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NSU-Prozess
Die Wahrnehmung in der Türkei

Seit genau einem Jahr läuft der Prozess gegen Beate Zschäpe und vier Mitangeklagte vor dem Oberlandesgericht in München. Bisher mit sehr bescheidenem Erfolg. In der Türkei wird das Verfahren auch weiterhin aufmerksam verfolgt - und von Politikern gerne benutzt, um Deutschland zu kritisieren.

Von Thomas Bormann |
    Beate Zschäpe und ihre Anwälte
    Das Auftreten von Beate Zschäpe im Gerichtssaal wird von türkischen Medien genau beobachtet und kommentiert (picture-alliance / dpa / Peter Kneffel)
    "Prozess gegen die freche Nazi-Frau" – so nennt die Zeitung "Hürriyet" das Gerichtsverfahren gegen die NSU-Mörderbande. Hürriyet druckte dazu Fotos ab von der Hauptangeklagten Beate Zschäpe, wie sie im Gerichtssaal den Angehörigen der Opfer demonstrativ den Rücken zudreht. Respektlos und beleidigend sei das gegenüber den türkischen Familien, die ihren Vater oder ihren Bruder durch die NSU-Morde verloren haben und nun im Münchner Gerichtssaal auf Gerechtigkeit hoffen, meint Hürriyet.
    Die türkischen Zeitungen berichten nicht über jeden einzelnen Prozesstag. Aber türkische Politiker greifen das Thema gerne auf, vor allem um Kritik von deutschen Politikern zu kontern.
    Als Bundespräsident Joachim Gauck bei seinem Türkei-Besuch in der vergangenen Woche bemängelte, dass die Türkei das Internet zensiert, dass Meinungs- und Pressefreiheit in der Türkei gefährdet seien; da kam von Gaucks türkischem Amtskollegen Abdullah Gül sogleich die Retourkutsche.
    Kein Land könne von sich behaupten, fehlerfrei zu sein, so Gül: "In diesem Sinne muss ich an die NSU-Mordopfer in Deutschland erinnern und wie deren Familien lange Zeit als Täter beschuldigt wurden. Das war wirklich eine Blamage für Deutschland."
    Rassismus und Islamfeindlichkeit sind eine Realität in Europa, obwohl das eigentlich nicht mit den europäischen Werten übereinstimmt - mit Rechtsstaatlichkeit und Demokratie.
    Der Istanbuler Politikwissenschaftler Suat Özcelebi hatte schon zu Beginn des Prozesses vorausgesagt: "Wir Türken lieben so etwas, vor allem unsere Politiker. Sie werden die Fehler der anderen ausnutzen, um eigene Fehler zu entschuldigen oder zu rechtfertigen."
    Türken nur Bürger zweiter Klasse?
    Die meisten Menschen in der Türkei aber hätten durchaus Vertrauen in das Gericht in München. Sie glauben, die Richter werden die Täter und die Komplizen der Mordserie bestrafen, meint Suat Özcelebi.
    Andererseits befürchten viele Menschen in der Türkei, ihre in Deutschland lebenden Landsleute seien dort nur Bürger zweiter Klasse. Deshalb habe die deutsche Polizei viele Familien der NSU-Mordopfer zunächst verdächtigt, selbst hinter den Morden zu stecken. Eine tiefe Wunde, die nicht verheilt.
    Eine besonders wichtige Frage ist aber auch ein Jahr nach Prozessbeginn aus türkischer Sicht immer noch nicht beantwortet, nämlich: ob das Gericht auch all die Ermittlungspannen aufklären wird. Viele türkische Journalisten
    fragen: Wie konnte es passieren, dass mitten in Deutschland eine Mörderbande zehn Jahre lang unentdeckt ihr Unwesen treibt? Sind die Geheimdienste und der Verfassungsschutz in Deutschland womöglich selbst in diese Mordserie verwickelt?, fragen Kommentatoren in Zeitungen regelmäßig.
    Sie hegen den Verdacht: Es habe in Wahrheit gar keine Ermittlungspannen gegeben, sondern: Die NSU-Mörderbande sei von Ermittlern in den deutschen Geheimdiensten über Jahre gedeckt oder sogar unterstützt worden. Noch einmal der Politikwissenschaftler Suat Özcelebi:
    "Ich habe auch so meine Zweifel, ob das alles wirklich nur Pannen und Nachlässigkeiten der Verfassungsschützer waren. Wie können die Ermittler über einen Zeitraum von zehn Jahren immer nur nachlässig sein? Das ist doch in einem Staat wie Deutschland, zumindest dem Deutschland, wie wir es kennen, gar nicht möglich, oder? Da wurde doch ein Auge zugedrückt? Anders kann man sich das gar nicht erklären!
    Fragen, auf die die türkischen Journalisten womöglich niemals eine Antwort bekommen werden, die alle Zweifel ausräumt.