Donnerstag, 25. April 2024

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Ein Kanon moderner Autorinnen
Nur Frauen! Die Literatur der Moderne neu gedacht

Welche Folgen hat es, wenn man den klassischen Kanon auf den Kopf stellt und ausschließlich Frauen aufnimmt? Sandra Kegel hat eine ebenso fesselnde wie überraschende Anthologie herausgegeben, die viele Entdeckungen erlaubt.

Von Maike Albath | 01.01.2023
Sandra Kegel (Hrsg.): „Prosaische Passionen"
Die Edition „Prosaische Passionen" belegt die ästhetischen und gesellschaftlichen Verdienste von Frauen in der Literaturgeschichte der Moderne (Buchcover: Manesse Verlag)
Was passiert wohl, wenn eine Frau den Mund aufmacht und unverblümt sagt, wie ihr zumute ist? Viel zu wenig Raum scheint es zu geben für die Wörter und Sätze von Frauen, viel zu selten gelten Kurzgeschichten von Schriftstellerinnen als Teil dessen, was wir als den Kanon des frühen 20. Jahrhunderts betrachten. Dabei haben schreibende Frauen viel zu bieten, und das auf die unterschiedlichste Weise. Zum Beispiel diese hier:
„Rühr mich nicht an! Mir ist heiß. Halt dich fern von mir. Aber bleib nicht auf der Türschwelle stehen. Du unterbindest, du stiehlst mir den schwachen Luftzug, der vom Fenster zur Tür flattert, wie ein unbeholfener, gefangener Vogel."
Mit diesem Klageruf beginnt die französische Schriftstellerin Colette ihre Erzählung „Mir ist heiß“, die gerade einmal drei Seiten umfasst. In einem atemberaubenden Stakkato vermittelt sie die Empfindungen einer Frau bei quälender Sommerhitze. Ob es sich nur um ein klimatisches Phänomen handelt oder auch den inneren Zustand der Dame kennzeichnet, verschwimmt nach und nach.
„Beug dich zu mir, kühle meine Nasenflügel mit deinem Atem und presse das saure Blut der Johannisbeere, auf die du beißt, gegen meine Zähne. Ich murmle kaum noch, und du wirst niemals sagen können, ob ich es aus Wohlgefallen tat.“

Farbenprächtige Erzählungen von Colette und Zelda Fitzgerald

Der Periodenbau vibriert förmlich vor Sinnlichkeit, und Colette, die in Deutschland häufig als Unterhaltungsschriftstellerin abgetan wird, zeigt sich hier als glänzende Stilistin. Ähnlich lasziv nimmt sich auch die Atmosphäre in einer Short Story von Zelda Fitzgerald aus, eine zweite prominentere unter den über hundert Schriftstellerinnen in Sandra Kegels Anthologie „Prosaische Passionen“. Den Auftakt bildet eine Landschaftsbeschreibung:
„Stoisch erstreckt sich der Süden meilenweit um Jeffersonville, lange Lehmstraßen ziehen sich über sanfte, von vereinzelten Kiefern bewachsene Hügel, vorbei an endlosen Baumwollfeldern und einsamen Häuschen auf sandigem Grund, und in der Ferne lassen sich bläuliche Berge erahnen.“
Der Rhythmus ist gemächlich, das Auge schweift in die Weite, und sofort stellt sich eine gewisse Langsamkeit ein. „Ein Südstaatenmärchen“, so der Titel der Geschichte, erzählt von den genussfreudigen Einwohnern des Südens und ihren Gewohnheiten, von langen, heißen Nachmittagen und noch längeren Abenden, an denen ewig gegessen und getanzt, Verlobungen geschlossen und wieder gelöst werden. Und auf den Veranden klirren die Gläser.
„Telefone klingeln, die spitzenbesetzte Schwärze der Baumschatten spuckt junge Mädchen in Weiß und Rosa aus, die über letzte Flecken aus Licht dem Klirren mit einer Vorfreude entgegen eilen, wie man sie nur an Orten kennt, wo nichts passiert als das Angenehme.“
Sogar der Schatten wirkt wie ein menschliches Wesen, das angesteckt ist von der allseits wabernden Libido. Zelda Fitzgerald, die man vor allem als glamouröse Ehefrau von Francis Scott Fitzgerald kennt und zu ihren Lebzeiten nie als eigenständige Autorin würdigte, gelingt eine hinreißende Porträtstudie. Ihre Heldin heißt Harriet, besitzt ein lautes, wieherndes Lachen und ein fürsorgliches Wesen. Sie wohnt mit ihrer gebrechlichen Mutter zusammen, arbeitet als Lehrerin und betreibt in ihrem weitläufigen Holzhaus nebenbei eine Pension, weil sie sonst nicht über die Runden käme. Ihr Wohnzimmer ist jedes Wochenende Schauplatz lärmender Zusammenkünfte. Dort trifft eines Tages der Rekrut Dan aus Ohio ein und überlässt ihr seine Verlobte Louise, da ihm Harriets Pension eine angemessenere Unterkunft zu sein scheint als die von Soldaten überschwemmten Hotels. Die drei werden Freunde.
„Während der Wochen, die Louise in den weinumrankten, schwülwarmen Tiefen des Südens verbrachte, lungerte Dan ständig in der Pension herum. Er hing über die Holzgeländer gebeugt wie eine schlaksige Gummipuppe, oder er wartete grinsend an der Treppe, bis die Mädchen aus einer Puderwolke traten; das Quieken und Türenschlagen begann, sobald sie ihn unten im Flur gehört hatten. Er kam jeden Abend in der Glühwürmchenstille vor dem Essen, und er blieb, bis die Straßenbahn ihre letzte Fuhre Sommerlicht durch dämmrige Straßen bis hinaus ins Camp karrte.“

Ein Dasein im Schatten berühmter Ehemänner

Nach drei Wochen voller vertrödelter Nachmittage trennt sich Dan von Louise und tut sich stattdessen mit Harriet zusammen. Aber das ist noch längst nicht das Ende der Geschichte, die Zelda Fitzgerald mit ihrer anschaulichen Erzählweise farbenprächtig vor uns ausbreitet. Das Phänomen der schwankenden erotischen Anziehung war der Autorin nur allzu vertraut: 1900 als Tochter einer einflussreichen Südstaatenfamilie geboren, hatte sie eine Ballettausbildung absolviert und mit achtzehn Francis Scott Fitzgerald kennengelernt. Seinen Heiratsantrag schlug sie erst einmal in den Wind. Doch als Scott Fitzgerald mit seinem Debüt „This Side of Paradise“ ein literarischer Coup gelang und er über Nacht berühmt wurde, änderte sie ihre Meinung. Das Paar ging 1920 nach Frankreich, bekam eine Tochter, kehrte nach New York zurück und verkörperte bald alles, was im Jazz Age zählte: Coolness, Schönheit, Ruhm und Erfolg.
Allerdings war das nur die polierte Oberfläche. Zelda Fitzgerald verzichtete aus Rücksicht auf ihre Familie auf ein Engagement als Primaballerina an der Oper Neapel. Alkohol, Gewalt und Affären zerrütteten die Ehe. Zeldas erste Kurzgeschichte erschien unter dem Namen ihres Mannes, weil das mehr Geld einbrachte, und bei späteren Veröffentlichungen tauchte sie höchstens als Co-Autorin auf. Schließlich wurde bei ihr Schizophrenie diagnostiziert, was zu quälenden Behandlungen in Nervenkliniken führte. Ihr Mann verweigerte sich dem Wunsch nach Scheidung und größerer Autonomie. Von dem berauschenden Südstaatenleben, wie Zelda es in ihrer Short Story über Harriet zelebriert, war nicht mehr viel übrig. Eine ganz andere Stimmung breitet sich in einer Erzählung der Anthologie „Prosaische Passionen“ aus, die aus Ghana stammt. Hier gibt sich der Omahene, der oberste Regent der ghanaischen Akan die Ehre.
„Die Trommeln dröhnen. Die Frauen beginnen den festlichen Adowa-Tanz aufzuführen. Verzierte Kalebassen sorgen für den Rhythmus. Die Frauen laufen ein paar Schritte vor, bewegen sich dann langsam zur Seite und wiegen ihre Schultern. Eine Tänzerin vor allem sieht in ihrem grün-blau-roten Umhang bezaubernd aus, wie sie sich mit der verführerischen, ungekünstelten Grazie eines wilden Urwaldgeschöpfs bewegt. Der Omahene ist hingerissen und wirft eine Handvoll Münzen unter die Tänzerinnen. Sie lächelt, als die Geldstücke erst auf sie, dann klingend zu Boden fallen. Ein Gedränge entsteht. Sie aber tanzt ungerührt weiter.“

Mabel Dove Danquahs Appell an afrikanische Frauen

Am Ende ist der Omahene derartig verzückt, dass er die junge Frau heiraten will, und zwar auf der Stelle. Er habe doch bereits vierzig Frauen, wendet sein Berater ein, außerdem könne die Tänzerin längst verheiratet sein. Unwichtig, findet der Omahene, und hält an seinem Plan fest: Er lässt die Familie seiner Auserwählten zum Palast zitieren, bezahlt 50 Pfund und zieht sich mit der neuen Gemahlin in seine Gemächer zurück.
„‘Du bist ein wundervolles Mädchen, Effua.‘ Er streichelte ihr glänzendes, kunstvoll geflochtenes Haar. ‚Aber, mein Gebieter, ich habe doch immer so ausgesehen, nicht wahr?‘ ‚Das nehme ich an, Schönste, aber ich hab dich erst heute gesehen.‘ ‚Du hast mich erst heute gesehen?‘ ‚Ja, heute.‘ ‚Hast du es denn vergessen?‘ ‚Vergessen – was, meine Liebe?‘ ‚Dass du fünfzig Pfund bezahlt… und mich vor zwei Jahren geheiratet hast.‘“
Mit diesem Triumpf der jungen Frau endet die Erzählung. Sie dreht dem nachlässigen, sexversessenen Oberhaupt, das sich nicht einmal die Namen seiner vierzig Gattinnen merken kann, geschweige denn deren Gesichter, eine lange Nase und verhilft ihren Eltern zu weiterem Einkommen. Die Verfasserin dieser Geschichte heißt Mabel Dove Danquah. Sie dürfte vielen durchschnittlich gebildeten Leserinnen weniger geläufig sein als Zelda Fitzgerald oder Colette. Wie man aus dem biographischen Abriss ganz am Ende des Bandes erfährt, wurde Mabel Dove Danquah 1905 in Accra an der ghanaischen Goldküste geboren und pendelte während ihrer Schulzeit zwischen Afrika und Europa hin und her. Zurückgekehrt nach Accra, fand sie zuerst eine Anstellung als Stenotypistin in einer Handelsfirma, machte Karriere und begann, nebenher für die West African Times zu schreiben. Mit Mitte zwanzig legte sie ihren ersten Erzählungsband vor. Ihre Kolumnen und Artikel waren immer auch Appelle an die Ghanaerinnen, einen größeren Stolz auf die eigene Kultur zu entwickeln. Mabel Dove Danquahs Werdegang ist äußerst eindrucksvoll. Die produktive Schriftstellerin gab später nicht nur eine Tageszeitung heraus, sondern wurde noch vor der Unabhängigkeit Ghanas ins Parlament gewählt. Damit war sie die erste weibliche Abgeordnete des gesamten Kontinents.

Etablierte Autorinnen neben hierzulande Unbekannten

Dass man einer Figur wie Mable Dove Danquah begegnet, zählt zu den enormen Verdiensten dieser glänzend gestalteten Anthologie. Über neunhundert Seiten umfasst der dickleibige Band mit dem einprägsamen Titel „Prosaische Passionen“. Immer wieder verfällt man einer unbekannten Stimme oder entdeckt eine ungewöhnliche Facette vertrauterer Schriftstellerinnen. Unter den Autorinnen sind einerseits ikonische Repräsentantinnen des Genres der Kurzgeschichte: Edith Wharton, Dorothy Parker, Tania Blixen, Natalia Ginzburg, Katherine Mansfield, Marie Luise Kaschnitz, Ilse Aichinger, Simone de Beauvoir und Grazia Deledda.
Andererseits trifft man auch auf etliche Namen, die in unserem Kulturkreis weniger bekannt sind: Neben der bereits genannten Ghanaerin Mabel Dove Danquah tauchen die Japanerinnen Yosano Akiko und Higuchi Ichiyō und die Koreanerin Kim Myeong-Sun auf. Repräsentantinnen der für die Emanzipation der schwarzen Amerikaner zentralen Bewegung Harlem Renaissance sind dabei, von Nella Larsen, Dorothy West, Gwendolyn Brooks bis zu Caroline Bond und Odette Bonner. Mit Marie Vieux-Chauvet kann man eine Autorin aus Haiti entdecken, die das Schicksal eines blinden Jungen schildert, der im Urwald verloren geht. Es gibt faszinierende Autorinnen aus der arabischen Welt, die lange vor ihren westlichen Kolleginnen für ihre Rechte kämpften und mit ihren Erzählungen unterdrückerische Verhältnisse anprangerten. Dasselbe gilt für ihre japanischen Kolleginnen. Auch Indien und Bangladesch sind vertreten. In einer besonders fesselnden Geschichte aus dem Iran eilt eine Hebamme in Begleitung ihrer Schwester einer Gebärenden zu Hilfe. Die Leute sind arm und leben in einer bescheidenen Lehmhütte.  
„Akram schwitzte. Sie gab der Gebärenden eine Spritze. Dann legte sie ihr die Hand auf den Bauch und drückte mit einer kreisenden Bewegung. Unter ihrer Hand erzitterte der Bauch der Frau. Akram saß fast zwischen ihren gespreizten Beinen. Sie hatte einen weißen Kittel an. Mahin hatte nicht mitbekommen, wann sie den Kittel angezogen hatte. Mahins Aufgabe war es, die Lampe zu halten. Eine kleine blutverschmierte Hand ragte aus der haarigen Tiefe hervor. Aus der Öffnung floss Blut. Mahin bekam es mit der Angst zu tun. Die Frauen flüsterten miteinander.“
Es gelingt der Hebamme Akram, das Kind zu drehen und es entgegen aller Vorhersagen zur Welt zu bringen und sowohl sein Leben als auch das der Gebärenden zu retten. Allerdings wird sie um ihren gerechten Lohn geprellt – mehr noch, durch eine List lockt der Vater des Neugeborenen Akram aus dem Haus und entwendet ihr nicht nur ihre Tasche, sondern auch ihren Passierschein. Die beiden Schwestern geraten in eine Militärkontrolle und werden auf die Polizeistation gebracht, wo sie sich nur mühsam verteidigen können. Simin Daneshwar heißt die Verfasserin dieser 1961 erschienenen Erzählung, und sie ist die erste Prosaautorin der persischen Literatur überhaupt. Ausgebildet an der Universität Stanford, unterrichtete sie an der Hochschule der Künste in Teheran und wurde 1968 als erste Frau zur Vorsitzenden des iranischen Schriftstellerverbandes gewählt. Wie Mabel Dove Danquah war Simin Daneshwar eine Pionierin, und das gilt für die Mehrzahl der hier vertretenen Frauen.

Vorreiterinnen im Kampf um Emanzipation

Man reist mit Sandra Kegels „Prosaischen Passionen“ also rund um den Globus und wechselt zwischen Lebenswelten in Finnland, Schweden, Japan, Indien, der Türkei, Russland, Nordamerika, Chile, Argentinien, Ghana und Deutschland oder Italien. Über fünfzig Länder sind vertreten. Obwohl die Zwänge, denen die Figuren dieser Geschichten ausgesetzt sind, sich von Land zu Land unterscheiden, gibt es zahlreiche thematische Überschneidungen. So werden kleine Mädchen zum Opfer sexueller Übergriffe, camoufliert von bourgeoiser Jovialität, was in den Pariser Salons von Nathalie Sarraute ebenso vorkommt wie in den Zimmerfluchten von Alfonsina Storni in Buenos Aires. Und ob in Japan oder den USA, immer wieder geht es um romantische Phantasien von Frauen, die in einer eher lieblosen oder langweiligen Ehe gefangen sind.
Auch die Eitelkeit der Männer, die in der Erzählung aus Ghana für die Pointe sorgt, ist ein mehrfach variiertes Motiv, ebenso Trennung und Scheidung, die meistens handfeste wirtschaftliche Nöte zur Folge haben. Das Gefühl des Neids spielt in der Kurzgeschichte „Hauch der Jugend“ der Syrerin Ulfat Idilbi eine Rolle. Dort schaut eine missgünstige Großmutter ihrer Enkelin zu, wie sie sich für die Universität zurechtmacht: Sie schminkt ihr Gesicht, frisiert sich und geht mit wallendem Haar aus dem Haus. Undenkbar in der Jugend der Großmutter. Plötzlich überfällt die alte Frau eine lang verdrängte Erinnerung aus Damaskus: Unter einem schwarzen undurchdringlichen Niqab verborgen, war sie mit ihrer Mutter in einen Schuhladen gegangen. Und dort geschah Ungeheuerliches: Der Sohn des Besitzers strich beim Anprobieren schwarzer Lackschuhe über ihr Bein.
„Sie kann ihn in Gänze sehen. Ein rundes braun gebranntes Gesicht, schwarze dichte Augenbrauen, Augen, die so funkeln, als könnten sie ihren Gesichtsschleier zerreißen und in ihren Augen verweilen. Unfähig, den Blick von ihm zu wenden, murmelt sie die Phrase, die sie von Kind auf jedem sagte, der ihr geholfen hat: ‚Möge er seiner Mutter lange erhalten bleiben!‘ Als sie den Laden mit den neuen Schuhen unterm Arm verlässt, folgt er ihr mit Blicken, die sie fast verbrennen. In stolzer aufrechter Haltung läuft sie neben der Mutter. Bis dahin hatte sie nicht gewusst, dass sie von einer Schönheit war, die den Betrachter Gott, den Schöpfer, preisen ließ.“
Die damals Vierzehnjährige verliebt sich binnen Sekunden in den verführerischen Schuhverkäufer, hält sofort Ausschau nach ähnlichen Jungen mit blitzenden schwarzen Augen und lüpft sogar vorwitzig ihren Schleier, was unglücklicherweise ein alter hässlicher Mann bemerkt. Er beginnt zu zetern, sie solle sich schämen. Ausgerechnet dieser unansehnliche Herr hält kurze Zeit später bei ihrem Vater um ihre Hand an. Ihr ganzes Leben verdirbt er ihr! Bei einer Erzählung wie dieser geht es nicht um billigen Exotismus, sondern darum, einen Einblick in eine fremde Lebenswirklichkeit zu vermitteln. Dass Frauen entgegen ihrem Willen verheiratet werden, ist Gegenstand mehrerer Kurzgeschichten.
Ulfat Idilbi kannte diese Zwangslage aus eigener Anschauung: 1912 in Damaskus geboren, erhielt sie eine für damalige Verhältnisse ungewöhnlich fundierte Bildung. Ihre einflussreiche Familie ermöglichte ihr sogar den Universitätsbesuch, arrangierte dann aber eine Eheschließung, weshalb Idilbi ihr Studium abbrechen musste. Ab 1932 unterhielt sie einen Salon, der zu einem kulturellen Umschlagplatz der gesamten arabischen Welt wurde. Die Lage der Frauen beschäftigte sie auch literarisch immer wieder. Die Pointe der in diesem Band enthaltenen Erzählung ist dann, dass sich die neidische Großmutter aus Protest gegen ihren ewig währenden Verzicht auf die Schminkutensilien ihrer Enkelin stürzt. Im Eifer des Gefechts verwechselt sie Nagellack mit Rouge, und als sie ihr Gesicht im Spiegel erblickt, stolpert sie vor Schreck über eine Marmorstatue und fällt in Ohnmacht. Die Enkelin wundert sich später ihre merkwürdige Aufmachung. Ulfat Idilbi, die auch auf internationaler Ebene hoch angesehen war, habe in ihren Romanen immer wieder das Spannungsverhältnis zwischen orientalisch-arabischer Tradition und westlicher Moderne ausgeleuchtet, erfährt man aus der biographischen Skizze im Schlussteil der Anthologie.

Lebensromane in Miniaturform

Die von der Herausgeberin Sandra Kegel verfassten „Autorinnenviten“ sind ebenso informativ wie bewegend: Sie stellen nicht nur den Werdegang dar und nennen die wichtigsten Werke der jeweiligen Schriftstellerin, sondern sie unterstreichen auch ein zentrales Moment von deren Existenz. Es sind regelrechte Lebensromane in Miniaturform. Nicht nur Zelda Fitzgerald stand im Schatten ihres berühmten Mannes. Auch Colette, deren doppelt so alter Ehemann Henry Gauthier-Villars ihre Begabung als einträgliche Geldquelle entdeckte, veröffentlichte die Claudine-Roman-Reihe unter dem Pseudonym „Monsieur Willy“. Die Tantiemen sackte Gauthier-Villars ein, was Colette erst als über dreißigjährige, inzwischen gefeierte Schriftstellerin unterbinden konnte. Es gibt weitere biographische Parallelen zwischen den hier versammelten Schriftstellerinnen, und dass man als Leserin diese Brücken schlägt und imaginäre Genealogien entwirft, ist auch eine Qualität der Anthologie „Prosaische Passionen“. Etliche Frauen ergriffen den Beruf der Lehrerin, etliche ließen sich scheiden, und viele waren frühreif. Die Portugiesin Florbela Espanca und die Spanierin Emilia Pardo Bazán veröffentlichten bereits als Mädchen Gedichte; auch die Japanerin Higuchi Ichiyō war schon in ihrer Jugend eine bekannte Schriftgelehrte.
Der Preis für die außerordentliche Begabung scheint häufig hoch gewesen zu sein. Die erst kürzlich wiederentdeckte Dänin Tove Ditlevsen landete ebenso wie Zelda Fitzgerald, die palästinensisch-libanesische Salonière May Ziadeh und die Italienerin Elsa Morante in der Psychiatrie. Morante, Ditlevsen, Patricia Highsmith und Marguerite Yourcenar schlugen sich mit schweren Suchterkrankungen herum. Ditlevsen, Flor Bela Espanca, Virginia Woolf, die amerikanische Feministin Charlotte Perkins Gilman, die Russin Marina Zwetajewa, die Argentinierin Alfonsina Storni und die Deutsche Susanne Kerckhoff begingen Selbstmord. Die mühsam erkämpfte Freiheit ist mitunter kaum zu ertragen. Die Österreicherin Marlen Haushofer lässt ihre permanent trinkende Heldin eine erschütternde Erkenntnis aussprechen:
„Weißt du noch, wie wir in der Schule immer von der Freiheit geschwärmt haben? Ich sag‘ dir, etwas Trostloseres als die Freiheit gibt es nicht.“
Ein Kriterium für die Zusammenstellung der Anthologie „Prosaische Passionen. Die weibliche Moderne in hundertundeiner Short Story“, das in der editorischen Nachbemerkung von dem Verleger Horst Lauinger angeführt wird, war der Geburtsjahrgang: Er sollte zwischen 1850 und 1921 liegen. Der Band wolle einen Anfang machen und verlange nach Ergänzungen oder Fortsetzungen, betont er.

Literaturgeschichte aus weiblicher Perspektive

Die Herausgeberin Sandra Kegel hat in der Tat ganze Arbeit geleistet und setzt mit ihrem Band völlig neue Akzente. Der schöne Titel „Prosaische Passionen“ betont die charakteristische Verankerung im Alltag vieler Autorinnen, die sich anders als ihre Männer ihre Freiräume mühsam erkämpfen mussten. Viele von ihnen wurden aber auch mit großen Ehrungen, Preisen und Auszeichnungen bedacht. Sie waren allesamt, das macht Sandra Kegel deutlich, Vorreiterinnen und haben enorme Leistungen erbracht: ästhetisch, literaturpolitisch und gesellschaftlich. Ein besonderer Gewinn, auch gegenüber anderen Sammlungen von Kurzgeschichten, ist Kegels Nachwort: Es ist klug, erhellend und sehr inspirierend. Die Herausgeberin unternimmt eine Tour d’horizon der Literaturgeschichte aus weiblicher Perspektive, zeichnet in großen Bögen die Entwicklung nach, erläutert die Mechanismen der Kanonisierung und skizziert ihr Anliegen. Ob es charakteristische weibliche Schreibweisen gibt, ist für sie weniger zentral als die Frage, wer gelesen und erinnert wird und wer nicht.
Nicht alle hier verzeichneten Autorinnen sind mit Kurzgeschichten vertreten, bei einigen sind Auszüge aus Romanen abgedruckt. Dazu zählen Gwendolyn Brooks, Neel Doff, Halide Edip Adivar, Han Suyin, Teresa de la Parra, Tove Ditlevsen, Marguerite Duras, Out El-Kouloub, Sofia Tolstaja, Marina Zwetajewa und Gabriela Zapolska. Dass sie berücksichtigt wurden, ist richtig, denn ihre markanten Stimmen sind im Chor der Schriftstellerinnen unverzichtbar, und das Quellenverzeichnis erlaubt die Rekonstruktion. Dennoch hätte darauf vielleicht etwas deutlicher hingewiesen werden können; schließlich gibt es hier einen Bruch mit der vorherrschenden Gattung. Aber dies ist angesichts der Kärrnerarbeit im Bergwerk der Literaturgeschichte nebensächlich. Die „Prosaischen Passionen“ entfachen tatsächlich Leidenschaften – und zwar für Schriftstellerinnen und ihre Art, die Welt in Sprache zu fassen und dem Leben auf die Schliche zu kommen. Ihre Stimmen, soviel beweist Sandra Kegel mit ihrer Anthologie, sind längst unverzichtbar.
Sandra Kegel (Hrsg.): „Prosaische Passionen. Die weibliche Moderne in 101 Short Storys“
Die hier zitierten Passagen wurden übersetzt von: Roseli und Saskia Bontjes van Beek, Eva Bonné, Olaf Richter und Leslie Tramontini
Manesse Verlag, München 2022. 928 Seiten, 40 Euro.