Donnerstag, 25. April 2024

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OECD-Bildungsdirektor über Studiengebühren
"Der Staat investiert nicht ausreichend"

In Deutschland gebe es heute weniger Geld für ein gutes Studium als früher, sagte OECD-Bildungsdirektor Andreas Schleicher im Dlf. Sein Vorschlag: nachgelagerte Studiengebühren. Die seien sozial gerecht – und eine wesentlich kleinere Barriere als die Zugangsbeschränkung.

Andreas Schleicher im Gespräch mit Lena Sterz | 30.09.2019
Studierende an der Universität in Leipzig im Hörsaal
Das Beispiel England zeige: Studiengebühren haben letztendlich dazu geführt, dass mehr junge Menschen ein besseres Studium bekommen, sagte Schleicher. (imago / Zuma Press)
Lena Sterz: Morgen beginnt an vielen Hochschulen offiziell das neue Semester, und es ist erst zehn Jahre her, da war die finanzielle Situation zu Beginn des Semesters für viele Studierende noch eine ganz andere als heute: 500 Euro Studiengebühren mussten überwiesen werden. Das schwebte wie ein Damoklesschwert über dem Semesterbeginn. So viel musste man in den Semesterferien irgendwie zusammenbekommen. Das war in den meisten westdeutschen Bundesländern – also dort, wo Schwarz-Gelb an der Macht war. Durch politische Machtwechsel wurden die Studiengebühren dann nach und nach wieder abgeschafft, heute muss man noch vereinzelt zahlen, wenn man länger studiert als vorgesehen oder ein Zweitstudium aufnimmt. Wenn es nach dem OECD-Bildungsdirektor und Bildungsforscher Andreas Schleicher ginge, wäre das gebührenfreie Studium aber bald wieder Geschichte: Er fordert nachgelagerte Studiengebühren, wie es sie in England und Australien gibt – und zwar mit dem Argument, dass die sozial gerechter seien als gar keine Studiengebühren.
Andreas Schleicher: Wir müssen uns zunächst mal überlegen, was ohne Studiengebühren passiert. In Deutschland sind die Ausgaben pro Studierendem in den letzten Jahren deutlich gesunken, das heißt, es gibt heute weniger Geld für ein gutes Studium, als das früher der Fall war. Also der Staat investiert nicht ausreichend. Das heißt dann zweierlei: Auf der einen Seite kann man Studienplätze beschränken, das trifft dann meistens auch die bildungsfernen Schichten, oder man kann Studiengebühren gerecht – sozial gerecht – einführen und damit die Studierenden absichern. Wenn das nicht passiert, ist es meistens so, dass diejenigen, die eben aus günstigeren sozialen Schichten kommen, dann den Zugang zu den besseren Plätzen bekommen. Die Studiengebühren sehen wir als eine wesentlich kleinere Barriere als ein schlechter finanziertes Studium oder die Zugangsbeschränkung.
Sterz: Wie meinen Sie das, dass die sozial bessergestellten Studierenden an die besseren Plätze kommen?
Schleicher: Das ist doch in der Tat so der Fall. Wenn Sie sich heute die Verteilung von Plätzen anschauen: Wenn Sie aus sozial günstigem Umfeld kommen, haben Sie in Deutschland etwa eine dreimal so hohe Wahrscheinlichkeit, einen Studienplatz zu bekommen, wie wenn Sie aus einem sozial ungünstigen Umfeld kommen. Das ist heute in Deutschland die Realität. Wenn Sie in einige Länder mit nachgelagerten Studiengebühren schauen, Australien und England sind gute Beispiele, dort sind die Chancen wesentlich ausgewogener, weil eben die Studiengebühren dort den Ausbau des Studiums und die gute Förderung von Schülern erlauben, auch von Menschen, die vielleicht noch nicht so den Hintergrund dafür haben.
Das Foto zeigt Studierende an der Universität in Leipzig.
Studierende an der Universität in Leipzig im Hörsaal (picture-alliance / dpa / Waltraud Grubitzsch)
Sterz: Ja, der Zugang zum Studium, der liegt mit Sicherheit auch oft am Schulsystem, vielleicht auch am besonderen deutschen Schulsystem, aber das wollen wir ja heute nicht diskutieren. Deswegen lassen Sie uns noch mal aufgreifen, was Sie vorher sagten, dass die Hochschulen nicht ausreichend vom Staat finanziert werden aktuell. Warum fordern Sie nicht dann stattdessen, dass die Gelder der Hochschulen generell aufgestockt werden vom Staat mit Steuermitteln, die Wirtschaft boomt ja.
Schleicher: Ja, absolut, das kann man auch machen. Es gibt auch einige Länder, wenn wir an die nordischen Staaten Europas denken, die machen das sehr erfolgreich. Da wird sehr viel öffentliches Geld in die Hochschulen investiert, und die Leute zahlen das dann später zurück mit einer entsprechend höheren Einkommenssteuer. Das funktioniert, das kann man machen.
Sterz: Wäre das nicht sozial gerechter?
Schleicher: Das weiß ich nicht. In den nordischen Staaten ist es gerecht, weil die Beteiligung an der tertiären Bildung sehr hoch ist, das heißt, praktisch alle jungen Menschen profitieren davon. In Deutschland müsste man sagen, wenn man das heute ausschließlich ohne Erweiterung so machen würde, würde das ja heißen, dass die Menschen ohne Studium das Studium der reichen Kinder finanzieren.
Sterz: Wenn sie ein gutes Einkommen haben.
Schleicher: Ja.
"Wer weniger verdient, steht vor keinem Risiko"
Sterz: Wie wäre denn Ihr genauer Vorschlag zu nachgelagerten Studiengebühren? Wann sollen die bezahlt werden und ab welchem Einkommen soll man dann zahlen?
Schleicher: Ja, ich denke, das sind wichtige Fragen, die lassen sich nicht leicht beantworten. In England ist es so, das sind so um die 35.000 Euro Einkommen, ab denen man dann anfängt zurückzuzahlen. Wer weniger verdient, der steht vor keinem Risiko. Ich denke, das ist auch ein wichtiger Ansatz, denn ansonsten können Studiengebühren abschreckend wirken. Zum Zweiten ist das Darlehen staatlich garantiert, das finde ich auch sehr wichtig, dass auch dort kein Risiko für die Beteiligten entsteht. Ich denke, wenn Sie nach England schauen, die Studierendenzahlen sind dort immer weiter nach oben gegangen, die Studiengebühren haben letztendlich dazu geführt, dass mehr junge Menschen ein besseres Studium bekommen haben. Und ich denke, das sollte man schon als eine Möglichkeit sehen. Ich habe nichts dagegen, wenn der Staat jetzt bereit wäre, deutlich mehr Geld zu investieren, nur das ist sehr schwer absehbar in Deutschland.
Sterz: Sie sagten gerade, dass in England trotzdem mehr junge Leute ein Studium beginnen. In Deutschland waren die Erfahrungen ja nicht unbedingt so. Eine Studie des Hochschulinformationssystems aus dem Jahr 2006 hat gezeigt, dass in vielen Bundesländern, wo Studiengebühren gerade beschlossen wurden, bis zu 18.000 Abiturienten explizit wegen Studiengebühren sich gegen ein Studium entschieden haben – besonders oft waren das junge Frauen und Menschen aus bildungsfernen Schichten. Und eine andere Studie hat auch gezeigt, dass es fast egal ist, ob die Jugendlichen jetzt in einem Bundesland wohnten, in dem es Studiengebühren schon gab oder auch nicht. Also auch in den ostdeutschen Ländern, in denen es nie Studiengebühren gab, hat jeder und jede Fünfte gesagt, dass er wegen drohender Studiengebühren unsicher ist, ob er oder sie überhaupt studieren soll. Wie wollen Sie sicherstellen, dass nachgelagerte Studiengebühren nicht im selben Maße vom Studium abschrecken?
Schleicher: Ich denke, da spielt die Einkommensgrenze dann eben doch eine Rolle. Also wie gesagt, wenn man die entsprechend hoch ansetzt, stehen junge Menschen vor keinem Risiko, dass die Einkommensgrenze sehr niedrig war, das heißt junge Menschen haben schon auch dann vor einem Risiko gestanden. Wenn Sie die Schwelle entsprechend hoch ansetzen, dann, denke ich, gibt es dieses Risiko nicht. Es gibt im Grunde zwei Lösungen: Sie können als Staat allen jungen Menschen das Studium finanzieren, das kann funktionieren. Sie können im Grunde nachgelagerte Studiengebühren oder Studiengebühren insgesamt einführen, das kann auch funktionieren. Was nicht funktioniert, ist nicht genügend zu investieren und dann im Grunde die Studienbedingungen zu verschlechtern – und genau das passiert in Deutschland. Das ist in meinen Augen die ungünstigste Lösung.
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