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Ökonom warnt vor Degeneration der Rente zur "Armutsvermeidungseinrichtung"

Angesichts einer drohenden Nullrunde bei der Rente für 2006 hat der Rentenexperte und Ökonom Winfried Schmähl vor einer Degeneration der Rente zu einer reinen "Armutsvermeidungseinrichtung" gewarnt. Durch politische Fehlentscheidungen und Senkung der Rentenbeiträge habe man die ohnehin schmale Reserve der Versicherung gewissermaßen auf Null heruntergefahren. Eine erneute Nullrunde bedeute de facto eine Schlechterstellung der Rentner, da sie auch in Kranken- und Pflegeversicherung zusätzliche Belastungen trügen.

Moderation: Elke Durak |
    Elke Durak: Es gibt Aufregung bei den Sozialverbänden, Widerspruch, Protest, Warnung auch, die große Koalition möge die Finger von Rentenkürzungen lassen, sonst müsse sie mit dem massiven Protest von 20 Millionen Rentner rechnen, heißt es. Das kommt uns bekannt vor. Aber eigentlich auch das, was zu diesen Protesten geführt hat, die Tatsache nämlich, dass die CDU-Vorsitzende und künftige Kanzlerin das gesagt hat, was selbst die Rentenversicherer und andere Experten meinen, dass es wahrscheinlich auch im kommenden Jahr keine Rentensteigerung geben werde, zum dritten Mal nun nach 2004 und 2005. Man müsse aber erst einmal die Frühjahrsanalysen abwarten, um ernsthaft sagen zu können, ob es im Juli keine Rentensteigerung geben kann, heißt es. Winfried Schmähl ist renommierter Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler, derzeit an der Universität Bremen. Er hatte viele Jahre den Vorsitz im Sozialbeirat der Bundesregierung inne und auch Anteil an der Vorbereitung diverser Rentenreformen oder Teile der selben. Herr Schmähl, es kommt vielleicht noch viel schlimmer, denn erstmals könnte der Bund genötigt sein, der Rentenkasse einen Kredit währen zu müssen, von 600 Millionen Euro wird da gesprochen. Wie hätte man denn das abwenden können, wenn es so kommt?

    Winfried Schmähl: Zunächst einmal ist das natürlich wieder ein Element, das beiträgt zu dem inzwischen schon beträchtlichen Vertrauensverlust, den man in der Rentenversicherung hatte, und um das abzuwenden, wäre es natürlich sinnvoll gewesen, den Beitragssatz stattdessen frühzeitig und zwar moderat anzuheben. Denn das Problem, warum wir diese ständigen Diskussionen über die Finanzlage der Rentenversicherung haben, liegt zum großen Teil daran, dass man durch politische Entscheidungen die sowieso schon schmale Reserve der Rentenversicherung gewissermaßen auf Null herunter gefahren hat, so dass selbst kleine Veränderungen in der wirtschaftlichen Entwicklung ständig zu neuen Finanzierungsproblemen Anlass geben.

    Durak: Also eine politische Fehlentscheidung der vergangenen Jahre?

    Schmähl: So würde ich es auch sehen.

    Durak: Ist denn die Aufregung bei den Sozialverbänden gerechtfertigt? Denn es ist ja nun mal so, dass die Rentenentwicklung an die Entwicklung der Löhne gebunden ist, selbst bei kleinen Verschärfungen mit der letzten Rentenreform.

    Schmähl: Es sind zwei Elemente, die für die Rentenanpassung maßgebend sind. Das eine ist die tatsächliche Lohnentwicklung und da gibt es natürlich die bekannten Probleme, die wir auf dem Arbeitsmarkt haben. Dazu kommen aber auch noch Faktoren, die wieder politisch mit initiiert sind. Man denkt ja an die Möglichkeit der beitragsfreien Entgeltumwandlung, also Teile des Arbeitsentgeltes gehen nicht in die Lohnberechnung ein. Das zweite ist auch die Frage der Ausweitung der Minijobs und der Ein-Euro-Verhältnisse. Auch das kann erhebliche Konsequenzen für die Lohnentwicklung haben. Aber das ist nur ein Element. Das zweite ist, dass der Gesetzgeber zwei Faktoren in die Anpassungsformel eingeführt hat. Es klingt vielleicht ein bisschen technisch, aber das eine ist gewissermaßen eine fiktive Größe, was der Gesetzgeber sich vorstellt, was die Bürger eigentlich an privater Vorsorge tätigen müssten, nicht was sie tatsächlich betreiben, sondern das ist eine Vorgabe gewissermaßen. Und das zweite ist ein Faktor, der die Veränderungen in der Zahl zwischen den Rentenempfängern und den Beitragszahlern berücksichtigen soll. Und dies führt dazu, diese beiden Faktoren, dass dann, wenn die Löhne nicht mehr als rund 1,3 Prozent steigen, dass dann die Renten gewissermaßen nicht angepasst werden, also zu diesen Nullrunden kommt.

    Durak: Sind das wirkliche Nullrunden?

    Schmähl: Nominal ja, real natürlich nicht, denn wir haben ja jetzt auch die Diskussion über steigende Inflationsraten, das ist ganz deutlich, das heißt also, die Kaufkraft sinkt. Der zweite Punkt, der zu berücksichtigen ist, dass es natürlich schon bei anderen Gruppen der Bevölkerung durchaus aber auch noch Einkommenssteigerungen gibt, so dass von daher die Rentenempfänger relativ zu anderen zurückfallen, und schließlich muss man, glaube ich, eins noch berücksichtigen, was in der Diskussion noch überhaupt nicht beachtet wird: Es geht ja nicht nur um die Regelung in der Alterssicherung, sondern es geht auch darum, was passiert eigentlich in der Krankenversicherung, der Pflegeversicherung mit zusätzlichen Belastungen, mit mehr Zuzahlungen und so weiter. Also dieses alles muss man eigentlich im Zusammenhang sehen, um zu beurteilen, ob zum Beispiel der Weg, der jetzt eingeschlagen ist, eigentlich der richtige ist.

    Durak: Die große Koalition, so sie denn wirklich zustande kommt, woran wir ja eigentlich auch nicht zweifeln, hatte sich dieses Jahr getrennt, also in SPD und Union, auch vorgenommen, all diese Reformen nun auch zügig anzugehen. Nun könnte ja ein Punkt in diesem Reformsystem sein, dass die gesetzliche Rentenversicherung in eine Erwerbstätigenversicherung umgewandelt wird. Das wird auch aus den Sozialverbänden heraus gefordert, das war auch zum Teil Wahlkampfthema und Motto. Ist das aber mit der großen Koalition nun erledigt? Was denken Sie?

    Schmähl: Ich will mich da nicht auf die Spekulationen im politischen Bereich einlassen, aber ob das im Grunde eine Entlastung bringt für die Rentenversicherung, das ist noch eine andere Frage. Zumindest, es kann kurzfristig durch Einbeziehen von Personenkreisen zu Mehreinnahmen kommen, aber längerfristig stehen dem dann natürlich auch entsprechende Gegenleistungen, also Mehrausgaben gegenüber, sofern man im Grunde für diese Mehreinnahmen auch entsprechende Rentenansprüche gewährt. Es gibt ja durchaus Vorstellungen, die sagen: Bei bestimmten Personengruppen, oder bei höherem Einkommen, da wird weniger berücksichtigt. Damit stellt sich die grundsätzliche Frage, die sowieso auch durch die bisherigen Reformen schon aufgeworfen ist, was eigentlich aus der Rentenversicherung, so wie wir sie kannten, in Zukunft wird. Und meine Befürchtung an der Stelle ist natürlich, dass es wirklich zu einer grundlegenden Transformation des Systems kommt. Sie degeneriert gewissermaßen zu etwas, was man als eine Armutsvermeidungseinrichtung ansehen kann, so etwas, womit wir im 19. Jahrhundert bei Bismarck eigentlich schon begonnen haben.

    Durak: Was wäre denn ihre Hoffnung für ein ordentliches Rentensystem?

    Schmähl: Man müsste sich Gedanken machen, was eigentlich die gesetzliche Rentenversicherung soll. Wir haben ja die Grundidee lange Zeit, über Jahrzehnte, verfolgt, dass es eine relativ enge Beziehung zwischen der Beitragszahlung und der Rentenleistung geben soll. Wenn man dieses aufrechterhalten will, kann man natürlich das Leistungsniveau, so wie es jetzt vorgesehen ist durch die gesetzlichen Entscheidungen, die schon getroffen wurden, nicht reduzieren, denn man muss sich vorstellen, dass dann wenn diese Reformen voll wirken, selbst ein Durchschnittverdiener 36 Jahre Beiträge in die Rentenversicherung zahlen müsste, um eine Rente zu erhalten, die gerade so hoch ist, wie die Sozialhilfe. Das heißt also, dieser Weg, der ist meines Erachtens mit erheblichen Problemen belastet, und ich würde schon wünschen, dass man über diese grundsätzliche Frage, was die Rentenversicherung leisten soll und ob sie tatsächlich zu so einer Armutsvermeidungseinrichtung wird oder ob man nicht tatsächlich hier diesen Versicherungsgedanken, der darin steht, stärken soll, wieder zurückkehrt.