Remme: Aber es gibt sicherlich auch in Israel bequemere Orte als diesen, oder?
Nitzan: Es gibt mit Sicherheit bequemere. Aber es gibt nicht viel schönere Orte als diesen.
Remme: Wie müssen wir uns Ihr Alltagsleben vorstellen? Tragen Sie zum Beispiel jetzt, während wir sprechen, eine Waffe?
Nitzan: Ja, aber das ist durch meine Arbeit schon bedingt. Ich bin stellvertretender Sicherheitschef der gesamten 22 jüdischen Siedlungen hier. Aber als normaler Zivilist wäre ich nicht unbedingt dazu gezwungen, eine Waffe zu tragen.
Remme: Und das ist ein Vollzeitjob oder üben Sie einen Beruf aus neben der Tatsache, dass Sie als jüdischer Siedler jetzt doch auch hauptsächlich sich im Widerstand üben?
Nitzan: Das ist mehr als ein Vollzeitjob, das ist sehr harte Arbeit.
Remme: Was machen Sie den ganzen Tag? Beschreiben Sie Ihre Arbeit.
Nitzan: Wir bauen Zäune, erhalten sie, stimmen die Arbeit mit den zivilen Sicherheitskräften und der Israelischen Armee ab in Zusammenarbeit mit den Israelischen Polizei. Wir versuchen - so gut wie möglich - den palästinensischen Terror zu bekämpfen: im besonderen die Granaten, die in den jüdischen Siedlungen einschlagen bis zum heutigen Tag. In den letzten mehr als viereinhalb Jahren flogen über 5300 Granaten in diesen Siedlungen ein. Wir versuchen, so schnell wie möglich zu den Einschlägen zu kommen, zu schauen, dass keine Verletzten sind - und wenn es welche gibt oder sogar Tote, die schnellstmöglich zu bergen und betreuen.
Remme: Haben Sie Familie?
Nitzan: Ich bin Single. Ich habe eine Freundin in Jerusalem.
Remme: Wenn es nach den Plänen der Regierung Scharon geht, welche Zukunft ist dann für Sie, Ihre Freundin und die Mitsiedler vorgesehen?
Nitzan: Das ist eher dramatisch. Es gibt keine direkten Pläne, wenn diese Vertreibung der jüdischen Siedler wirklich zustande kommen sollte, wo diese Leute hingehen sollten. Es gibt konkrete Pläne, wie man uns vertreiben will und wann - aber eigentlich nicht, wohin. Und die Zukunft der jüdischen Siedler ist absolut ungewiss.
Remme: Wir hören von Plänen für eine Entschädigung der Siedler.
Nitzan: Es gibt konkrete Pläne für eine Entschädigung. Das ist alles ganz genau katalogisiert. Aber das ist viel zu niedrig, denn die Leute leben hier schon zum Teil drei Generationen und diese Entschädigungen ermöglichen nicht mal annähernd den Lebensstandard, den die Leute heute haben.
Remme: Ist also die Räumung eine Frage des Preises?
Nitzan: Eigentlich weniger, aber sollte es wirklich zur Vertreibung kommen, dann sollte auch die Entschädigung zumindest angemessen sein. Aber das ist viel mehr ideologisch als an Geld gebunden. Die Leute wollen unsere Siedlung nicht verlassen. Es wird eine gewalttätige Räumung sein: Die Leute sind nicht dazu bereit, sie haben sich schon über ein Jahr mit allen demokratischen Mitteln gegen diese Räumung gewehrt - erfolglos.
Remme: Wie soll der Widerstand gegen die Räumung in den nächsten Wochen und Monaten aussehen?
Nitzan: Durch die Mobilisierung von Massen eigentlich. Unser Ziel ist es, der Gruppe, die die ganzen jüdischen Siedlungen in der Westbank und in Gaza betreut: Von unserer Seite muss es absolut gewaltfrei sein. Denn die Sympathie, die wir doch zum größten Teil innerhalb Israels haben, wollen wir nicht verlieren. Durch die Mobilisierung von Massen, Massendemonstrationen, Sperrungen von Hauptverkehrsstraßen, Kreuzungen und so weiter. Das heißt, es gibt hunderte von Vorschlägen.
Remme: Sie sagen gewaltfrei. Ist das die Grenze des Widerstandes. Oder wo sehen Sie die Grenze?
Nitzan: Das ist eher die Grenze des Widerstandes. Sie ist das Erlaubte. Man kann viel machen mit demokratischen Mitteln - aber Gewalt gegenüber Soldaten oder Polizisten, die uns dann vertreiben oder räumen sollen, ist das Letzte, was wir uns wünschen.
Remme: Wie geschlossen sind die Siedler? Gibt es auch welche, die gehen wollen?
Nitzan: Ja, ich schätze ungefähr zwischen zehn und fünfzehn Prozent.
Remme: Können Sie die Gründe dieser Menschen nachvollziehen?
Nitzan: Ja, doch schon. Denen reicht es einfach. Das sind Leute, die vielleicht schon viele Leute, Freunde, Familienangehörige verloren haben. Und die sich also auch ziemlich allein vorkommen, weil die israelische Regierung eine derartige Hetzkampagne gegen diese Siedler führt, dass die Leute einfach aufgegeben haben.
Remme: Ich weiß nicht, ob Sie wählen dürfen, aber wenn: haben Sie Scharon gewählt?
Nitzan: Mit Sicherheit darf ich wählen, schon mehr als acht Jahre. Ich habe zu meinem großen Bedauern Scharon gewählt wie der Großteil der Siedler im Gazastreifen.
Remme: Und wenn Sie es jetzt bedauern, heißt das, Sie fühlen sich getäuscht?
Nitzan: Nicht nur getäuscht - betrogen! Er hat ganz andere Wahlversprechen gemacht, als er heute durchführt. Man muss sich das so vorstellen, als hätten die Grünen die Mehrheit im Bundestag mit ihrem normalen Wahlprogramm - und nach der Wahl dann mit der Aufbereitungsanlage für Kernenergie in ein Umweltschutzgebiet bauen wollen. Das ist ungefähr das Gleiche, wie das, was Scharon heute mit uns macht. Das ist gegen alles, woran er glaubte und seine Likud-Regierung.
Remme: Nun ist aber die Räumung der Siedlungen kein Selbstzweck. Für Ariel Scharon steht das Ganze natürlich in einem viel größeren Zusammenhang. Können Sie diesen akzeptieren?
Nitzan: Ich kann ihn verstehen, akzeptieren weniger und auch nicht glauben. Denn sein Plan ist durch die Räumung der jüdischen Siedlungen, dass er damit die anderen Siedlungen in der Westbank rettet oder versucht, die Palästinenser zu beschwichtigen. Für uns ist es eher eine Flucht vor Terror. Die ganze Welt bekämpft heute Terror in einer Form. Und ausgerechnet Israel rennt vor Terror davon. Das ist ein Preis für Terror, die Räumung der Siedlungen.
Remme: Was denken Sie, wenn Scharon und Abbas jetzt im persönlichen Gespräch einen Neuanfang suchen?
Nitzan: Positiv erst mal, jeder wünscht sich Frieden in Israel - auch und besonders die Siedler, weil die von diesen Unruhen und diesem Terror am meisten betroffen sind. Aber auch skeptisch, weil die für mich und uns auch die Glaubwürdigkeit verloren haben, besonders Abbas. Er kam ja damals mit Arafat aus Tunesien. Und es ist der gleiche Verbrecher, der gleiche Terrorist, er ist nur besser angezogen als Arafat.
Remme: Ist für Sie durch Arafats Tod neue Hoffnung auf Frieden entstanden?
Nitzan: Mit Sicherheit, schlimmer als Arafat kann er nicht werden.
Remme: Haben Sie persönlich Kontakt zu Palästinensern?
Nitzan: Ja, doch: Ich habe durch meine Arbeit Kontakt zu über 5000, die in den jüdischen Siedlungen arbeiten. Habe eine handvoll von Palästinensern, die ich sogar als Freunde bezeichnen würde.
Remme: Und ist über diese Freundschaft dann Verständnis für deren Position entstanden?
Nitzan: Auch. Die Palästinenser leiden mit absoluter Sicherheit. Sie leiden durch die Intifada mehr als wir oder irgendein anderer Israeli. Aber die sind dafür selber verantwortlich - mein Mitleid hält sich da wirklich in Grenzen.
Remme: Wie stellen Sie sich denn einen Frieden vor? Was ist Ihr politisches Ziel?
Nitzan: Zurückzukommen zu den Verhältnissen, die vor der ersten Intifada herrschten. Ich glaube fest daran, dass Palästinenser und Israelis bestens miteinander auskommen können. Es sind die Führungen der beiden Parteien, nicht die Leute.
Remme: Würden Sie die Gruppe der jüdischen Siedler und auch sich selbst als fanatisch bezeichnen?
Nitzan: Nein, fanatisch weniger. Aber es gibt auch ohne Zweifel fanatische Siedler. Eher überzeugt, das richtige zu tun, als fanatisch. Wir sind auch sehr davon überzeugt, dass wir auch siegen werden mit unserem Widerstand.
Remme: Glauben Sie, dass wenn wir in einem Jahr miteinander reden, Sie noch dort leben, wo Sie im Moment leben?
Nitzan: Ich hoffe es.