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"Ob das gegenwärtig ein Strohfeuer ist, das kann zurzeit niemand sagen"

Für den Historiker und Publizisten Michael Stürmer sind die sozialen Unruhen in Frankreich nicht nur ein "französisches Schauspiel, sondern ein europäisches Problem". Deutschland und Frankreich seien "vielfach und ganz eng verbunden und nahezu untrennbar" - an einen Flächenbrand glaubt er jedoch noch nicht.

Michael Stürmer im Gespräch mit Jürgen Liminski | 20.07.2009
    Jürgen Liminski: Es sind persönliche Autoritäten, die Frankreich regieren und die Volonté générale, den Volkswillen, davon abhalten, in Volkszorn auszuarten. Der Dichter Lamartine hat das einmal in die Worte gefasst: Selbst die Brutalen haben ein Herz und selbst der Tyrann ist ein Mensch - aber das Volk ist ein Element. Und wenn dieses Element sich aus den Verankerungen des Rechts und der Konvention losreißt, dann wird die Lage möglicherweise unberechenbar. Sind wir schon so weit? Sind die Erpressungen französischer Arbeitnehmer, das "Bossnapping", die De-facto-Geiselnahme von Managern, die Drohung, die ganze Fabrik in die Luft zu sprengen, Vorboten eines sozialen Flächenbrands? Zu diesen und anderen Fragen bin ich jetzt verbunden mit dem Historiker und Publizisten Professor Michael Stürmer, guten Morgen, Herr Stürmer!

    Michael Stürmer: Guten Morgen nach Köln!

    Liminski: Herr Stürmer, noch sind es kleine Brandherde in Frankreich, lokal begrenzt, aber immerhin erreichen die Streiks, Proteste und sozialen Erpressungen und Drohungen, nationale Aufmerksamkeit. Muss man schon in die Volksseele blicken oder sind das Eintagsfliegen, Eruptionen lokalen Zorns?

    Stürmer: Frankreich hat eine große Tradition - le peuple. Das ist in der Tat eine elementare Dimension wie die Natur. Und da gibt es einen Mythos der Resistance, der Revolution, und der spukt in den Köpfen umher, motiviert, schafft Sympathien, ohne dass er gesteuert ist im Sinne von politischer Gestaltung. Für uns ist das natürlich alles nicht nur ein Zuschauersport, was in Frankreich passiert, sondern wir sind ja mit Frankreich vielfach und ganz eng verbunden und nahezu untrennbar, solange wir nicht den Verstand verlieren, durch den Euro. Wir haben die gemeinsame Währung und dies sind Dinge, die natürlich das Auf und Ab einer Währung mitbestimmen. Insofern sollten wir das nicht nur betrachten als französisches Schauspiel, sondern als europäisches Problem.

    Liminski: Bei uns halten Kurzarbeit und Gewerkschaften das Volk im Zaum. Wir haben eine andere Streitkultur. Gibt es in Frankreich noch genügend starke Institutionen, also Parteien und Gewerkschaften, die eine soziale Unruhe eindämmen können?

    Stürmer: Schon Mitterand hat ja der Linken in Frankreich - obwohl er selber sich ja als Sozialist beschrieb, er war vor allem Präsident, er war eine präsidentielle Figur -, hat ja der eigentlichen Linken Schuh und Strümpfe weggenommen und die Kommunisten und die linken Gewerkschaften enorm geschwächt, völlig desorientiert. Dabei ist nun allerdings auch die sozialistische Partei, seine eigentliche Basis, mit der er die Präsidentschaft errungen hat, schwer desorientiert worden. Sarkozy hat das fortgeführt und hat ja in sein präsidentielles System kooptiert, leuchtende Figuren wie Bernard Kouchner, den Außenminister, der das ganz gut macht, aber natürlich in den Begrenzungen des französischen Systems. Außenpolitik ist die Reserve, sozusagen das Reservat des Präsidenten, genauso wie Sicherheitspolitik. Sie haben völlig Recht: Frankreich hat eine Tradition des Zuspitzens auf große Figuren, Retter der Gesellschaft. Und Retter der Gesellschaft Nummer eins war natürlich Napoleon, der Frankreich rettete gegen die Revolution und ihre Folgen. Er gehört ja zu den Revolutionären, die gleichzeitig antirevolutionär sind, und man kann in der französischen Geschichte verfolgen immer wieder, das gilt auch für Napoleon III., den Neffen Napoleons, immer wieder ein populäres, rassistisches, plebiszitäres Kaisertum, wo sich also alle politische Fantasie, alle Kraftlinien auf einen Mann richten. Bisher war es immer ein Mann und es wird auch nicht so bald eine Frau sein, jedenfalls Carla Bruni steht dafür nicht zur Verfügung, und so auch Sarkozy. Er kann aus dieser Projektion enorm viel machen, aber dann muss er Substanz bringen, und das genau ist die Frage, die uns bewegt und die natürlich die Franzosen noch viel direkter bewegt.

    Liminski: Was braucht denn so eine Persönlichkeit, um die Franzosen im Zaum zu halten?

    Stürmer: Na, zuallererst mal die große Inszenierung, Führung nennt man das ja auch Charisma. Er muss einen Strom aufbauen, eine Hochspannung zwischen sich und den verschiedenen französischen Schichten, das heißt, er muss weit über die Mitte hinaus ausgreifen. Und das kann er tun einmal durch natürlich die präsidentielle Rhetorik, durch seine großen Pressekonferenzen, durch sein Auftreten, auch auf der internationalen Szene. Aber dann muss er wirklich die großen Sorgen der Menschen beheben und das ist natürlich, wie überall, der Krise geschuldet und der langfristigen Staatsverschuldung, dass der Staat relativ hilflos ist, dass die Leute wissen, wenn sie heute getröstet werden, muss irgendjemand morgen die Schulden bezahlen, das sind ja oftmals dieselben Leute. Die Kinder, die Enkel werden enorm belastet, das ahnen die Leute ja.

    Liminski: Sie sagten gerade ja, er muss weit über die Mitte hinausgreifen. Hat denn die Linke sich überlebt in dem Sinn, dass sie die richtigen Antworten für das 19. und 20. Jahrhundert hatte, aber nicht mehr für unsere Zeit hat?

    Stürmer: Ich glaube, das gilt mit der Ausnahme von den USA, wo aber die Democrats natürlich auch gewaltige Probleme haben, das gilt für die europäischen Linken generell. Sie haben etwa das Informationszeitalter und seine Chancen und seine völlige Veränderung der ganzen Bildungswege, das haben sie völlig verpasst. Aber die Herren müssen endlich mal richtig ins kritische, selbstkritische Nachdenken geraten und irgendjemand muss ihnen erzählen, dass es nicht mehr Marx ist, der die Welt richtig beschrieben hat oder vielleicht auch falsch, sondern dass heute die Welt ganz andere Herausforderungen stellt und auch Versprechen enthält.

    Liminski: Hat denn Präsident Sarkozy die richtigen Antworten?

    Stürmer: Na, bisher hat er das ja durch Inszenierung, eingeschlossen Personalpolitik, zum großen Teil ersetzen können. Er sieht die richtigen Antworten sehr in einer traditionell-französischen Weise, nämlich staatliche Industriechampions, Finanzchampions zu haben, starke Banken. Frankreich ist durch die große Krise verhältnismäßig wenig aus dem Gleichgewicht geworfen worden, aber es hat gereicht, um nun diese aufflackernden Unruhen zu schaffen. Nun sollen wir das auch nicht überschätzen. Wenn Sie ein paar Jahre zurückgehen, da gab es den großen Roquefort-Streit in der Provinz, da wo Roquefort-Käse hergestellt wird, das ist ja eine ganze Köstlichkeit, sehr französisch und nur dort, und da ging es um antiamerikan... sozusagen die amerikanische Konkurrenz. Und da war ganz Frankreich auf der Seite der Roquefort-Bauern. Das ist wieder vorübergegangen, es gibt immer noch Roquefort, und im Grunde war es so ein kurzes Aufflackern. Es hat den Pilotenstreik gegeben, es hat alle möglichen Streiks gegeben, Bauernstreiks, die immer sehr radikal aussehen, aber dann doch sich als ein, na ja, ein Strohfeuer erweisen. Ob gegenwärtig das ein Strohfeuer ist oder nur viele kleine Strohfeuer einen größeren Flächenbrand bedeuten, das kann zurzeit niemand sagen. Das kommt auch auf die Länge der Krise an.

    Liminski: Soziale Unruhen in Frankreich, noch keine Gefahr für einen Flächenbrand, könnte es aber werden. Das war der Publizist und Historiker Professor Michael Stürmer, besten Dank für das Gespräch!