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Ödön von Horváth in Salzburg
Rassistische Schüler, feiger Lehrer

Ödön von Horváth hat in seinem antifaschistischen Roman "Jugend ohne Gott" beschrieben, wie sich eine Gesellschaft brutalisiert. Regisseur Thomas Ostermeier stellt bei seiner Bühnenadaption die Frage nach der individuellen Verantwortung. Eine gelungene Premiere bei den Salzburger Festspielen.

Von Karin Fischer | 29.07.2019
Szene aus "Jugend ohne Gott" mit Laurenz Laufenberg, Alina Stiegler, Moritz Gottwald und Lukas Turtur.
Szene aus "Jugend ohne Gott" bei den Salzburger Festspielen (SF/Arno Declair)
"Legt sich jeder die Frage vor: Was verdanke ich Adolf Hitler? So kann er aus vollem Herzen nur zu der einen Antwort kommen: Alles."
So schrieb Horst R. aus Braunschweig im Jahr 1935. Das Zitat aus dem Buch "Geliebter Führer. Briefe der Deutschen an Adolf Hitler" ist dem Stück vorangestellt. Jörg Hartmann verwandelt sich, während er es spricht, vom Schauspieler in die Figur des Lehrers. Ein kleines Ausrufezeichen steht also am Beginn dieser Inszenierung: Achtung! Unbedingte Gefolgschaft erntet, wer einem Menschen lang ersehnten Urlaub ermöglicht, weil der wieder Arbeit hat. So einfach ist es.
Gleichnis für Zivilcourage
Das Stück selbst erfährt nicht die Aktualisierung wie im vergangenen Jahr Thomas Ostermeiers Horváth-Stück "Italienische Nacht" in Berlin. Dort und im Eribon-Projekt mit Nina Hoss, "Die Rückkehr nach Reims", ging es um den Rechtsruck in Europa und die Verantwortung der Linken. Jetzt und heute interessiert den Regisseur mehr die Frage nach individueller Verantwortung, nach Anpassung oder Widerstand. Ostermeier liest "Jugend ohne Gott" als Gleichnis für Zivilcourage.
Nach der Formel "Gott = die Wahrheit", die im Roman selbst aufgestellt wird, entwickelt sich der namenlose Lehrer vom desillusionierten und frustrierten Humanisten, der Broterwerb und Pension retten will, indem er sich in diktatorischen Zeiten äußerlich anpasst, zum aktiven Aufklärer, der am Ende – nochmal: Achtung! – ausgerechnet nach Afrika auswandert.
Dass Ostermeier dabei das böse N-Wort durch "Afrikaner" ersetzt? Geschenkt! Die heutige Jugend könnte, wie zuletzt bei der Aufführung von Claudia Bauers Inszenierung von "89/90" beim Theatertreffen, sich daran verschlucken und wegen politisch korrekter Proteste die eigentliche Botschaft verpassen. In Horváths Roman, der 1934 spielt, illustriert der Satz gleich am Anfang den ideologischen Hintergrund.
Medien und Jugend sind gleichgeschaltet
"Alle Afrikaner sind hinterlistig, feig und faul."
Weil das genau so im Radio gesagt wird, darf der Lehrer es im Schüleraufsatz nicht anstreichen. Für den Hinweis vor der Klasse, dass Afrikaner doch auch Menschen sind, kriegt er prompt Ärger: "Sabotage am Vaterland" oder "Humanitätsduselei" hieß sowas damals.
Die Medien, die Gesellschaft und die Jugend sind also schon gleichgeschaltet in Horváths Roman, der nun aber detailreich eine ganz andere Geschichte erzählt: von einer Wehrertüchtigung der Schüler im Zeltlager, von jugendlicher erotischer Verirrung, von einem Mord unter Schülern, einer Gerichtsverhandlung – und von einem folgenschweren Entschluss.
"Ja, Gott ist schrecklich. Aber ich will ihm einen Strich durch die Rechnung machen, mit meinem freien Willen, einen dicken Strich. Ich werde alle retten."
Kurze Szenen vor dichtem Wald
Ostermeier erzählt den Roman konventionell in Kürzest-Szenen, die er zusammen mit Dramaturg Florian Borchmeyer gebaut hat. Vor einem dichten Wald aus glatten, kahlen Stämmen reichen wenige Requisiten – Tisch, Stuhl, Bett, Lampe, zwei Mikrofone – als flexible Möblierung aus.
Fünf Schauspieler und zwei Schauspielerinnen übernehmen alle Rollen. Das Umziehen findet auf offener Bühne und fast unmerklich statt. Der Erzähltext ist auf mehrere Stimmen verteilt. Videogroßprojektionen von Gesichtern auf eine Militärdecke oder auf ein Zelt illustrieren emotionale Verwicklungen. Feine Musikakzente sind zu hören, und die Lichtregie bringt sogar Bäume in Bewegung.
Handwerklich und schauspielerisch ist das ganz große Kunst! Und inhaltlich eine Achterbahn der Glaubensfragen: Ein Pfarrer erklärt brillant, warum die Kirche immer auf der Seite der Reichen stehen muss. Der Lehrer will "alle retten", hängt aber zu "Führers Geburtstag" schon früher als andere die Fahne aus dem Fenster. Er ist schwach, und er weiß das. Die Wahrheit, die er sucht, relativiert er selbst.
Der Lehrer spielt Gott
Jörg Hartmann ist das leise Kraftzentrum der Aufführung, mehr Erzähler denn Akteur, mehr Zweifler als Belehrender. Horváths Clou: Der Lehrer spielt Gott und rettet letztendlich die Wahrheit, auch wenn der Preis dafür hoch ist.
Schaubühnen-Chef Thomas Ostermeier indes hat mit einer vergleichsweise unspektakulären Inszenierung ohne jede Kraftmeierei und einem hervorragenden No-Star-Ensemble die wichtige Frage gestellt, die uns auch heute dringend interessieren muss: Wer hält die Wahrheit und die Menschlichkeit aufrecht, wenn die nächste dunkle Epoche droht?