, wo vorher polnische Familien gewohnt hatten, die vertrieben und verfolgt wurden. Die haben sich dort häuslich eingerichtet im Schatten der Krematorien. Wie ging das? Wie haben die ihren Alltag gestaltet? Das sind doch Informationen, die äußerst interessant, einzigartig sind, die lange Zeit nicht so bekannt waren in der Detailtiefe und die uns viel sagen über das Funktionieren von NS-Tätern."
    Bis auf die gesellschaftliche Aufarbeitung eine juristische Wende folgte, vergingen noch einmal Jahrzehnte, bilanziert Annette Weinke:
    "Der Umschwung hat eingesetzt in den 90er-Jahren, als erstmals das Thema der völkerstrafrechtlichen Aufarbeitung von DDR-Kriminalität auf die Tagesordnung rückte. Die Auseinandersetzung mit DDR-Kriminalität hat dazu beigetragen, dass die Versäumnisse in der Auseinandersetzung mit NS-Verbrechen problematisiert worden sind."
    Erst 1996 stellte der Bundesgerichtshof in einem Grundsatzurteil fest, dass es falsch war, Mitglieder von KZ-Wachmannschaften solange nicht als Täter anzusehen, wie ihnen kein Mord persönlich zuzurechnen sei.
    Im Mai 2011 sprach das Landgericht München II den ehemaligen Wachmann John Demjanjuk wegen Beihilfe zum Mord an mehr als 28.000 Menschen für schuldig, obwohl ihm keine einzelne Tat nachgewiesen werden konnte. Dem Gericht reichten Belege, wonach Demjanjuk unzweifelhaft 1943 zu den Aufsehern im Vernichtungslager Sobibor gehört hatte. Damit war zum ersten Mal eine Schwurkammer in Deutschland der Rechtsauffassung Fritz Bauers gefolgt.
    Doch weil die Verteidigung in Revision ging und Demjamjuk starb, bevor diese verhandelt werden konnte, wurde das Urteil niemals rechtskräftig. Somit bleibt offen, ob sich die von Bauer angestrebte Innovation des deutschen Strafrechts jemals durchsetzen wird. Dennoch hält Devin Pendas den Auschwitz-Prozess keineswegs für gescheitert:
    "Es war symbolisch sehr wichtig, dass gerade in Deutschland so ein großer Prozess zur NS-Vergangenheit geführt worden war. Früher dachte man, dass das nur möglich wäre vor einem internationalen Tribunal, dass ein Land überhaupt nicht seine eigene Geschichte vor Gericht stellen könnte und der Auschwitz-Prozess hat das Gegenteil bewiesen. Ich will nicht übertreiben, Deutschland hat das nicht perfekt gemacht, aber es hat es versucht und das ist wichtig. Also, dass der Versuch manchmal wichtiger ist als der Erfolg, könnte man sagen."
    50 Jahre danach beschreiben Historiker wie Rechtswissenschaftler den Auschwitz-Prozess als epochalen Einschnitt in der Geschichte Deutschlands.
    Ronen Steinke: "Der Auschwitz-Prozess hat eine ganz wichtige Rolle gespielt für das Geschichtsbewusstsein, das wir heute haben."
    Für Fritz Bauers Biografen Ronen Steinke wäre es deshalb an der Zeit, auch den Initiator entsprechend zu würdigen.
    Zwar gibt es in Frankfurt ein nach ihm benanntes Forschungsinstitut und an einigen Gerichten wird seiner gedacht. Aber eine offizielle staatliche Ehrung hat er nie erfahren.