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Ökonomie
Den Wirtschaftswissenschaften die Leviten lesen

Die Wirtschaftswissenschaft ist tief gespalten: Neoliberale, Keynesianer, Spieletheoretiker halten ihr jeweils propagiertes Modell als Erklärung für das wirtschaftliche Verhalten. Die schwedische Journalistin Katrine Marçal hat die gängigen Theorien in ihrem Buch "Machonomics" unter die Lupe genommen - und kommt zu einem ernüchternden Ergebnis.

Von Gaby Mayr | 09.05.2016
    Symbolbild Hausbau
    Handeln Menschen wirtschaftlich rational? Die Autorin Katrine Marçal beschreibt Gegenbeispiele. (imago/Gerhard Leber)
    Der erste Punkt geht klar an Katrine Marcal.
    Die Autorin beginnt mit Adam Smith: Der Begründer der modernen Volkswirtschaftslehre kam in seinem 1776 veröffentlichten Werk "Eine Untersuchung über die Natur und die Ursachen des Reichtums der Nationen" zu dem Ergebnis, dass Menschen aus Eigeninteresse produktiv sind:
    "Nicht vom Wohlwollen des Metzgers, Bauern und Bäckers erwarten wir das, was wir zum Essen brauchen, sondern davon, dass sie ihre eigenen Interessen wahrnehmen."
    Der Egoismus der Menschen setzt nach Smith Produktion und Austausch von Waren in Gang. Und wie von einer unsichtbaren Hand gelenkt, wird aus dem Egoismus der Einzelnen durch den Markt etwas Gutes, nämlich die Versorgung der Gemeinschaft: Wenn mehr Körnerbrötchen nachgefragt werden, backen die Bäckereien mehr Körnerbrötchen, und das schwere Schwarzbrot verschwindet aus den Regalen, ohne dass irgendeine zentrale Instanz einen Beschluss gefasst hätte.
    Adam Smith berücksichtigt nicht die Frauen
    Als Adam Smith seinen Marktmechanismus formulierte, ignorierte er allerdings, dass all die Männer, die er sich als Metzger und Bäcker vorstellte, nur deshalb so konzentriert ihrer Arbeit nachgehen konnten, weil ihre Mütter, Ehefrauen und Schwestern für sie kochten, wuschen, die Wohnung in Schuss hielten und die Kinder großzogen - stellt Katrine Marcal fest.
    "Außerhalb der unsichtbaren Hand befindet sich das unsichtbare Geschlecht. Die Frau ist "das Andere". Das, was er nicht tut, doch worauf er angewiesen ist, um tun zu können, was er tut."
    Dabei hätte Adam Smith es wirklich besser wissen müssen:
    "Den Großteil seines Lebens verbrachte der Vater der Nationalökonomie bei seiner Mutter. Sein Abendessen bekam er nicht nur deshalb, weil die Händler mittels Tauschhandel ihre Eigeninteressen verfolgten, sondern vor allem, weil seine Mutter es ihm allabendlich servierte."
    Katrine Marcal hat ihren Punkt gemacht.
    Weil wirtschaftliche Tätigkeiten, die nicht gegen Geld verrichtet werden, unbeachtet bleiben, entsteht ein verzerrtes Bild der Realität: Haus- und Erziehungsarbeit, bis heute oft von Frauen geleistet, tritt erst dann ins Blickfeld, wenn bezahlte Kräfte sie übernehmen. Außerdem: Wenn, etwa in Kamerun, Familien sich von den Erträgen ihrer Felder ernähren, wird diese wirtschaftliche Leistung ignoriert, weil kein Geld fließt. Wer kein Geld für seine Arbeit bekommt, erscheint in keiner Statistik. Das Problem: Staatliche Wirtschafts- und Sozialpolitik reagiert auf statistisch erfasste Daten. Das führt zu Nachteilen vor allem für Frauen.
    Das zweite Thema, das Katrine Marcal sich vorknöpft, ist der Homo Oeconomicus. Anders, als in der Chemie, können die Ökonomen ihre Theorien nicht im Labor testen, sie prüfen ihre Überlegungen mithilfe mathematischer Modelle. Deren Hauptfigur ist der Homo Oeconomicus. Katrine Marcal nennt das Kunstwesen "ökonomischer Mann":
    "Der ökonomische Mann ist rational, vernunftgesteuert, tut nichts, was er nicht tun muss. Und tut er es doch, dann um Befriedigung zu verspüren oder Schmerz zu vermeiden. Er schnappt sich, was er kriegen kann. Und setzt alles daran, zu gewinnen, andere zu überlisten."
    Das Körnerbrötchen in Bäckerei A kostet 70 Cent, in Bäckerei B kostet es nur 65 Cent, allerdings muss der Homo Oeconomicus zur Bäckerei B fünf Minuten länger mit dem Fahrrad fahren, das kostet Zeit und Abnutzung der Reifen. Diese Informationen kann man in einem mathematischen Modell darstellen. Und am Ende erfährt man, wo der Homo Oeconomicus sein Brötchen kaufen wird.
    Aber vielleicht ist dem "wirtschaftlichen Mann" der freundliche Verkäufer in Bäckerei A doch wichtiger als der Preis?
    Homo Oeconomics dient für womöglich falsche Prognosen
    Außerdem: Neoliberale Wirtschaftswissenschaftler nutzen den Homo Oeconomicus nicht nur zur Untersuchung von Entscheidungen beim Brötchenkauf. Mithilfe dieser Kunstfigur wollen sie etwa begründen, warum Frauen niedrigere Löhne bekommen - nämlich weil sie weniger produktiv seien. Das sei so, weil Frauen weniger in ihre Karriere investierten, denn sie müssten neben dem Beruf - anders als die Männer - den Haushalt erledigen und die Kinder erziehen. Katrine Marcal über diese Art ökonomischer Theoriebildung:
    "Wenn wir alle rationale Individuen sind, erübrigen sich Fragen nach Rasse, Klasse und Geschlecht. Denn wir sind frei. So wie die Frau im Kongo, die in Sex mit Milizsoldaten einwilligt - für drei Konservendosen."
    Nicht nur dieses Beispiel zeigt: Das Leben ist anders, als es sich die Wirtschaftsforscher beim Basteln des Homo Oeconomicus vorstellten. Die Lebensrealität von Frauen passt nicht zu dieser Kunstfigur. Die Männerwirklichkeit ist allerdings auch anders als die wissenschaftliche Fiktion, sagt Marcal, und kommt zu dem Schluss:
    "Ganz gleich, wie ausgefuchst die Modelle der Ökonomen auch sein mögen: So lange sie auf Annahmen basieren, die nichts mit der Realität zu tun haben, werden sie nichts über die Realität aussagen können."
    Das ist fatal. Denn die Ökonomen formulieren mithilfe ihrer Modelle Prognosen, die sollen den Regierenden und Unternehmen bei Entscheidungen helfen.
    Auch ihren zweiten Punkt macht Katrine Marcal.
    Schade nur, dass die deutsche Übersetzung etliche Schlampereien enthält: Grammatikfehler, aus Milliarden werden Billionen. Und der 99-Tage-Kaiser heißt Frederik statt Friedrich. So was ist ärgerlich.
    Katrine Marcal jedenfalls schreibt ihre Abrechnung mit der herrschenden Wirtschaftswissenschaft mit leichter Hand und einer ordentlichen Dosis Polemik. Der Blick in Originalquellen ist ihr Ding eher nicht, sie begnügt sich oft mit Veröffentlichungen aus jüngerer Vergangenheit. Dafür nimmt sie auch Vertreter aus anderen Wissenschaftsgebieten aufs Korn:
    "Sigmund Freud behauptete tatsächlich, Frauen könnten von Natur aus besser putzen. Dies führte der Vater der Psychoanalyse auf den der Vagina anhaftenden Schmutz zurück."
    Das ist starker Tobak in einem Buch über Wirtschaftswissenschaft. Aber Marcal hat ja Recht: Nicht allein ökonomische Denkansätze sind frauenfeindlich. Jedenfalls ist es höchste Zeit, dass die abgehobenen Modellbastler der Volkswirtschaft in die Realität finden.
    In Deutschland haben sich kritische Studierende im "Netzwerk Plurale Ökonomik" zusammengeschlossen. "Machonomics" könnte ihnen gefallen: Es liest der Wirtschaftswissenschaft gehörig die Leviten.
    Buchinfos:
    Katrine Marcal: "Machonomics. Die Ökonomie und die Frauen", aus dem Schwedischen übersetzt von Stefan Pluschkat, C.H.Beck Verlag, 206 Seiten, Preis: 16,95 Euro