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Ökonom fordert "Ende der Bescheidenheit" in der Lohnpolitik

Angesichts der boomenden deutschen Wirtschaft hat der Wirtschaftswissenschaftler Rudolf Hickel eine "expansive Lohnpolitik" gefordert. Die Beschäftigten stünden unter unglaublichem Stress, der auch belohnt werden müsse. Eine Wende in der Lohnpolitik wäre nicht nur ein Akt der Gerechtigkeit, sondern auch ökonomisch zutiefst sinnvoll.

Moderation: Gerd Breker |
    Gerd Breker: Der wirtschaftliche Aufschwung ist einfach nicht mehr zu leugnen. Die Auftragsbücher der Industrie im Monat Februar waren so gut gefüllt wie schon lange nicht mehr. Die Sozialversicherungen freuen sich über gefüllte Kassen, der Finanzminister sieht sein Steuersäckel prall gefüllt und der Lehrstellenmarkt meldet Rekorde an Ausbildungsplätzen. Der Konjunkturfrühling blüht und blüht. - Am Telefon begrüße ich nun den Bremer Wirtschaftswissenschaftler Rudolf Hickel. Guten Tag Herr Hickel!

    Rudolf Hickel: Schönen guten Tag!

    Breker: Der Aufschwung ist da. Wem verdanken wir das? Welche Früchte ernten wir? Die von der rot-grünen Regierung Schröder oder die der Großen Koalition?

    Hickel: Darüber wird es viel parteipolitischen Streit geben. Ich habe eine klare Antwort: Wir sind in einem klassischen konjunkturellen Aufschwung. Die Unternehmer haben in den letzten Jahren sehr wenig investiert und nun sind zwei Triebkräfte, die die Konjunktur erklären. Das erste sind die Exporte. Das zeigt übrigens, dass Deutschland international enorm wettbewerbsfähig ist. Und all die Politiker, die gesagt haben, wir hätten Wettbewerbsfähigkeit verloren, haben sich geirrt. Das zweite ist ganz entscheidend: großes Kompliment an die Unternehmer. Die Unternehmer haben lange nicht mehr modernisiert, haben nicht mehr investiert und sind jetzt dabei, richtig massiv Erweiterungsinvestitionen vorzunehmen. Das sind die Triebkräfte und ich sage mal trotz oder wegen der laufenden Regierung, das braucht man gar nicht zu beurteilen.

    Breker: Die Politik kann gar nichts dafür?

    Hickel: So ungefähr, ja!

    Breker: Offenbar hat entgegen allen Befürchtungen die Erhöhung der Mehrwertsteuer überhaupt nicht geschadet?

    Hickel: Das sehe ich etwas anders. Wir haben in der Tat ja die Vorzugseffekte gehabt - ich selbst habe das ja auch gemacht -, dass man versucht hat, größere Anschaffungen im letzten Jahr vorzunehmen. Das hat dazu geführt, dass die Konsumtion, die konsumtive Nachfrage zugenommen hat. In diesem Jahr waren am Anfang große Rabattschlachten, aber ich denke, dass die deutsche Bundesbank schon Recht hat, dass wir ungefähr einen Prozentpunkt Inflation in den nächsten Monaten zurückführen müssen auf die Mehrwertsteuererhöhung. Deshalb glaube ich schon, dass jetzt allmählich die Unternehmer dazu übergehen, das zu tun was die Mehrwertsteuer eigentlich verlangt, nämlich die Überwälzung auf den Endverbraucher vorzunehmen, dass wir schon einen Preisanstieg bekommen, den wir ohne die Mehrwertsteuererhöhung auf 19 Prozent nicht bekommen hätten.

    Breker: Einen Preisanstieg, aber keinen Abschwung?

    Hickel: Nein. Das ist ganz richtig. Vielleicht ist das ganz wichtig. Die Konjunktur ist in der Zwischenzeit durch die Exportdynamik und durch die Investitionsdynamik der Unternehmer so stark, dass im Grunde genommen die Mehrwertsteuer am Ende in der gesamtwirtschaftlichen Wachstumsentwicklung wenig Schaden anrichtet, aber man spürt es natürlich im Bereich des privaten Konsums. Der Einzelhandel klagt nicht zu Unrecht. Dort spürt man schon, dass es im Grunde genommen Preisverteuerung gibt, und damit ist auch eine Abwertung der realen Kaufkraft schon spürbar.

    Breker: Besonders erfreulich, Herr Hickel, ist die Tatsache, dass der Aufschwung nicht nur die Großindustrie erfasst hat, sondern auch den Mittelstand. Der profitiert auch.

    Hickel: Ja, das ist ganz wichtig. Wir schauen ja immer sehr stark auf die großen Kapitalgesellschaften, etwa auf Allianz oder auf Daimler-Chrysler oder wie auch immer. Dort ist es in der Tat so, dass die Gewinne enorm nach oben gegangen sind, übrigens auch steuerlich stark bevorteilt. Aber der konjunkturelle Aufschwung ist in der Tat, was die Gewinnentwicklung beziehungsweise die Rendite des Wirtschaftens betrifft, bei den kleineren und mittleren Unternehmen angekommen. Deshalb kann man heute auch nicht mehr wieder dieses alte Märchen auflegen so nach dem Motto: den Großen geht es gut, den Kleinen geht es nicht gut. Alle Untersuchungen, die wir haben, auch von der Kreditanstalt für Wiederaufbau und vielen anderen, zeigen, auch der deutschen Bundesbank, dass der Mittelstand jetzt auch Profiteur ist.

    Breker: Dieser Tage, Herr Hickel, gab es eine Umfrage. Aus der geht hervor, dass 70 Prozent der Bundesbürger, also der Menschen, die in diesem Land leben, das Gefühl haben, dieser unbestreitbare Aufschwung, von dem wir ja jetzt auch reden, gehe an ihnen persönlich vorbei. Können Sie sich erklären, wieso diese Gefühle entstehen?

    Hickel: Ich finde, dass es einerseits Gefühle sind, Empfindungen, Erwartungen. Auf der anderen Seite haben sie aber durchaus auch eine reale Basis. Die großen Gewinner sind, wie wir ja schon besprochen haben, die Unternehmen. Die Gewinne sind enorm gestiegen, gerade bei den Kapitalgesellschaften, aber auch bei den kleinen und mittleren Betrieben. Die Aktionäre - das sehen wir jetzt bei dieser Reihe von Hauptversammlungen, die abgehalten werden - zeigen, die Aktionäre gehören zu den großen Gewinnern. Die Dividendenausschüttungen sind von einem auf zwei Euro gestiegen. Wir haben drittens natürlich auch die Manager, die ja eigentlich konjunkturunabhängig immer dabei sind, wenn es um Gehaltserhöhungen geht. Auf der anderen Seite - und das muss man sagen - ist der Aufschwung aber nicht bei der Mehrheit der Beschäftigten angekommen. Wenn wir uns die Lohndaten anschauen, die Lohnentwicklung, dann ist etwa im letzten Jahr der Netto-Reallohn, also das, was am Ende in der Tasche und im Portemonnaie übrig bleibt, sogar real gesunken. Hier zeigt sich - und das erklärt dann die Empfindungen und Gefühle und so weit sind die Befragungen dann auch realistisch -, dass die Lohnpolitik nicht nachgekommen ist. Im Gegenteil: die Unternehmer haben sogar Lohnbestandteile abgebaut. Die Tariflohnabschlüsse waren sehr moderat und es ist jetzt an der höchsten Zeit, diese Phase zu beenden und das Ende der Bescheidenheit einzuläuten, weil auch die Lohnzurückhaltung, die moderate Lohnpolitik durchgesetzt worden ist vor allem auch im letzten Jahr und in früheren Jahren. Die ist ökonomisch zurzeit ganz, ganz falsch, und zwar aus einem entscheidenden Grund: Sie selbst haben es am Anfang ja gesagt: Die deutsche Wirtschaft boomt! Wir haben eine unglaublich starke Auslastung der Kapazitäten. Das heißt übersetzt auf die Lage der Beschäftigten: die Beschäftigten stehen unter unglaublichem Stress. Um hier auch Motivation herzustellen und in gewisser Weise eine Art von Belohnung für diesen enormen Einsatz, ist jetzt ganz wichtig, endlich eine expansive Lohnpolitik durchzusetzen. Die entspricht nicht nur der Gerechtigkeit, sondern sie ist ökonomisch zutiefst sinnvoll.

    Breker: Wenn also der DGB-Vorsitzende Michael Sommer, Herr Hickel, heute in der in Hannover erscheinenden Neuen Presse eine dauerhafte Wende in der Lohnpolitik fordert, dann geben Sie ihm absolut Recht?

    Hickel: Ich gebe ihm Recht und ihm geben ja in der Zwischenzeit auch Unternehmer Recht. Wir haben ja erste Tarifabschlüsse, die zu Beginn des Jahres glaube ich keiner so richtig erwartet hat, nämlich im Baubereich, im Chemiebereich bei 3,5 Prozent. Die Tarifverhandlungen der Metall- und Elektroindustrie laufen und ich kenne in der Zwischenzeit aus ganz vielen Gesprächen, dass Unternehmer durchaus sehen, dass jetzt auch mal wieder sozusagen der Verlust an Lohnanteilen für diejenigen, die die Wertschöpfung letztlich bewerkstelligen, überwunden werden muss. Also wir sind jetzt in der Phase - und das hat auch etwas mit der Stabilität des Aufschwungs zu tun -, in der wirklich auch die Lohnbezieher beziehungsweise die Beschäftigten "richtig" entlohnt werden müssen. Da wie ja schon beschrieben der private Konsum zwar auch etwas angezogen hat, aber immer noch sozusagen im Grunde genommen die Achillesferse der Konjunktur ist, geht es auch darum, reale Kaufkraft zu steigern. Also eine lohnpolitische Wende ist durchaus angesagt und die wird durchaus auch von der Arbeitgeberseite in den Tarifverhandlungen ernsthaft diskutiert.