Donnerstag, 28. März 2024

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Nuklearunfall vor zehn Jahren
Die vermeidbare Katastrophe von Fukushima

Ein Tsunami, ausgelöst von schwersten Erdbeben, wie sie statistisch gesehen nur alle 10.000 Jahre vorkommen: Mit dem, was am 11. März 2011 im japanischen Kernkraftwerk Fukushima passierte, konnte keine Aufsichtsbehörde ernsthaft rechnen. Und doch wäre der GAU zu verhindern gewesen.

Von Dagmar Röhrlich | 11.03.2021
    Rauchwolke über Fukushima Daiichi am 14. März 2011
    Das Atomkraftwerk Fukushima Daiichi drei Tage nach dem Tsunami (IMAGO / Photo12 / Ann Ronan)
    Freitag, der 11. März 2011. 14.46 Uhr und 23 Sekunden. 70 Kilometer vor der japanischen Küste riss die Erde auf. Ein Beben der Magnitude 9,1. Es löste einen Tsunami aus, der sich in manchen Buchten Japans hochhaushoch auftürmen sollte und der 15.000 Menschen tötete. Hunderttausende wurden obdachlos.
    Zwei Jahre nach der Katastrophe: Im März 2013 stehen Arbeiter im Kraftwerk Fukushima Daiichi 
    Die Lehren aus Fukushima
    Im Vergleich zu Tschernobyl 1986 ist der Unfall im AKW Fukushima glimpflich verlaufen – doch auch in Japan war die Wirkung auf Umwelt und Gesellschaft immens. Welche Lehren lassen sich ziehen?
    Mitsuko Kuroso erinnert sich mit Schrecken an den Moment, als sie gleichsam einen Berg auf sich zurollen sah: "Schwarz und riesig. Wir sind in den ersten Stock geflohen. Dann spülte das Wasser alle Möbel auf uns zu. Es war grauenhaft."

    Schäden am Atommeiler blieben zunächst unbeachtet

    Das Entsetzen war groß. So blieb – anders als im Rest der Welt – in der japanischen Öffentlichkeit eine zweite Katastrophe zunächst unbeachtet. Ein Atomkraftwerk im Erdbebengebiet gab Anlass zur Sorge. Der Reaktor in Fukushima nördlich von Tokio.

    41 Minuten nach dem Erdbeben dringen die Wassermassen in Fukushima Daiichi ein – dem ältesten, aber leistungsstärksten der japanischen Atomkraftwerke. Die Anlage ist nicht an das Tsunamiwarnsystem angeschlossen worden. Niemand ahnt, was kommen wird. Jeder ist mit den Schäden des Erdbebens beschäftigt. Auch Ayaka Hashimoto: "Ich habe die Kraftwerke die ganze Zeit für sicher gehalten, nicht im Traum habe ich Bedenken gehabt."
    Der Tsunami setzt die Blöcke eins bis vier, fünf Meter tief unter Wasser. Er zerstört Meerwasserpumpen. Die Kühlsysteme fallen aus. Er überschwemmt die Stromversorgung. Es gibt keine Notstromversorgung, keine Sicherheitssysteme, keine Kommunikationsmöglichkeiten.
    In Fukushima Daiichi versuchen die Arbeiter verzweifelt, die Reaktoren zu kühlen, öffnen Ventile per Hand, schließen Feuerlöschpumpen an, um Meerwasser einzuspeisen, holen die Batterien aus ihren Autos. Erst am Tag darauf wurden die Anwohner im Umkreis des AKWs per Lautsprecherdurchsagen zum Verlassen ihrer Häuser aufgefordert.
    Ein Finnwal vor der Insel Pico im Atlantik
    Erdbebenforschung - Die Vermessung des Meeresbodens mit Walgesängen
    Finnwalgesänge gehören zu den lautesten natürlichen Geräuschen in den Ozeanen und sind über große Entfernungen nachweisbar. Forschende haben mit Hilfe dieser Gesänge die Dichte des Meeresbodens im nordöstlichen Pazifik vermessen. Damit wollen sie den Ursprung von Erdbeben präziser lokalisieren.

    In den Blöcken 1 bis 3 laufen die Kernschmelzen. Block 4 ist wegen Revision abgeschaltet. Die heißen Brennelemente stehen im Abklingbecken. Ohne Kühlwassernachschub. Eine vierte Kernschmelze droht. Es kommt zu Explosionen in den Blöcken eins, drei und vier. Große Mengen an Radioaktivität werden freigesetzt.

    Trügerischer Glauben an einen Sicherheitsmythos

    Die Analyse der Vierfach-Havarie sollte ergeben, dass die Atomkatastrophe vermeidbar gewesen wäre. So hatten die Japaner noch nicht einmal die Sicherheitssysteme nachgerüstet, die seit der Havarie von Three-Mile-Island 1979 im US-Bundesstaat Pennsylvania in den meisten Ländern zum Standard gehörten. Sie hätten unter anderem die Explosionen verhindert. Und obwohl die Tsunamigefahr bekannt war, hatten Betreiber Tepco und die Atomaufsichtsbehörde NISA sie einfach ignoriert.
    Man sei sorglos gewesen – zu sorglos, resümierte 2011 Japans damaliger Wirtschaftsminister Banri Kaieda auf einer Konferenz der Internationalen Atomenergie-Organisation IAEO: "Wir haben solche schweren Ereignisse nicht in unsere Sicherheitsrichtlinien aufgenommen, weil wir in Japan an einen Sicherheitsmythos glauben. Wir waren davon überzeugt, dass unsere Nukleartechnik sicher ist. Auch unsere Experten haben an diesen Mythos geglaubt."
    Der Tsunami zerschlug diesen Mythos. 165.000 Menschen mussten evakuiert werden. Das verhinderte zwar, dass sie – anders als in Tschernobyl – akut an den gefährlichen Mengen freigesetzter Strahlung erkrankten oder starben. Doch mehr als 2.500 Menschen starben in den ersten zwei Jahren nach den Havarien an den Konsequenzen der Räumung, denn die psychischen und sozialen Folgen sind schwerwiegend. Das Leben, wie sie es kannten, war von einem Tag auf den anderen vorbei. Und anders als bei den Opfern des Tsunamis kommt zu dem Schock noch die Strahlung.
    Mieko Okubo hält ein Foto ihres Schwiegervaters Fumio Okubo in die Kamera - der 102jährige hatte im April 2011 angesichts einer Evakuierungs-Anordnung Suizid verübt.
    Forever Fukushima Takayuki Atsumi war drauf und dran, endlich Fischer zu werden, als der verheerende Tsunami seine Existenzgrundlage zerstörte. Heute hat Atsumi alles wiederaufgebaut, doch jetzt sollen 1,2 Millionen Tonnen des kontaminierten Wassers aus dem AKW Fukushima ins Meer geleitet werden.
    Yoshimoto Shigihara ist Vorsteher eines Dorfes nahe Fukushima: "Die Tsunami-Opfer haben nichts mehr. Ihre Häuser sind zertrümmert und weggespült worden. Es ist schrecklich, wenn wir die Tsunami-Gebiete so sehen. Aber wir wissen nicht, wie lange unser radioaktiver Tsunami dauert, von dem wir überschwemmt werden."
    Inzwischen sind weite Teile des ehemals evakuierten Gebiets wieder freigegeben worden. Die Regierung will, dass die Bewohner zurückkehren. Doch viele scheuen vor den Risiken zurück. Denn die langlebigen Radionuklide strahlen noch immer.