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’Nur wir haben überlebt’ – Holocaust in der Ukraine. Zeugnisse und Dokumente

Dass die ukrainische Gesellschaft zutiefst gespalten ist, dürfte auch damit zusammenhängen, dass im Osten und Westen des Landes jeweils diametral entgegengesetzte Nationalgeschichten erzählt werden. Die eine, sie hat ihre Anhänger vor allem im Westen, stellt Stalins Terror ins Zentrum der Überlieferung, spricht von einem "Genozid am ukrainischen Volk" und meint damit die Millionen Opfer der Hungersnot von 1932 – 1933. Der Sowjetführer hatte sie bei seiner "Lösung der Kulakenfrage" bewusst in Kauf genommen. Im Osten des Landes will man an dieses Kapitel nicht erinnert werden. Dort stellt man lieber die "Organisation Ukrainischer Nationalisten" an den Pranger, die in ihrem Kampf gegen Stalin zum Kollaborateur mit Hitler-Deutschland und zum Komplizen des nationalsozialistischen Völkermords wurde. Das wiederum wollen die im Westen nicht hören, denn dort verehrt man die Nationalisten als Teil einer patriotischen Tradition, die auf die vollständige Abkopplung von Russland zielt. Wo so viel Revisionismus ist, hat es ein Buch schwer, das jenseits der ideologischen Geschichtsdeutungen an die realen Opfer erinnern will.

Von Helga Hirsch |
    Es gab keine systematischen Ermordungen wie in den großen Vernichtungslagern Auschwitz oder Treblinka. Es gab keinen planmäßigen Arbeitseinsatz wie in den Außenlagern von Buchenwald oder Dachau. Was es gab, verzeichnet ein historischer Atlas aus Polen als "Orte massenhafter Verluste" – Orte mit Massengräbern in Wäldern, Tälern, Parks, in denen Tausende und Zehntausende von Juden verscharrt liegen, die im Laufe von jeweils nur ein, zwei Tagen in ihren Dörfern und Städten zusammengetrieben und erschossen wurden.

    Wir meinen, bereits sehr viel über den Holocaust zu wissen. Ungezählte wissenschaftliche Arbeiten sind erschienen, Autobiographien, Filme. Es gab Symposien, Ausstellungen, Gedenkfeiern. Aber wer das Buch von Boris Zabarko mit Berichten von überlebenden ukrainischen Juden zur Hand nimmt, erkennt sein Wissen als regional fast ausschließlich auf die Vernichtung in Deutschland, Polen, Ungarn oder der Tschechoslowakei bezogen.

    Einige mögen noch von Babi Jar gehört haben, jener Schlucht bei Kiew, in der in den letzten zwei Septembertagen des Jahres 1941 33.771 Juden durch Genickschuss umgebracht wurden. Aber wer kennt Luzk, Pinsk, Tarnopol, Kamenka, Mogiljow-Podolski, Winniza, Shitomir? Wer weiß überhaupt, welches Gebiet das "Reichskommissariat Ukraine" umfasste, in dem Zabarkows Zeugen damals lebten? Jenes Kernland der ehemals Ukrainischen Sowjetrepublik, die nach dem Überfall der deutschen Wehrmacht Mitte 1941 um Ostgalizien, Bessarabien, die Bukowina und Transnistrien schrumpfte, da diese Gebiete dem Generalgouvernement und Rumänien zugeschlagen wurden? Wer weiß, dass schließlich fast 1,5 Millionen Juden in der Ukraine umkamen?

    In erster Linie war es sicher das Sowjetsystem, dass eine differenzierte Aufarbeitung verhinderte. Die Archive waren geschlossen, und für Moskau gab es keine jüdischen, sondern nur sowjetische Opfer. Ein Denkmal für die ermordeten Juden im Städtchen Ljubar zum Beispiel erhielt noch 1972 die Inschrift "Den sowjetischen Menschen – Opfern des Faschismus 1941-1945". So vermischte sich der Genozid an den Juden bis zur Unkenntlichkeit mit dem allgemeinen Schicksal der Sowjetbürger, und die sowjetischen Juden, sagt Zabarko, "arrangierten sich mit dieser ideologischen Schranke, akzeptierten sie im Interesse ihrer eigenen Sicherheit, und zahlreiche unter ihnen verheimlichten auch ihre jüdische Abstammung".
    Selbst Boris Zabarko, einst Mitarbeiter der Akademie der Wissenschaft der Ukraine und heute Direktor des Holocaust Programms vom American-Jewish Joint Committee in Kiew, bedurfte erst des Anstoßes während eines Warschau-Besuchs 1995.

    "In Warschau sah ich viele Bücher in Polnisch, Englisch, Deutsch und anderen Sprachen, die an die polnischen Opfer des Nazi-Regimes erinnern. Und ich fühlte Trauer und Scham, dass im Westen so viel getan wird und wir bei uns in der Ukraine keine Berichte gesammelt haben – auch ich nicht, obwohl ich Historiker bin. Die Menschen sterben aus, und wir bestehlen unsere eigene Geschichte. "

    Seit Mitte der neunziger Jahre versucht Zabarko deswegen zu retten, was sich noch retten lässt. Er begann Erinnerungen von Überlebenden zu sammeln, die 1999 auf Ukrainisch und im Herbst 2004 dank der Unterstützung des deutschen Ehepaares Margret und Werner Müller auch auf Deutsch erschienen: 86 Überlebende berichten, wie sie damals als Kinder oder Jugendliche die Ermordung von Vater, Mutter und Geschwistern miterleben mussten, wie sie sich unter falschem Namen mit ständig wechselnden Aufenthaltsorten durchgeschlagen haben, wie sie in Verstecken oder bei den Partisanen im Wald überlebten und Aufnahme in ukrainischen Familien fanden.

    Es sind sehr unterschiedliche Berichte: Manche sehr fragmentarisch – weil sich Kindheit nur begrenzt erinnern lässt, andere sehr allgemein – weil die Angst vor dem Schmerz Einzelheiten verdrängte, manchmal aber auch erstaunt die Präzision und Detailtreue: Nicht über Truppenbewegungen, Frontverläufe, systematische Vernichtungsaktionen – denn als Kinder hatten sie damals alle keinen Überblick -, sondern über ganz konkrete Abläufe an einzelnen Tagen, über bestimmte Personen aus den eigenen und den Nachbarsfamilien, über das Verhalten einzelner Deutscher, einzelner Ukrainer, einzelner Russen oder Rumänen.

    Polina Pekerman beispielsweise, geboren 1927 in Tschudnow, erinnert die Mutter, die sie unmittelbar vor der Erschießung bei den Gruben im Park ihrer blonden Zöpfe wegen wegschickte: "Geh zum Polizisten und sag ihm, dass du keine Jüdin bist." Sie erinnert den ukrainischen Polizisten Brjuchanow, der das acht Monate alte Baby der Nachbarin auf sein Bajonett spießte, in die Luft schleuderte und darauf schoss. Und sie erinnert ihre ukrainische Schulkameradin Nadja Kossenko, die ihr, die sie halb verhungert und fast ohne Kleidung vagabundierte, einen Kittel, Brot und ein Glas Milch schenkte.

    Immer wieder begegnen uns dieselben Akteure: Die Mitglieder von deutschen Einsatztruppen, die zielgerichtet die Exekutionen der jüdischen Bevölkerung durchführen und beaufsichtigen, die ukrainischen Hilfspolizisten, die die Juden zusammentreiben, ihre Häuser plündern und in betrunkenem Zustand auch Frauen vergewaltigen, und jene Ukrainer und manchmal sogar Deutsche, die den Bedrängten helfen, sie verstecken, verpflegen, ihnen die Flucht ermöglichen – kurzum, die sie retten. In seinem Vorwort schreibt der Autor:

    "Bis in die jüngste Vergangenheit hinein war es bei uns nicht üblich, dieser Menschen zu gedenken. Wahrscheinlich deshalb, weil ihr Mut als ein Vorwurf gegenüber den weniger Mutigen verstanden würde, da es doch offensichtlich selbst im Dunkel des Holocaust möglich war, ein anständiger Mensch zu bleiben. "

    Hierin besteht die große Stärke des Buches: Die Berichte schildern anschaulich und überzeugend die Verhältnisse zwischen Juden, Besatzern und einheimischer Bevölkerung. Sie geben eine Sicht von unten, wie sie niemals aus Einsatzbefehlen oder Lageberichten herauszulesen wäre. Daraus erklärt sich allerdings auch, warum die Aufarbeitung des jüdischen Schicksals lange Zeit nicht nur an der sowjetischen Zensur und dem Schweigen der Betroffenen scheiterte.

    "Bis heute leben auf den ukrainischen Dörfern Menschen, die das deutsche Militär mit Brot und Salz begrüßt haben. Bis heute leben auch jene, die den Deutschen bei der Ermordung der Juden geholfen oder die selbst ermordet haben. Bis heute gibt es nicht einmal in Babi Jar eine Gedenkstätte, dem Ort des größten Massenmords. Dann müsste man nämlich auch über jene Menschen sprechen, die an der Judenermordung teilgenommen haben. An der Erforschung des Holocaust entsteht ein Kampf zwischen den nationalistischen Kräften und denen, die die Wahrheit erforschen möchten. "

    Zabarkos Buch ist Teil dieses Kampfes um die Aufarbeitung. Denn mit den Erinnerungen der Überlebenden hat er einen verdrängten Teil ukrainischer Geschichte endlich ans Licht gebracht. Doch nicht nur beim deutschen Leser dürften viele Fragen offen bleiben. Es fehlen historische Erläuterungen, es fehlen Verallgemeinerungen, es fehlt die Darstellung des Forschungsstands. Mag die Aufarbeitung grundlegender Sachverhalte in der ukrainischen Holocaust-Forschung auch erst am Anfang stehen, so schärft sich der Blick des Lesers doch auch schon dann, wenn er um die Problemkreise weiß. Wie weit also reichte die Kollaboration von Ukrainern mit der deutschen Besatzungsmacht? Wer stieß zur ukrainischen Hilfspolizei? Wie verbreitet und stark war der Antisemitismus? Welchen Umfang und welche politische Prägung hatte die ukrainische Partisanenbewegung? Wie viele Retter fanden sich unter den Einheimischen? In unserem Wissen über den Holocaust, so scheint es, sind noch viele Lücken zu füllen. In der neuen, demokratischen Ukraine dürfte jeder, der wissen will, auch Antworten erhalten.

    Helga Hirsch über "’Nur wir haben überlebt’ – Holocaust in der Ukraine. Zeugnisse und Dokumente". Der von Margret und Werner Müller übersetzte Band wird von Boris Zabarko herausgegeben. Er ist im Kölner Dittrich Verlag erschienen, hat 469 Seiten und kostet 24 Euro 80.