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Nur in Ruanda

Leute sagen mir zum Beispiel : " unglaublich, welche Geschichten du dir da ausgedacht hast : Ein belgischer Entwicklungshelfer, der eine Prostituierte aus dem 3. Stock stürzt...". Aber das habe ich nicht erfunden, ich hätte nie gewagt, so etwas Unerhörtes zu erfinden! Ich saß draußen beim Frühstück und habe diese Frau fallen sehen. In diesem Milieu ist alles völlig surrealistisch, aber das hat damit zu tun, dass Ruanda am Ende der Welt ist, wie andere Länder – Sierra Leone oder Liberia – dort passieren Sachen, die kein Drehbuchschreiber sich einfallen lassen würde.

Von Dominique Vogel | 07.09.2004
    Courtemanche nimmt kein Blatt vor den Mund, wenn es darum geht, Bürokraten und Profiteure anzuklagen. Als Berichterstatter ist er in den letzten vierzig Jahren in vielen Krisengebieten herumgekommen, er hätte genauso über den Bürgerkrieg im Libanon, oder die Hungerkatastrophe in Äthiopien schreiben können. Aber sein erster Roman hat sich ihm sozusagen aufgedrängt, und er konnte nur in Ruanda spielen.

    Wahrscheinlich weil ich in Ruanda mehr Zeit verbracht habe als in all den anderen Ländern, weil ich dort mehr Menschen näher kennengelernt habe, und darunter so viele gestorben sind, Leute, die von der Geschichte umgebracht worden sind. Als Journalist ist man meistens dabei wenn Leute sterben, die man vorher nicht gekannt hat. Bei mir ist es sozusagen umgekehrt: ich habe sie vorher gekannt und war nicht dabei, als sie gestorben sind.

    Ohne dem Pathos zu verfallen gibt Gil Courtemanche einen Einblick in Ruandas Abstieg in die Hölle, den die blinde Weltöffentlichkeit damals nicht wahrhaben wollte. Auch hier ist der Journalist am Werk, er arbeitet mit Fußnoten, um faktisch so präzise wie möglich zu berichten, historische und ethnische Zusammenhänge zu erklären. Ohne den Leser mit Details zu überfordern legt er kompromisslos die Ursachen des Massakers an den Tag: Das Massaker von hasserfüllten Hutu-Milizen an der Tutsi-Minderheit, ein geplanter Genozid der Armen, der zurückzuführen ist auf den europäischen Kolonialismus. Aber das Buch ist nicht nur ein Bericht, es ist viel mehr als die Chronik eines angekündigten Todes. Vom Journalisten zum Romancier, eine Gratwanderung, die für den Autor eigentlich nie ein Problem war.

    Ja, mein Verleger hat mir auch gesagt, das sei ein Balanceakt, aber das war mir nicht bewusst, ich hatte ja vorher noch nie einen Roman geschrieben. Aber literarisch und intellektuell bin ich mit Schriftstellern aufgewachsen, die historisches Geschehen und Erfundenes zusammenfügen, ihre Bücher sind zugleich Chroniken und Romane. Joseph Kessel, Conrad, Camus, Malraux, Hemingway, Graham Greene, diese Leute waren meistens auch Journalisten. Und oft haben sie ihre Artikel wiederverwendet (...) Und erst jetzt fragt man: "wie kommt es, dass man Bericht und Fiktion so vermischt?" Aber das gab’s doch schon immer!

    Die Fiktionalisierung ist für Courtemanche eine Möglichkeit, seinem Vorhaben gerecht zu werden. Er möchte den Opfern des Blutbades ein Gesicht und einen Namen geben. Damit sie sich nicht "mit hunderttausend anderen Toden vermischen wie ein Wassertropfen in einem Meer von namen- und gesichtslosen Tragödien." Damit die Menschen nicht bloße Statistiken bleiben, 800 000 Tote in 100 Tagen. Courtemanche kann ausgezeichnet porträtieren: Die Prostituierte Bernadette, der Aids-kranke Méthode, der Marktverkäufer Cyprien, der machtlose UNO-General, die eitle französische Konsulin zeigen in Extrem-Situationen ihr wahres Ich.

    Um dieses Figurenensemble zusammenzuhalten hat Courtemanche eine Liebesgeschichte dazuerfunden, zwischen Valcourt und der Kellnerin Gentille, eine Hutu, die aussieht wie eine Tutsi. Die Liebesgeschichte mitten im Gemetzel, der alternde Romanheld, der nichts mehr vom Leben erwartet und angesichts von Liebe und Tod wieder auferlebt, das klingt wie ein schlechter Film. Der Autor gibt zwar zu, dass vielleicht mancher Leser erst dadurch zu dem Roman kommen wird, aber er braucht diese Romanze um das Menschliche, das Individuelle im Vordergrund zu behalten. Ein Gegenentwurf zur Barbarei, um die Dualität im Menschen immer im Auge zu behalten.

    Ich sage immer, dass das Hauptthema dieses Romans nicht der Völkermord ist, sondern die Behauptung des Nebeneinander von Dummheit und Größe im Menschen. Dieses Nebeneinander ist mir als Journalist immer wieder aufgefallen, aber der Journalist zeigt immer nur das Dumme im Menschen, er zeigt nur den Toten, und er schwenkt nicht die Kamera nach links, wo ein Junge und ein Mädchen sich küssen, 10 Meter vom Toten entfernt, und der Junge fragt: "Willst du mich heiraten?" und sie sagt "ich möchte viele Kinder kriegen". Und so was passiert mitten im Krieg, und wir wissen alle genau, wenn man aufgehört hätte zu träumen und zu hoffen, trotz Krieg, Hungersnot, Völkermord, Holocaust, usw, dann wären wir heute nicht da... Man weiss es ganz genau, aber warum zeigt man nie das Nebeneinander? Im Roman ist es möglich, eine Rundumsicht zu übermitteln, der Blick des Journalisten dagegen ist nur eine Momentaufnahme.

    Wie Paul Eluards Gedichte, die Courtemanche immer wieder zitiert, spricht der Roman vom Leben, vom schrecklichsten und vom großartigsten. Er wirft die Frage auf: Wie kann man glücklich sein, und auf das Leben setzen, wenn die Erde vor seinen Augen zerfällt? Lebenslust statt Resignation, wobei alle wissen, welches Massaker bevorsteht: "Schon von klein auf hat man mir gesagt, dass die Tutsi mich töten, wenn ich es nicht vorher tue. Das ist der Katechismus", so ein Freund von Valcourt. Aber trotzdem weigert er sich, völlig zu verzweifeln.

    Diese Menschen haben eine Sehnsucht nach Dauer, die mich entzückt deswegen liebe ich sie, und das versuche ich im Roman zu zeigen. Aus der Distanz könnte man glauben, es herrscht dort Fatalismus, aber aus der Nähe betrachtet ist es eher Mut, oder Eigensinn.

    Gil Courtemanche sagt von sich selbst er sei ein radikaler Optimist, nicht trotz der Geschichte, sonder wegen ihr. Ein Sonntag am Pool in Kigali ist in seiner unverblümten Art keine leichte Kost, aber mit diesem kontrastreichen Roman gelingt Courtemanche das Unvorstellbare: Eine Liebeserklärung an die Menschen, vor dem Hintergrund eines Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Wie es bei Paul Eluard heisst: "In der absurden Weite des grausamen Glücks". Ein politischer Roman voller Poesie.

    Gil Courtemanche
    Ein Sonntag am Pool in Kigali
    Kiepenheuer & Witsch, 320 S., EUR 18,90