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Ocean Vuong: "Auf Erden sind wir kurz grandios"
Sicher dauerhaft grandios

Mit Ocean Vuongs Debütroman „Auf Erden sind wir kurz grandios“ tritt eine neue Form der engagierten Literatur mit weltweiter Beachtung auf: Mit hohem Kunstanspruch entsteht im Grenzgebiet zwischen Erzählung, Gedicht und Essay so etwas wie literarische Selbstermächtigung.

Von Insa Wilke | 21.07.2019
Buchcover: Ocean Vuong: „Auf Erden sind wir kurz grandios“
Starker Auftritt des New Yorker Dichters Ocean Vuong (Foto: Tom Hines, Buchcover: Carl Hanser Verlag)
In den letzten Jahren ist eine neue Form der politisch engagierten Literatur entstanden. Ihre Grundlage sind meistens migrantische, oft auch queere Erfahrungen, Erfahrungen von Rassismus, traumatische Erlebnisse, die sich in die Körper eingeschrieben haben. Anders als die politisch engagierte Literatur im Umfeld der 68er-Bewegung, geht es heutigen Autorinnen und Autoren nicht darum, eine Mehrheitsgesellschaft zu erziehen oder aufzuklären. Für die interessieren sie sich gar nicht so sehr. Diese Autor*innen sagen: Klärt Euch selbst auf, es geht uns jetzt mal nur um uns. Vor allem unterscheidet sich diese neue engagierte Literatur in der Form.
Das Fragment kehrt zurück, Gattungsgrenzen gelten nicht und auch in der Form ist die Haltung: Es ist uns gleichgültig, ob unsere Texte in jeder Zeile überzeugen. Was zählt, ist Inspiration, nicht Perfektion. Was zählt, ist, mit dem Philosophen Achille Mbembe gesprochen, der Versuch, die Vergangenheit zu löschen und die Zukunft aus dem Nichts zu erfinden. Dabei bewegen diese Texte sich im offenen Raum zwischen Autobiographie und Fiktion und sind gerade nicht geschichtsvergessen.
Märchen vom American Dream
Einer der gerade sichtbarsten Protagonisten dieser Literatur heißt Ocean Vuong. Seine Geschichte könnte man so erzählen: Ein Junge emigriert mit seiner Mutter aus Vietnam in die USA. Es ist das Jahr 1990, der Junge ist zwei Jahre alt. Zwanzig Jahre später wird er seinen ersten Gedichtband veröffentlichen, mit einem ersten Literaturpreis ausgezeichnet werden, auf den viele weitere folgen und schnell zu den in New York gefeierten Talenten gehören.
In Ländern, die ja eigentlich andere Chancengleichheit und Gerechtigkeit lehren möchten, nennt man eine solche Geschichte immer noch "verblüffend", als würde endlich ein Märchen wahr werden. Man könnte nun denken, Ocean Vuong nutzt diese Verblüffung. Man könnte denken, er erzählt nach seinem dritten, von allen maßgeblichen US-amerikanischen Magazinen, Zeitungen und Preisjurys zum wichtigsten Buch 2016 erklärten Gedichtband "Night Sky with Exit Wounds" genau dieses Märchen vom American Dream des Aufstiegs, der zwar seinen Preis, aber eben auch ein Happy End hat.
Vietnamesische Einwanderer anders mit den USA verzahnt
In seinem filigranen, realitätssüchtigen und energiegeladenen Debüt-Roman "Auf Erden sind wir kurz grandios", dessen Titel sich dem Gedicht "On Earth We’re Briefly Gorgeous" verdankt, nimmt er diesen Faden aber nur kurz auf. Er erwähnt, wie sein Alter Ego, ein Junge, den alle "Little Dog" nennen, nach einer "miesen Higschool-Zeit" nach New York zieht, um in den Bibliotheken dort
"(...) über den schwer verständlichen Texten toter Menschen zu brüten, von denen die meisten sich nie hätten träumen lassen, dass ein Gesicht wie meines einmal über ihren Sätzen schweben würde – und am allerwenigsten, dass diese Sätze mich einmal retten würden."
Das klingt nun tatsächlich nach James Baldwin, Toni Morrison und den Autorinnen und Autoren der Bürgerrechtsbewegung in den USA, die sich endlich einschreiben wollten in die us-amerikanische Geschichte, aus der sie ausgeblendet wurden. Aber es sind nicht die 1960er und 70er Jahre. Vuong wurde erst 1988 und in Saigon geboren. Die vietnamesischen Einwanderer sind durch den Krieg historisch anders mit den USA verzahnt und kamen erst spät ins Land, wo sie sich in Nagelstudios, Imbissen und Blumenläden krummlegten. Sie hatten wenig Aussicht auf Träume à la Hollywood. Vuongs Erzähler schreibt ja auch, dass er diese Zeilen, die den klassischen Aufstieg durch Bildung andeuten, eigentlich streichen wollte. Er lässt sie aber stehen und schlägt von ihnen ausgehend eine andere Richtung ein, indem er anfügt:
"Aber nichts davon ist jetzt wichtig. Wichtig ist nur, dass mich all das, auch wenn ich es damals noch nicht wusste, hierhergeführt hat, auf diese Seite, und ich dir erzählen kann, was du nie wissen wirst."
Gegenbewegung zum Schutzzauber aus Vietnam
Die Angesprochene ist seine Mutter. "Auf Erden sind wir kurz grandios" ist ein Brief. Roman steht wohl nur drüber, um den Autor nicht vollkommen auf seine Biographie festzulegen.
Es ist nur eine graduelle Verschiebung, aber Vuong interessiert sich im Kern gar nicht für die Aufstiegsgeschichte. Und sein Brief an die Mutter wird weder dankbare Hommage noch Abschied. Ocean Vuong orchestriert auf eine schon fast vom Publikum abgewandte Weise eine Selbstverständigung, der wieder eines der Gedichte aus "Night Sky with Exit Wounds" das Thema gibt: "Someday I’ll Love Ocean Vuong". Es ist die Gegenbewegung zu dem Schutzzauber, den die Großmutter Lan aus Vietnam mitgebracht hat.
"Ich hatte und habe viele Namen. Little Dog, so nannte mich Lan. Was brachte eine Frau, die sich selbst und ihrer Tochter Blumennamen gab, dazu, ihren Enkel einen Hund zu nennen? Eine Frau, die auf ihre Familie aufpasst, ganz genau."
((Zwischentitel: Etwas zu lieben und vor bösen Geistern zu schützen, heißt, ihm einen schäbigen Namen geben.))
Gegen alle Zumutungen der Herkunft
Diese Großmutter ist übrigens eine erstaunliche Frau. Sie läuft aus einer schlechten Ehe und von der Familie weg. Sie gibt sich einen neuen Namen, prostituiert sich, bis sie mitten im Krieg einen schüchternen amerikanischen Soldaten kennenlernt, die beiden sich verlieben und Rose geboren wird. Da ist der Soldat aber schon wieder bei seiner amerikanischen Familie. Als Großvater Paul taucht er in den USA im Leben von Little Dog wieder auf, sichtlich beschädigt durch den Krieg und den Verrat an seiner ersten, seiner vietnamesischen Frau, die ihren Enkel lehrt:
"Etwas zu lieben heißt so, ihm einen derart schäbigen Namen zu geben, dass es vielleicht unberührt bleibt – und am Leben. Ein Name, dünn wie Luft, kann auch ein Schild sein. Ein Kleiner-Hunde-Schild."
Indem Little Dog sich erst an die Mutter Rose, die Großmutter Lan und seine Kindheit erinnert, dann, im zweiten Teil, an seine Liebe zum gleichaltrigen Trevor, erschafft er sich selbst unter veränderten Bedingungen, nämlich denen der Schönheit. Das ist eine Selbstermächtigung – gegen alle Zumutungen der Herkunft, allen voran der, buchstäblich ein Produkt des Krieges zu sein. Erst im dritten Teil aber wechselt Vuong doch noch in den Ton eines Aufrufs.
Als Leserin schaut man wie durch ein Guckloch
Ein Coming-of-Age-Roman also? Nein, es geht zwar um den Erzähler, aber eben auch nicht. In Bruchstücken wird zwar eine Lebensgeschichte erzählt, aber im Prinzip spielt der ganze Roman in dem Moment, in dem der Brief geschrieben wird. Der Anlass ist sehr einfach:
"Ma, ich schreibe, um dich zu erreichen – auch wenn jedes Wort auf dem Papier ein Wort weiter weg ist von dort, wo du bist. Ich schreibe, um zu jenem Mal an der Raststätte in Virginia zurückzukehren, als du voller Entsetzen den ausgestopften Hirschkopf angestarrt hast, der über dem Getränkeautomaten bei den Toiletten hing; sein Geweih überschattete dein Gesicht."
Als Leserin schaut man wie durch ein Guckloch in den Raum zwischen zwei Menschen, allerdings nur aus der einen Perspektive. Vuong lässt, ganz auf die Schwingungswellen der Sprache vertrauend, die Situation fragil werden. Die Mutter wird den Brief nie lesen können, weil sie Analphabetin ist. Die Schrift, die Sprache schafft Distanz, durch die Little Dog seine Mutter klarer zu sehen versucht. Eine Distanz also, die Nähe schafft. Freikommen wolle er schreibend, schreibt er. Freikommen wovon?
((Zwischentitel: Gewalt als eine Zuwendung zu verstehen, lernt Little Dog schon mit vier Jahren))
"Das erste Mal, als du mich geschlagen hast, muss ich vier gewesen sein. Eine Hand, ein Wimpernschlag, eine Strafe. Mein Mund ein Aufflammen von Berührung."
Gewalt als Zuwendung verstehen
Die getaktete Sprache vermittelt die Erfahrung der Schläge, das Aufgehen in den weichen Konsonanten im letzten Satz dieser Passage, wie der Junge von klein an durch seine Mutter lernt, Gewalt als Zuwendung zu verstehen. Das setzt sich in Little Dogs Liebesbeziehung zu Trevor fort, den er beim Arbeiten auf einer Tabak-Plantage kennenlernt. In der sexuellen Unterwerfung erkennt er jetzt aber eine andere Qualität.
"Wie nennt man das Tier, das auf den Jäger trifft und von sich aus anerbietet, gefressen zu werden. Einen Märtyrer? Einen Schwächling? Nein: ein Tier mit dem seltenen Vermögen, stehen zu bleiben. Ja, der Schlusspunkt in einem Satz – das ist es, was uns menschlich macht, Ma. Ich schwöre es. Er lässt uns anhalten, damit wir weitermachen können."
Ocean Vuong schildert die Szenen der Gewalt äußerst ambivalent. Gewalterfahrungen und extrem harte Szenen rhythmisieren im Wechsel mit Gesten der Fürsorglichkeit seinen Text. Wer hier schnell urteilen will, entzieht sich dem, worum es in "Auf Erden sind wir kurz grandios" geht: eine Umwertung. Der Titel sagt es schon: Man muss dem Textfluss in seinen einzelnen, grandiosen Momenten folgen, um das zu verstehen.
"Vor den Napalmwolken deiner Kindheit"
Noch einmal zum Anfang. In Fragmenten einer Gestik der Liebe, einer Sprache der Trauer und der in die Grammatik abgesunkenen Wut nähert Vuongs Erzähler sich dieser Mutter, und nähert sich also sich selbst, ihrem Sohn. Nie geht es dabei um reine Darstellung, immer um Erkenntnisdrang. Die Szenen der Gewalt werden zu Metaphern. Das macht das Buch so stark, so souverän und trotz eines zunehmenden Pathos und nicht immer überzeugender Bilder dauerhaft bedeutend.
Eines der starken Bilder, mit denen Vuong leitmotivisch die Familiengeschichte befragt, sind die Wanderfalter, Monarchfalter, die jedes Jahr aus Nordamerika nach Mexiko ziehen, um dort zu überwintern.
"Manchmal stelle ich mir vor, dass die Monarchfalter nicht vor dem Winter fliehen, sondern vor den Napalmwolken deiner Kindheit in Vietnam. Ich stelle mir vor, wie sie unversehrt aus den sengenden Druckwellen hervorschweben, ihre winzigen schwarzroten Flügel wie Ascheflocken, die weiter durch den Himmel gewirbelt werden, für tausende Kilometer, sodass man beim Aufschauen nicht länger die Explosionen erahnen kann, aus denen sie kommen, nur eine Familie von Schmetterlingen, die in sauberer, kühler Luft dahinschwebt, ihre Flügel, endlich, nach so vielen Brandstürmen, feuerfest."
((Zwischentitel: Die Kriegserfahrung der Mutter entschuldigt nichts, aber erklärt vieles.))
"Hand an dein Kind zu legen", schreibt der Sohn seiner traumatisierten Mutter, bedeute möglicherweise, "es auf den Krieg vorzubereiten". Die Kriegserfahrung der Mutter entschuldigt nichts, aber sie erklärt etwas. Wie den Monarchfaltern die Erinnerung an den Winter, ist seiner Mutter der Krieg in die Gene gedrungen und hat sie programmiert: Man muss überleben.
Ocean Vuongs Verhältnis zur Sprache
Am spannungsreichsten ist aber, wie Ocean Vuong sein Verhältnis zur Sprache beschreibt und damit einem Philosophen antwortet, mit dem er von Beginn an im Zwiegespräch steht: Roland Barthes, der nach dem Tod seiner Mutter, das heute befremdlich wirkende "Tagebuch der Trauer" geschrieben hat. Es hat etwas Schockierendes, wie Vuong dem französischen Philosophen seine Lebens-, Denk- und Spracherfahrung entgegenstellt. Auf Barthes’ Behauptung, für den Schriftsteller stehe die Muttersprache in einer ständigen Beziehung zur Lust, reagiert Vuong fragend:
"Doch was, wenn die Muttersprache verkümmert ist? Was, wenn diese Sprache nicht nur Symbol einer Leere, sondern diese Leere selbst ist, was, wenn die Zunge herausgeschnitten ist? Kann man Lust an Verlust haben, ohne sich völlig zu verlieren?"
((Zwischentitel: Ocean Vuongs Antwort auf Roland Barthes läutet eine Zeitenwende ein.))
Sein Vietnamesisch habe er von der Mutter gelernt. Vuong schreibt:
"Du warst noch ein Mädchen, als du von einem Bananenwäldchen aus zusahst, wie dein Schulhaus nach einem amerikanischen Napalmangriff einstürzte. Mit fünf hast du das letzte Mal ein Klassenzimmer betreten. Unsere Muttersprache ist überhaupt keine Mutter – sondern eine Waise. Unser Vietnamesisch ist eine Zeitkapsel, die den Punkt markiert, an dem deine Bildung endete, zu Asche zerfiel. Ma, unsere Muttersprache zu sprechen heißt, nur teilweise auf Vietnamesisch zu sprechen, aber ganz auf Krieg."
Schmerzhaft, toxisch, unterbezahlt
Die Evidenz dieser Sätze ist beschämend. Sie läuten eine Zeitenwende ein. "Gibt es eine Sprache für das Herausfallen aus der Sprache?", fragt Ocean Vuong ähnlich wie Senthuran Varatharajah es in der deutschsprachigen Literatur 2016 mit seinem sprachkritischen Debüt-Roman "Vor der Zunahme der Zeichen" getan hat. Es kündigt sich hier eine Generation an, die man für mangelnde Stringenz, einen zu kurzen erzählerischen Atem kritisieren, die man aber für das kreative Potential ihrer assoziativen Verfahren loben kann. Ihre formale Neuinterpretation engagierter Literatur löst bei manchen Kunstverratsverdächtigungen aus und begeistert andere, weil diese Texte so inspirierend sind, so offen und lebendig, so relevant. Ihre Form ist eine Art Memoir, mit fließenden Grenzen zur Lyrik und zum Essay. Autorinnen wie Maggie Nelson und Claudia Rankine zählen auch dazu, auch wenn sie älter sind als Varatharajah und Vuong.
Ihnen allen geht es nicht in erster Linie darum, Ungerechtigkeit anzuprangern, nicht um Verständnis für queeres Leben und migrantische Erfahrungen oder gar um Versöhnung. Diese Texte erschaffen ein neues Leben aus dem Nichts. Gerade Ocean Vuongs Buch wohnt nicht der Glaube inne, dass sich die Verhältnisse ändern. Symbolisch dafür steht das Nagelstudio, in dem die Mutter arbeitet:
"Ein neuer Einwanderer wird innerhalb von zwei Jahren begreifen, dass das Nagelstudio letztlich ein Ort ist, wo Träume zu dem Wissen verkalken, was es bedeutet, in amerikanischen Leibern – mit oder ohne Staatsbürgerschaft – wach zu sein: schmerzhaft, toxisch, unterbezahlt. Ich hasse und liebe deine misshandelten Hände dafür, was sie nie sein können."
Mit Trevor tritt neben die Gewalt das Begehren
Wenn die Verhältnisse sich aber von den Verhältnissen aus nicht verändern lassen, muss die Veränderung von anderer Seite kommen. Vuong nimmt erzählend eine Haltung ein, die bei Platon zweite Naivität hieß, also ein Zustand, in dem Erfahrung und Erkenntnis aufgenommen, aber überschritten wurden, so dass die Welt aus einem dann emotional befreiten Zustand betrachtet werden kann. Eine Haltung, deren Unabhängigkeit eher Furcht einflößt, als dass sie beruhigt. Sie ist das Fanal einer grundlegenden Erneuerung. Wieder ist es ein sehr einfaches Bild, mit dem Vuong beschreibt, worauf sein Buch hinausläuft. In der dritten Klasse habe Little Dog ein Buch geliebt, in dem eine Großmutter mit ihrer Enkelin einen Kuchen backt, anstatt sich vor einem drohenden Unwetter in Sicherheit zu bringen.
"Etwas lichtete sich in mir bei dieser gefährlichen und doch kühnen Missachtung gesunden Menschenverstands. Während Mrs. Callahan hinter mir stand, ihr Mund an meinem Ohr, wurde ich tiefer in den Strom der Sprache hineingesogen. Die Geschichte entrollte sich, der Sturm grollte herein, während sie sprach, grollte dann noch einmal, wenn ich die Worte wiederholte. Einen Kuchen backen im Auge des Sturms. Sich mit Zucker nähren am Abgrund der Gefahr."
((Zwischentitel: Etwas gut nennen, kann eine Form der Selbstermächtigung sein.))
Das meint mehr als überleben, es bedeutet das gute Leben im schlechten zu finden. Wie die Liebe zu Trevor, von der Vuong im zweiten Teil des Romans erzählt. Ist das affirmativ? Resignativ? Unpolitisch? In rauschartig auf die Körper verengten Szenen tritt mit Trevor neben die Gewalt das Begehren. Wie direkt Vuong den Sex erzählt, ist in Zeiten von neuer Homophobie und spießigen, entmündigenden Trigger-Warnungen auf Buchumschlägen bemerkenswert. Genauso wichtig ist aber, was Trevor ihm beibringt:
"Er war ein Junge, der aus sich heraus- und zugleich in sich einbrach. Das war es, was ich wollte – nicht nur den Körper, so anziehend er war, sondern seinen Willen, in dieselbe Welt hineinzuwachsen, die seinen Hunger zurückwies."
Momente werden zu politischen Widerstandstaten
Trevor ist zwar weiß, aber Sohn eines verlassenen Vaters, der sich schon das Hirn weggesoffen hat und immer noch von seinem Sohn Männlichkeit verlangt. Trevor wird durch das Medikament Oxycontin sterben, das ihn wie viele süchtig macht. Vuong erzählt von der sogenannten Opioid-Krise als einer Form gesellschaftlicher Aggression, die den Profit über den Menschen stellt. Er selbst stellt wiederum über diese Kapitalismus-Kritik seinen Blick auf Trevor.
"Du bist Rose. Du bist Lan. Du bist Trevor. Als ob ein Name mehr als ein Ding sein kann, tief und weit wie eine Nacht mit dem Lastwagen, der im Leerlauf an ihrem Rand steht, und du einfach aus deinem Käfig heraustreten kannst, wo ich auf dich warte. Wo wir unter den Sternen, im Licht längst verstorbener Dinge, endlich sehen, was wir auseinander gemacht haben – und es gut nennen."
Von Trevor lernt Little Dog, etwas gut zu nennen, was nach Scheitern und Scham aussieht. Von der wirren Großmutter lernt er, dass man für Schönheit sein Leben aufs Spiel setzen muss. Er lernt es schreibend, erinnernd, nachdenkend, nachträglich. "Etwas anzusehen heißt, dein ganzes Leben, wenn auch nur kurz, damit auszufüllen", schreibt Ocean Vuong. All diese Momente werden zu politischen Widerstandstaten, weil sie der vorgegebenen Weltbetrachtung eine andere entgegensetzen. Eine mit Sprengkraft. Es sind kurze, grandiose Momente des Widerstands: Plötzlich ist da eine Wahl.
Monarchfalter, der sich aus der Geschichte streicht
"Diese ganze Zeit über habe ich mir gesagt, dass wir aus dem Krieg geboren wurden – aber ich habe mich geirrt, Ma. Wir wurden aus Schönheit geboren. Niemand soll glauben, wir seien die Frucht der Gewalt – sondern dass Gewalt, die durch die Frucht hindurch gegangen ist, sie nicht verderben konnte."
Manche Monarchfalter, erzählt der Sohn bei Vuong seiner Mutter, fliegen nicht weiter auf ihrem Weg nach Süden. Sie sterben und "streichen sich aus der Geschichte", setzen einen Punkt. Ocean Vuongs schreibender Sohn ist so ein Monarchfalter, der sich aus einer Geschichte streicht, die zyklisch Gewalt reproduziert. Anhalten, damit wir weitermachen können. Ocean Vuong streicht sich aus dieser Geschichte und schreibt sich darin neu, dieses Mal feuerfest. Es verändert sich nichts, es entsteht etwas Neues. Das ist die große Befreiung dieses Buchs.
Ocean Vuong: "Auf Erden sind wir kurz grandios"
Aus dem Englischen von Anne-Kristin Mittag
Carl Hanser Verlag, München 2019. 240 Seiten, 22 Euro.