Dienstag, 30. April 2024

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Nur eine "Fassade von Demokratie" in Tschetschenien

Sylvie Reichel: Als vergangene Woche zwei Flugzeuge in Russland fast zeitgleich abstürzten, lag sofort der Verdacht nahe, es könnte sich um Terroranschläge tschetschenischer Kämpfer handeln. Die bisherigen Erkenntnisse scheinen dies zu bestätigen. Aber jetzt heißt es erst einmal abwarten, denn direkt vor der Präsidentenwahl in Tschetschenien - und viele Experten setzten dieses Wort "Wahl" auch gerne in Anführungsstriche - so kurz vor diesem Ereignis mischen sich unter die Analysen mehr denn je Emotionen und Interessen der russischen Führung und der tschetschenischen Rebellen. Heute nun soll Innenminister Alu Alchanow zum Präsidenten in Tschetschenien bestimmt werden, kaum ein Jahr nachdem Achmad Kadyrow die Macht übernahm. Er starb im Mai bei einem Anschlag. Herr Prof. Heinrich Vogel, Sie haben lange das Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und internationale Studien geleitet und gelten als einer der Russland Kenner in Deutschland. Wie bezeichnen Sie das, was heute in Tschetschenien passiert?

Moderation: Sylvie Reichel | 29.08.2004
    Heinrich Vogel: Das ist eine dieser symbolischen Handlungen, mit denen demokratische Normalität vorgespielt werden soll und die außerdem natürlich zur Beruhigung eines unheilbaren Konfliktes beitragen soll. Aber von wirklichen Wahlen wird man nicht reden können. Moskau überlässt, wenn es um einen solchen Vorgang geht, nichts dem Zufall und es gibt ziemlich glaubwürdige Berichte, dass eine Reihe von Wahlleitern bereits dieses Ergebnis vorgegeben bekommen haben. Die Wahlbeteiligung soll zwischen 62 und 67 Prozent liegen. Dies ist zwar ein Umfrageergebnis, aber niemand kennt diejenigen, die die Umfrage tatsächlich gemacht haben. All dies spricht dafür, dass wir es hier mit einer potemkinschen Fassade von Demokratie zu tun haben.

    Reichel: Alu Alchanow wird also der wahrscheinliche Sieger sein. Was ist das eigentlich für ein Mensch, für ein Politiker?

    Vogel: Das ist kein Politiker, das ist ein - wenn man so will - Karrierepolizist, der als Fahrer des Innenministeriums in Tschetschenien begonnen hat und dann als Protege des ermordeten ehemaligen Präsidenten Kadyrow zum Innenminister aufgerückt ist und heute Verantwortung für das Chaos dort längst trägt. Niemand kennt ihn persönlich. Er ist sicher niemand, den die Bevölkerung akzeptiert. Ganz im Gegensatz zu einem seiner Konkurrenten, Saidullajew, jemand der großes Ansehen in Tschetschenien genießt, ein Geschäftsmann, der in Moskau lebt und sich stets um seine Heimat gekümmert hat, selbst Geld reingesteckt hat und den Armen geholfen hat. Ein solcher Kandidat wird rechtzeitig aus dem Rennen geworfen, indem man ihm vorwirft, sein Pass sei nicht ganz in Ordnung. Das ist das Vorfeld von Wahlen in Russland, so wie wir es auch früher erlebt haben.

    Reichel: Das ist im Prinzip ja nichts neues. Ändert sich denn irgend etwas mit der Wahl von Alu Alchanow?

    Vogel: Ja, das ist die Frage. Es ist natürlich ein hohes Maß an Müdigkeit, an Resignation bei der tschetschenische Bevölkerung festzustellen. Der Widerstand, der sich da regt, der auf der einen Seite auch von Islamisten angetrieben wird, der aber natürliche auch einen politischen Kern hat in dem ehemaligen tschetschenische Präsidenten Maschadow, der von Moskau seines Amtes enthoben worden war und der im Untergrund und vom Ausland aus versucht, die Dinge noch zu beeinflussen. Niemand ist daran interessiert, niemand in den authentischen Kräften, dass dieser Konflikt weiter geht. Insofern hat jeder, wenn man so will, eine Chance, wenn er denn die Glaubwürdigkeit des Staates wiederherstellt. Das ist in Tschetschenien, weiß Gott, eine Aufgabe. Wenn er daran ginge, Gewalttaten des Militärs und der Polizei als Verbrechen konsequent verfolgen zu lassen, wenn er daran ginge, und wenn er sich dafür einsetzte, dass die internationale Gemeinschaft mit Vertretern dort solche Reformen tatsächlich beobachtet und kontrolliert, wenn er sich dafür einsetzen würde, dass tatsächlich das Geld, dass in Moskau für Tschetschenien bewilligt wird, für den Wiederaufbau, auch dort ankommt, wohlgemerkt natürlich nicht ohne Unterstützung des Kremls, dann hätte auch Alchanow seine Chance. Etwas anderes wird nicht möglich sein.

    Reichel: Welche Unterstützung, welche Vermittlung ist denn auch durch das Ausland nötig an diesem Konflikt?

    Vogel: Direkten Einfluss auf russische Innenpolitik hat niemand. Der Vorschlag der Internationalisierung, der internationalen Kontrolle für solche Maßnahmen in Tschetschenien, der ja auch vom Europäischen Parlament zum Beispiel gebracht wurde, ist in Moskau mit großer Erbitterung und heftiger Ablehnung beantwortet worden. Nein, Moskau wünscht keine internationale Beteiligung und trotzdem wird man Putin und die von ihm ernannten Verantwortlichen mit dieser ihrer Verantwortung immer wieder öffentlich konfrontieren müssen. Das ist die Aufgabe der internationalen Politik. Mehr kann sie nicht tun. Aber die Reaktion des Kremls zeigt, dass es spürbare politische Effekte hat. Auch in der russischen Öffentlichkeit.

    Reichel: Ist es auch die Aufgabe von Bundeskanzler Gerhard Schröder, der sich ja am Montag mit Putin trifft?

    Vogel: Bundeskanzler Schröder, ebenso wie Herr Chirac, ebenso wie alle diejenigen, die sich im Rahmen von G8 in feierlichen großen internationalen Ereignissen vor laufender Kamera mit Putin treffen und schmücken. Alle sind aufgerufen, auf diese unhaltbaren Zustände hinzuweisen und Putin darauf aufmerksam zu machen, dass er alleine, aus eigener Kraft die Sicherheitslage nicht nur in Tschetschenien, sondern in ganz Russland, nicht in der Griff bekommt.

    Reichel: Russland nennt die Rebellen in Tschetschenien gerne in einem Atemzug mit El Kaida. Wie gefährlich sind denn die islamistischen Gruppierungen in Tschetschenien? Sie haben ja erst schon diesen Unterschied gemacht zwischen den islamistischen Gruppen und denen, die sich trotzdem gegen Moskau stellen, ohne dass sie jetzt islamistischen Gruppierungen angehören?

    Vogel: Je länger Moskau versucht, die Sicherheitslage in Tschetschenien mit brutaler Gewalt mit Staatsterror herzustellen und zu gewährleisten, desto aktiver und mit um so mehr Unterstützung werden wir dort Islamisten auch mit Unterstützung aus dem Ausland erleben. Dieser Einfluss der Islamisten in Tschetschenien ist das Ergebnis russischer Politik in Tschetschenien und der Gewalt, die dort ungehindert vor sich geht.

    Reichel: Das heißt, die russische Bevölkerung muss sich auf weitere Terrorakte einstellen?

    Vogel: So ist es. Und Moskaus Bürokratie, Moskaus Militär, Moskaus Polizei und auch Sicherheitskräfte generell sind nicht immun gegen die allgegenwärtige Korruption. Niemand kann garantieren, dass nicht an einer anderen Stelle ähnliches passiert, wie mit den beiden Flugzeugen.