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Nurcan Baysal
„Jene Stimmen“

Seit Jahrzehnten führt der türkische Staat Krieg gegen die kurdischen Separatisten – die anatolische Stadt Diyarbakir ist noch immer gezeichnet von Belagerung durch Armee und Polizei im Winter 2015/16. Nurcan Baysal dokumentiert diese präzise in ihrem Buch.

Von Susanne Güsten | 28.01.2019
    Zerstörte Wohnviertel in Diyarbakir, ein Bild aus dem Jahr 2015
    Nurcan Baysal dokumentiert die Belagerung von Diyarbakir im Winter 2015/ 2016 (Deutschlandradio/Gerner)
    Wumm! Wumm! So beginnt das Buch. Die Fensterscheiben klirren in Nurcan Baysals Büro am Rande der Altstadt von Diyarbakir. Es ist der 18. Geschützeinschlag an diesem Tag. Nurcan Baysal steht von ihrem Schreibtisch auf, wischt von einer Tafel an der Wand die Zahl 17 ab und schreibt 18 darüber. Es ist der 18. Tag der Ausgangssperre in Diyarbakir, der 18. Tag der Belagerung der historischen Altstadt, und der Kampf um Diyarbakir hat gerade erst begonnen. Jugendmilizen der PKK haben sich in der Altstadt verschanzt und Schützengräben ausgehoben, die türkische Polizei und Armee feuern mit schwerem Geschütz hinein, um sie zu vertreiben. Monatelang dauern die Kämpfe, und auf die Bewohner nimmt niemand Rücksicht. Hinter den römischen Basaltmauern, die die historische Altstadt umschließen, sitzen tausende Zivilisten in der Falle. Die Menschenrechtlerin Nurcan Baysal verlässt die Stadt nicht; sie bleibt in Diyarbakir und versucht, zwischen den Fronten zu vermitteln, um Kinder und Alte aus der belagerten Altstadt zu befreien. In ihrem Buch dokumentiert sie das Leben unter der Belagerung.
    "Wumm! Wumm! Es wird Abend. Jeder in der Stadt schließt sich zuhause ein. Nur sechs Monate ist es her, dass diese Stadt die halbe Nacht auf den Beinen war, jetzt geht nach fünf Uhr nachmittags niemand mehr vor der Tür. Mit jedem Tag mehr wird die Stadt von der Stille verschluckt – einer Stille, die nur von Bomben und Geschossen durchbrochen wird."
    Sie habe dieses Buch für die Menschen im Westen geschrieben, erzählt die Autorin beim Interview in Diyarbakir – für die Menschen im Westen der Türkei, aber auch in Europa und anderswo in der Welt. Inspiriert wurde sie dazu von Kriegsberichterstattern der türkischen Presse, die nach einem eintägigen Frontbesuch in Diyarbakir staunend berichteten, die Einwohner der Stadt besuchten immer noch ihre Teehäuser.
    "Ich habe damals einen Artikel geschrieben, in dem ich sagte: Jawohl, wir trinken Tee. Und es wird euch vielleicht überraschen, aber wir essen auch dreimal am Tag. Die Leute wissen nicht, was Krieg ist. Das sind nicht ein, zwei Tage, in denen man das Leben anhalten kann. Wenn der Krieg so lange dauert, dann wartet das Leben nicht. Man muss die Kinder zur Schule bringen, man muss die Verletzten ins Krankenhaus bringen, man muss kochen und all diese alltäglichen Dinge. Das Leben geht weiter, und das Leben muss weitergehen, denn wir werden gebraucht, um anderen zu helfen."
    Alltag im Kriegszustand
    Mit ihren eigenen Aufzeichnungen aus der Belagerung verwebt Nurcan Baysal die Augenzeugenberichte von Einwohnern. "Jene Stimmen" heißt der Titel des Buches deshalb. Eine Stimme ist die der Lehrerin Nevin aus einer Grundschule am Rande der Altstadt:
    "Am meisten fürchtete ich mich immer vor den Pausen, wenn die Kinder auf dem Hof spielten. Dann dachte ich immer, wenn nun eine Kugel einschlägt oder ein Bombensplitter, was dann? Du stehst in der Pause auf dem Hof und rauchst eine Zigarette - und dann hörst du einen Geschützeinschlag und weißt, dass gerade jemand stirbt. Und es gibt nichts, was du machen kannst - nichts. Ich bin meistens weinend in den Unterricht zurückgegangen."
    Eine andere Stimme gehört der Hausfrau Saniye, die mit ihren vier Kindern in der belagerten Altstadt ausharrte:
    "Wir konnten bei aller Verzweiflung nicht hinaus aus der Altstadt, denn es gab keinen Ort, wohin wir hätten gehen können. Kein Verwandter, kein Bekannter sagte, kommt doch für eine Weile zu uns. Über uns kreisten Hubschrauber, der Gefechtslärm und die Geschützeinschläge waren furchtbar. […] Aber keiner hat uns aufgenommen, keiner hat uns geholfen. Was ich in jenen Tagen gelernt habe über die Menschen, das reicht mir bis an mein Lebensende."
    Humanitäre Perspektive auf den Konflikt
    Auf den politischen Konflikt zwischen PKK und türkischem Staat geht Nurcan Baysal in dem Buch nicht inhaltlich ein; als Menschenrechtlerin geht es ihr um die humanitäre Perspektive. Ihre eigene Haltung schimmert aber in den Worten durch, mit denen sie einen geflohenen Altstadteinwohner zu den PKK-Jugendmilizen zitiert, die mit der Besetzung der Altstadt alles ausgelöst haben:
    "Was haben uns diese Jugendlichen angetan! Sie haben uns um Haus und Heimat gebracht. Aber wenn du mich fragst, ob sie alleine schuld sind, dann sage ich, nein, der Staat ist auch schuld. Ja, die Jugendlichen haben eine Dummheit begangen, aber der Staat muss doch vernünftiger sein als sie. Er hätte sie aus der Altstadt holen können, ohne dass jemand getötet wird, ohne dass alle Häuser zerstört werden – aber das hat er nicht getan."
    Fast hundert Tage und Nächte tobten die Kämpfe in der Altstadt von Diyarbakir, bis sie im März 2016 endeten. Die Ausgangssperre aber dauert in einigen Stadtvierteln bis heute an, seit mehr als tausend Tagen, weil die Regierung die zerstörten Viertel komplett abreißen und neu aufbauen lässt.
    Nurcan Baysal dokumentiert in schlichter und zugänglicher Sprache nicht nur das Schicksal von Diyarbakir aus nächster Nähe, sondern auch den alltäglichen Schrecken des Krieges. Von einer Aufarbeitung dieses Traumas ist die Türkei noch weit entfernt, aber dieses Buch ist ein guter Anstoß dazu.
    Nurcan Baysal: - "O Sesler" (Jene Stimmen),
    Verlag Dipnot Yayinlari, 168 Seiten, 22,95 Euro, nur auf türkisch.