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Numerus clausus auf dem Prüfstand
Kippt das Zulassungsverfahren in der Humanmedizin?

Die Platzvergabe in Studiengängen mit bundesweitem Numerus clausus kommt an diesem Mittwoch vor dem Bundesverfassungsgericht auf den Prüfstand. Die Karlsruher Richter verhandeln über die Frage, ob das aktuelle Zulassungsverfahren für Humanmedizin mit der Verfassung vereinbar ist.

Von Armin Himmelrath | 03.10.2017
    Studierende der Georg-August-Universität in Göttingen sitzen in einem Hörsaal.
    Weil Medizinstudienplätze begehrt sind, brauchen Bewerber oft viel Geduld: Die Wartezeit für einen Studienplatz in der Humanmedizin liegt mittlerweile bei bis zu sechseinhalb Jahren. (dpa / picture alliance / Swen Pförtner)
    Tag der offenen Tür an der Universität in Witten/Herdecke im Ruhrgebiet. Diana Behr ist mir ihrem Vater extra aus Heidelberg gekommen "um mir hier mal anzuschauen, was die hier anbieten."

    Diana interessiert sich für einen ganz bestimmten Studiengang.
    "Ja. Humanmedizin."
    Aber warum ausgerechnet Witten?
    "Hier sind die Zugangsvoraussetzungen anders. Und auch der Studiengang selber hat ja einen speziellen, sagen wir, ein spezielles Curriculum."
    Der spezielle Ansatz, vor allem aber die Zugangsvoraussetzungen haben auch Clara Schuster bewogen, sich auf den Weg nach Witten zu machen.
    "Weil ich gerne Medizin studieren möchte. Und es auf einer normalen Uni nicht schaffe, wegen meinem NC. Wenn wir ganz ehrlich sind. Ja. Viele sagen, ich soll es eher noch mal überdenken."
    Der NC, der Numerus clausus, der Notendurchschnitt im Abiturzeugnis, der bei den Fächern Humanmedizin, Zahnmedizin und Tiermedizin darüber entscheidet, ob man für dieses Studium überhaupt zugelassen wird. Wer Humanmediziner werden möchte, braucht dafür ungefähr einen Schnitt von 1,0. Diese Grenze, das ist der Numerus clausus. Und über den verhandelt an diesem Mittwoch das Bundesverfassungsgericht.
    "Der Numerus clausus ist ja das Resultat einer Differenz zwischen Lehrangebot und Lehrnachfrage."
    Sagt Holger Burckhart, Vizepräsident der Hochschulrektorenkonferenz und Rektor der Universität Siegen.
    "Wenn die Lehrnachfrage das Lehrangebot deutlich übersteigt, muss entweder das Lehrangebot steigen – damit wäre der Staat in der Pflicht, die Hochschulen so auszustatten, dass sie das Lehrangebot entsprechend erhöhen können - oder die Lehrnachfrage muss am Zugang bereits reguliert werden."
    Einen Numerus clausus gibt es in Witten nicht
    Denn es ist klar: Wenn es in einem Medizinstudiengang 200 Plätze für Studienanfänger gibt, aber 1.000 Bewerber, dann muss die Universität auswählen, wen sie nehmen will – und wen nicht.
    "Das kann ich entweder machen, indem ich ein individuelles Gespräch führe, indem ich also Interviews führe mit den Interessierten; indem ich einen Eignungstest mache, Assessment-Verfahren einrichte. Oder dann, wenn es große Kohorten sind, die ich nicht mehr in Einzelgesprächen bedienen kann – hier kommt der Faktor Zeit hinzu: Abitur im Juni, Zulassung für den 1. Oktober – die ich also in diesen vier Monaten nicht mehr abarbeiten kann, brauche ich einen objektivierbaren Faktor. Und das ist dann in der Regel die Note des Abiturzeugnisses."
    Und so entsteht dann eben der Numerus clausus: Die 200 Bewerber mit den besten Abiturzeugnissen kommen rein, die anderen 800 nicht. Doch ist dieses Auswahlverfahren gerecht? Es sei unfair, denn es mache von vorneherein die freie Berufsauswahl unmöglich, argumentieren zwei abgelehnte Studienbewerber. De facto hätten sie nie eine Chance gehabt Medizin zu studieren. Sie hatten deshalb vor dem Verwaltungsgericht Gelsenkirchen geklagt – und das Gericht wiederum hat den Karlsruher Verfassungsrichtern diese beiden Verfahren zur Entscheidung vorgelegt. Darüber wird nun in dieser Woche in Karlsruhe verhandelt.
    Zu viele Bewerber für zu wenige Studienplätze, das kennt auch Martin Butzlaff. Er ist Präsident der privaten Universität in Witten/ Herdecke, die jedes Semester 42 Studienplätze in Medizin anbietet. Dafür bewerben sich regelmäßig bis zu 1.400 Interessenten. Sie alle müssen zunächst ein Motivationsschreiben und ihr Abiturzeugnis schicken, sagt Martin Butzlaff.
    "Und basierend auf der schriftlichen Bewerbung laden wir dann einen Teil derjenigen, die sich beworben haben, ein. Und die lernen wir dann intensiv kennen, wenn sie zu uns kommen nach Witten und hier im Gespräch mit uns für sich rausfinden, ob das das richtige Studium ist – und wir für sie rausfinden, ob wir ihnen einen Studienplatz geben können."

    Einen Numerus clausus gibt es in Witten nicht – eine Ausnahme unter den Medizinstudiengängen in Deutschland. Das bedeute aber nicht, dass das Schulzeugnis belanglos sei, sagt Martin Butzlaff. Viel wichtiger jedoch seien die persönlichen Auswahlgespräche.
    "Da geht es tatsächlich um eine überzeugende Darstellung, was hat man in der Schule gemacht und was hat man auch nicht gemacht und was hat man vielleicht neben der Schule alles fürs Leben gelernt. Und dann ist sehr viel wichtiger als das Abitur die Frage nach der Motivation. Warum möchte man Wirtschaft studieren? Warum möchte man Zahnärztin oder Zahnarzt werden? Und hat man schon eine Vorstellung von dem, was im Beruf dann auf einen zukommt?"
    Die Medizinstudenten Marie (l) und Helene führen in der Charité in Berlin bei der Übung "Simulierte Rettungsstelle" eine Notfallbehandlung an einem Dummy durch.
    Es gibt zu viele Bewerber für zu wenige Studienplätze. Im Bild führen zwei Medizinstudentinnen eine Übung an einem Dummy durch. (picture alliance / dpa / dpa-Zentralbild)
    Doch dieses Verfahren ist, wie gesagt, in Deutschland die große Ausnahme. Die allermeisten der bundesweit rund 9.200 Studienplätze in Humanmedizin sind eben doch mit einem Numerus clausus belegt. Nur 20 Prozent der Studienplätze gehen an Bewerber, die lange genug gewartet haben. Und das bedeutet im Moment: siebeneinhalb Jahre. Das ist länger, als ein reguläres Medizinstudium dauert. Wilhelm Achelpöhler, Rechtsanwalt in Münster, kämpft gegen diese Beschränkungen. Immer wieder klagt er im Auftrag von Studienbewerbern gegen die Ablehnungsbescheide der Universitäten.
    "Der Ansatzpunkt ist folgender: Das Bundesverfassungsgericht hat vor 40 Jahren gesagt, dass jeder Abiturient eine Chance auf einen Studienplatz haben muss. Das heißt, der Staat muss erstens das Verfahren so gestalten, dass jeder eine Zulassungschance hat und zweitens hat jeder Bewerber auch den Anspruch darauf, dass alle vorhandenen Ausbildungskapazitäten ausgeschöpft werden. Und bei Abiturnoten von 1,0 und Wartezeiten, die länger sind als das Medizinstudium selbst, kann man eigentlich nicht mehr davon sprechen, dass jeder eine Zulassungschance hat."
    Der Numerus clausus ist keine neue Erfindung
    Offiziell werden 60 Prozent der besonders begehrten Numerus clausus -Studienplätze von den Universitäten nach eigenen Kriterien vergeben – also zum Beispiel danach, ob ein Bewerber bestimmte Leistungskurse wie Biologie oder Chemie im Abitur hatte. Aber Wilhelm Achelpöhler traut diesen Angaben der Universitäten nicht.
    "Die Hochschulen behaupten zwar häufig, dass sie die Studenten selbst auswählen wollen. Aber die Arbeit des Auswählens wollen sie sich dann doch nicht machen. Deshalb gibt es entweder standardisierte Testverfahren. Oder die Hochschulen vergeben die Studienplätze schlicht nach der Note."
    Dabei ist der Numerus clausus keine neue Erfindung. Es gibt ihn bereits seit fast fünf Jahrzehnten. Und auch das Bundesverfassungsgericht hat sich schon einmal mit ihm beschäftigt – 1972, sagt UIf Bade, Geschäftsführer der Stiftung für Hochschulzulassung in Dortmund.
    "Der Auslöser waren massive Zulassungsbeschränkungen in vielen Fächern, nicht nur in der Medizin. Jede Hochschule hat nach ihren eigenen Regeln ein Verfahren ersonnen, es wurden keine Koordinierungen zwischen den Zulassungsangeboten vorgenommen mit der Folge, dass sehr viele Studienplätze frei blieben. Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem sogenannten 1. NC-Urteil festgestellt, dass der Staat die Verpflichtung hat, für einheitliche Entscheidungsmaßstäbe zu sorgen."
    Mit anderen Worten: Es sollte fair und vor allem bundesweit vergleichbar zugehen. Deshalb wurde damals, Anfang der 1970er-Jahre, die ZVS gegründet, die Zentralstelle für die Vergabe von Studienplätzen. Sie war der Vorläufer der heutigen Stiftung für Hochschulzulassung. Seit über 40 Jahren also gibt es den Kampf um die knappe Ressource Studienplatz. Gut für die Studienbewerber, wenn sie dabei so individuell wie an der Universität Witten/ Herdecke ausgewählt werden. Für die 42 Medizinplätze pro Semester lädt die Universität etwa 200 Kandidaten ein. Jeder Bewerber durchläuft dabei einen ganzen Bewerbungstag, berichtet Universitäts-Präsident Martin Butzlaff.
    "Da steht man dann mit seinen 17, 18, 19 Jahren und muss sich erstmals präsentieren in einem intensiven Gespräch, was 30 Minuten dauert, mit zwei unserer Professorinnen und Professoren und auch Studenten, die sind schon dabei in solchen Auswahlgesprächen. Dann begibt man sich in eine Gruppendiskussion, in der man eigene, kleine Vorträge einbringt und die zur Diskussion stellt und sich damit auch der Auseinandersetzung stellt, die damit verbunden ist."
    Aber damit noch nicht genug – auch praktische und ganz realitätsnahe Übungen haben sich die Wissenschaftler ausgedacht, um die Bewerber zu testen.
    "Man hat da beispielsweise einen Dialog mit einer gespielten 16-jährigen Patientin, die eine Schönheitsoperation anstrebt. Und wir schauen mal, wie jemand damit umgeht, dass da jetzt eine Jugendliche, die da vor einem sitzt, sich was vorgenommen hat, was unter ethischen Gesichtspunkten und auch unterrechtlichen durchaus heikel ist. Wir erwarten an keiner dieser Stellen die eine oder die absolut richtige Antwort. Sondern wir schauen, ob jemand lebendig in der Lage ist, sich so einer Frage zu nähern."
    Aus all dem setzt sich ein Bild zusammen, das am Ende als Entscheidungsgrundlage dient: Ja, es gibt einen Studienplatz. Oder auch: Nein, wir passen nicht zueinander. Ein aufwendiges Verfahren, das wochenlang fast alle Kapazitäten in der kleinen Universität bindet. Und das auch der Siegener Rektor Holger Burckhart richtig gut findet – gerade weil es der Abiturnote keine besonders prominente Rolle zuweist.
    "Wir haben ja in vielen Fächern, dass wir doch junge Menschen haben, die nicht nur durch die Abiturnote sich ausweisen, sondern durch besondere Talente, durch besondere Interessen, und wenn das dann noch zusammenkommt, durch besondere Leistungsfähigkeit jenseits der Abiturnote. Da haben wir ja nicht nur Einzelfälle: Da können wir ja auch immer wieder zeigen, dass es viele gibt, die mit einer relativ schlechten Abiturnote doch relativ erfolgreich studiert haben."
    Aber die Realität sieht eben anders aus, sagt Holger Burckhart. Der Andrang auf ein Medizinstudium ist zu groß. Und die Auswahl nach Abiturnote habe eben auch ihre Vorteile.
    "Es hat für viele auch einen prognostischen Charakter: Die Abiturnote sagt doch immer noch etwas aus zu potenziellem Studienerfolg. Also auch da gibt es neben dem pragmatischen einen positiven Aspekt, dass man sagen kann, die Abiturnote hat schon eine Aussagekraft. Und wenn die Besten studieren sollen, dann sollte es das auch sein."
    Für den Anwalt sind Klagen auf Studienplätze Teil des Geschäfts
    Die Besten? Wie, fragt Anwalt Wilhelm Achelpöhler, könne man von den Besten reden, wenn doch nur noch die absoluten Überflieger in der Schule überhaupt eine Chance auf ein Medizinstudium haben?
    "Mit 1,2 kommen Sie mit der Abiturbesten-Quote in der Regel nicht zum Zug. Dann haben Sie die Chance, unter Umständen im Auswahlverfahren der Hochschule zum Zug zu kommen. Kann aber auch sein, dass Sie auch da nicht zum Zuge kommen, mit dem Ergebnis, dass Ihnen dann entweder die Alternative offensteht, siebeneinhalb Jahre zu warten oder eben zu schauen, ob sie ins Ausland gehen und gegen entsprechende Studiengebühren dort ihr Studium beginnen. Oder ihren Studienplatz einzuklagen. Das sind die Möglichkeiten."
    Für Wilhelm Achelpöhler sind solche Klagen Teil seines Geschäfts. Für seine Mandanten, die Studienbewerber, sind sie oft die letzte Hoffnung darauf, überhaupt noch einen Studienplatz zu bekommen. Und das lassen sie sich durchaus etwas kosten.
    "Wenn es um ein Fach wie soziale Arbeit geht – das wird ja häufig an Fachhochschulen angeboten – da sind die Aussichten der Klage sehr gut. Da muss man meistens nur eine Fachhochschule verklagen und kann da einen Studienplatz bekommen. Das kostet dann ungefähr 1.000, 1.500 Euro, die Größenordnung. Auf der anderen Seite: Das andere Extrem wäre Humanmedizin. Da muss man zehn, zwölf Hochschulen verklagen und kann sich da nicht mal sicher sein, dass man einen Platz bekommt. Und das kostet dann durchaus 15.000 Euro."
    15.000 Euro für einen eigentlich kostenlosen Studienplatz an einer öffentlichen Universität? Auch diese Dimension schwingt mit, wenn die Verfassungsrichter sich mit der Zulassung zum Medizinstudium befassen. Den Universitäten ist diese schwierige Balance zwischen individueller Auswahl und Massenabfertigung durchaus als Problem bewusst, sagt der Siegener Rektor Holger Burckhart.
    "Konzeptionell würden wir uns wünschen, wir wären in der Lage, mindestens neben der Note einen sehr individuellen Medizinertest und nicht nur einen Massentest zu machen und da kommen wir eben zu den Modellen, dass wir sehr gerne individueller die Studierenden beraten und dann auch auswählen könnten."

    Denkbar wäre, dass die Verfassungsrichter ein stärker individualisiertes Auswahlverfahren fordern. Und wenn man nach Witten/Herdecke schaut, wo das ja bereits durchgeführt wird, wird klar: Ja, das wäre der richtige Weg. Ein anstrengender Weg, aber ein lohnender, sagt der Wittener Universitäts-Präsident Martin Butzlaff. Was in Witten bei 42 Studienplätzen pro Semester funktioniert, lässt sich allerdings nicht mal schnell und einfach so etwa auf die 870 Medizin-Studienplätze in München oder die über 400 Plätze in Düsseldorf übertragen, sagt Martin Butzlaff. Dafür müsste man die finanziellen und personellen Kapazitäten der Universitäten spürbar erhöhen.
    "Wir haben eine hohe Trefferquote in dem Sinne, dass die jungen Leute das Studium auch durchziehen. Und es ist uns noch wichtiger, dass sie nicht nur das Studium gut bewältigen – dafür ist auch die Abitursnote ein guter Vorhersagewert – sondern wir haben durch unser Auswahlverfahren auch eine hohe Vorhersagekraft, dass die jungen Leute den Beruf wirklich ergreifen wollen. Und das alleine löst die Abitursnote oft nicht."
    Ärzte operieren im Elisabethkrankenhaus in Iserlohn
    Ein bundesweiter Numerus Clausus gilt für die Fächer Medizin, Tiermedizin, Zahnmedizin und Pharmazie (dpa)
    Ein Aufwand, der sich aus Sicht von Martin Butzlaff lohnt. Doch es ist fraglich, ob die Länder bereits sind, ein deutlich aufwendigeres Auswahlverfahren zu finanzieren. Der Blick in die Geschichte des Zulassungsrechts zeigt jedenfalls, dass in den vergangenen 50 Jahren zwar immer wieder nachgesteuert wurde – aber eine individualisierte Auswahl war dabei nie das Ziel. Es ging vor allem um die Abfertigung immer größer werdender Bewerberzahlen. Damals wurden 60 Prozent der Medizinstudienplätze über die Abiturnote vergeben, 40 Prozent nach Wartezeit. Doch die Bewerberzahlen stiegen, und irgendwann kamen nur noch Abiturienten zum Zug, die eine 1,0 im Abiturzeugnis hatten. Ein zusätzlicher Medizinertest wurde eingeführt – und Ende der 1990er-Jahre wieder abgeschafft, weil die Länder die hohen Kosten dafür sparen wollten.
    "Im Gegensatz zu damals werden aber inzwischen 60 Prozent der Plätze auch in Medizin im sogenannten Hochschulauswahlverfahren vergeben. Das heißt, die Hochschulen können hier eigene Kriterien zur Anwendung bringen. Neben der Abiturdurchschnittsnote können dies für relevant erachtete Einzelnoten sein, eine abgeschlossene Berufsausbildung oder eine Berufstätigkeit, das Ergebnis eines Auswahlgesprächs oder auch Ergebnisse von Eignungstests."
    Den Karlsruher Richtern scheint das Thema wichtig zu sein
    Die Hochschulen nutzen das vor allem durch die Gewichtung bestimmter Fächer im Abiturzeugnis, manchmal auch durch Motivationsschreiben – und deutlich seltener auch durch Auswahlgespräche. Für mehr Aufwand gibt es bisher schlicht keine Kapazitäten. Doch immerhin, ein Anfang sei gemacht, sagt der Wittener Universitäts-Präsident Martin Butzlaff. In Sachen individueller Auswahl sieht er seine Universität als Trendsetter.
    "In diese Entscheidung die sozialen Fähigkeiten, die kommunikativen Fähigkeiten, die Auseinandersetzung mit dem Beruf, auch eine erstmals erkennbare Auseinandersetzung mit sich selbst einzubeziehen. Ich glaube, wir sind uns sehr einig, dass das Sinn macht."
    Auch der Siegener Universitäts-Chef Holger Burckhart setzt auf eine zumindest mittelfristige Änderung der Auswahlverfahren.
    "Ich hoffe das sehr. Und ich sehe zum Beispiel jetzt in den gegenwärtigen Koalitionsverhandlungen im Bund eine große Chance, dass wir uns zumindest optimaleren Zuständen annähern könnten."
    Burckharts Argument: Wer im Auswahlverfahren individueller berät, reduziert die Zahl der Studienabbrecher. Und das ist bei einem Medizinstudium, dessen Kosten für den Staat auf rund 250.000 Euro geschätzt werden, auch ein starkes ökonomisches Argument. Doch all das wäre letztlich nur ein Herumdoktern an einem ganz grundlegenden Problem, sagt Anwalt Wilhelm Achelpöhler: Es gibt in Deutschland einfach viel zu wenig Medizinstudienplätze.
    "Seit 1990 ist die Zahl der Medizinstudienplätze um mehrere 1.000 gesunken. Und der deutsche Staat hat sich entschlossen, statt selbst Mediziner auszubilden, sie aus dem Ausland zu importieren. Per Saldo sind im letzten Jahr über 3.000 Ärzte nach Deutschland eingewandert, aus Rumänien, Bulgarien, Syrien und so weiter. Und damit hat der Staat viel Geld gespart. Und die wichtigste Aufgabe wäre aus meiner Sicht, dass die Zahl der Studienplätze erhöht wird – und das könnte man in manchen Punkten sogar regeln, ohne dass man viel Geld in die Hand nehmen muss."
    Denn viele Wissenschaftler-Stellen an den Universitäten sind befristet – und damit sinkt, rein rechnerisch, die Anzahl der Studienplätze, die zur Verfügung stehen. Würde man zusätzlich noch die Lehrverpflichtung der Medizinprofessoren bundesweit einheitlich auf neun Stunden pro Woche setzen, stünden rund 1.000 zusätzliche Studienplätze für angehende Ärztinnen und Ärzte zur Verfügung, rechnet Wilhelm Achelpöhler vor.
    Natürlich kann das Bundesverfassungsgericht eine solche Erhöhung nicht einfach verordnen. Aber es kann dem Staat und damit der Wissenschaftspolitik schon eindringlich nahe legen, diesen Weg zu gehen. Auf ein solches Signal zur Stärkung der Medizinerausbildung in Deutschland hoffen alle Beteiligten: die staatlichen Universitäten und die privaten, die klagenden Juristen und natürlich die Studieninteressenten. Und dieses Signal könnte auch schon ziemlich schnell kommen: Weil der beim Bundesverfassungsgericht zuständige Berichterstatter Ende des Jahres in Pension geht, rechnen Beobachter mit einem Urteil noch vor der Weihnachtspause.
    Den Karlsruher Richtern jedenfalls scheint das Thema wichtig zu sein. Anwalt Wilhelm Achelpöhler beschreibt die Fragen, die erst in der mündlichen Verhandlung und dann in der Abwägung der Richter eine Rolle spielen. Und zeigt sich dann doch skeptisch: Völlig abgeschafft werde der Numerus clausus wohl nicht.
    "Es wird darum gehen: Geht es gerecht zu? Und muss es der Gesetzgeber nicht anders regeln? Also, ist es gerechtfertigt, dass die Abiturnote eine so hohe Bedeutung hat? Ist es gerechtfertigt, dass Bewerber sich nur auf eine bestimmte Zahl von Hochschulen bewerben können? Ist es gerechtfertigt, dass auch im Auswahlverfahren der Hochschule die Abiturnote maßgebliche Bedeutung hat? Ist es berechtigt, die Wartezeitquote auf nur 20 Prozent abzusenken? All das werden Fragen sein, um die es bei der Verhandlung geht – also darum, ob der Mangel gerechter verteilt werden kann. Um den Mangel selbst wird’s wohl nicht gehen."
    Doch egal, wie das Verfahren letztlich ausgeht – es wird auf jeden Fall wieder über die Zulassung zum Studium und über einen gerechten Hochschulzugang diskutiert. Und das allein ist schon ein guter Effekt, den das Bundesverfassungsgericht mit dieser Verhandlung ausgelöst hat.