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"Nuit Debout"
Fußball-EM als Anlass für kritische Fragen

Ende März besetzten junge Leute nach einem Marsch gegen die geplante Arbeitsrechtsreform die Place de la République in Paris - die Geburtsstunde der Bewegung Nuit Debout. Seither reißen die Diskussionsveranstaltungen nicht ab. Der Kern dabei ist die Suche nach Lösungen für eine gerechtere Gesellschaft. Worum es geht, soll auch an Gäste der EM weitergegeben werden.

Von Suzanne Krause | 09.06.2016
    Eine Frau hält mit anderen Demonstranten ein Transparent und spricht in ein Megafon.
    Jeden Abend kommen sie zusammen, um unter anderem gegen die geplante Reform des Arbeitsrechts zu protestieren. (AFP / Sebastien Bozon)
    Seit dem 31. März besetzen die Teilnehmer der sozialen Protestbewegung Nuit Debout die Pariser Place de la République. Olivier ist von Anfang an dabei. Ein Marathon, gibt der 33-Jährige zu - doch es sei den Einsatz wert.
    "Auf der Place de la République herrscht weiterhin ein unglaublicher Rummel. Jeden Abend kommen neue Ideen und Initiativen auf. Früher habe ich mich politisch nie engagiert. Hier entdecke ich, dass wir alle zusammen etwas auf die Beine stellen können. Egal, wie und wann das Ganze hier enden wird – es ist für jeden Teilnehmer eine unglaubliche Erfahrung."
    Die Olivier auch Fußballfans aus aller Herren Länder, die jetzt zur Europa-Meisterschaft anreisen, weitergeben möchte. Mittels der eigens gegründeten Fußball-Arbeitsgruppe.
    "Wir werden Diskussionen organisieren, die sich zum einen kritisch mit dem Fußball-Business auseinandersetzen und zum anderen auch die gesellschaftliche Rolle des Fußballs beleuchten. Dazu planen wir ebenso ein Fußball-Spiel, aber mit anderen Regeln als bei der FIFA."
    Das A und O bei der Protestbewegung ist der Appell: "Alle sozialen Kämpfe zusammenführen". Motto auch der ersten konkreten Aktion zum Schulterschluss zwischen der Stammzelle von Nuit Debout im Pariser Zentrum und ihren Mitstreitern aus Sozialbauvierteln am Stadtrand. 200 Personen machten sich auf den Weg zur senegalesischen Einwandererfamilie Dieng. Bei einem Polizeieinsatz hat sie ein Familienmitglied verloren. Lamine Dieng starb Mitte Juni - vor neun Jahren. Unter grauenvollen Umständen, wie auch ein Bericht der Menschenrechtsorganisation Amnesty International festhält. Danach hätten fünf Ordnungshüter Lamine Dieng mit einem Klammergriff niedergedrückt, weil er ihnen verdächtig und renitent erschien und dem 25-Jährigen eine halbe Stunde lang Körper und Gesicht auf den Boden gepresst – am Ende erstickte er.
    Seither kämpft die Familie Dieng um Gerechtigkeit. Bislang aber wurde keiner der Polizisten für Lamines Tod belangt, sagt dessen Schwester Ramata Dieng.
    "Der Fall liegt dem höchsten französischen Revisionsgericht vor, der letztmöglichen Instanz in Frankreich. Wenn auch der die von den Vor-Instanzen beschlossene Einstellung des Verfahrens bekräftigt, wenden wir uns an den Europäischen Gerichtshof."
    Lamine Dieng ist kein Einzelfall. Im vergangenen März sorgte der Bericht einer französischen Nichtregierungsorganisation für Schlagzeilen. Er schildert 89 Fälle von Personen, die im Laufe des letzten Jahrzehnts von Polizisten schwer verletzt wurden – 26 Opfer verstarben. Nur in sieben Fällen wurden die Beamten verurteilt. Laut den Berichtsautoren wie auch Amnesty International ist die Dunkelziffer hoch – bislang werden diese Taten nirgendwo systematisch erfasst. Der Bericht löste solchen Wirbel aus, dass die Generalinspektion der Polizei gerade ankündigte, sie plane eine Erhebung von Fällen polizeilicher Gewaltübergriffe.
    Denn übermäßige Polizeigewalt ist auch Thema bei den aktuellen Protesten gegen die geplante Arbeitsrechtsreform. Selbst Medienvertreter würden bei Demonstrationen zunehmend von Ordnungshütern verletzt, beklagte der Europäische Journalistenverband.
    Angesichts des harten Sicherheitskurses helfe nur Solidarität, sagt Nuit Debout-Aktivistin Faima.
    "Bei unserem Marsch bringen wir Menschen zur Familie Dieng, die bislang von deren Kampf um Gerechtigkeit nichts wussten. Der soziale Kampf tobt in Frankreich an den unterschiedlichsten Fronten, aber die wenigsten Aktivisten schaffen es, über ihren jeweiligen Tellerrand hinaus zu schauen. Der Protest gegen das geplante neue Arbeitsrecht hat uns alle zusammengeführt und eine neue Dynamik ausgelöst. Nun müssen wir es hinkriegen, dass wir alle am selben Strang ziehen."