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Ökosystem unter dem Eis
Mikrobenzoo in westantarktischer See

Die Eiskappen der Antarktis sind weniger lebensfeindlich als es den Anschein hat. Unter dem 800 Meter dickem Gletscher der Westantarktis haben Forscher jetzt ein florierendes Ökosystem gefunden. Es gedeiht in einem See, der Teil eines verzweigten Gewässersystems ist. In der aktuellen "Nature" steht mehr zu den Funden.

Von Dagmar Röhrlich | 21.08.2014
    Zwei Männer in dicker Winterkleidung heben einen Probenbehälter aus dem Bohrgestänge der Plattform über dem westantarktischen Whillans-See.
    Brent C. Christner (r.), Lousiana State University, und Alex Michaud, Montana State University, mit der ersten Wasserprobe aus dem Whillans-See. (NSF/Reed Scherer, Northern Illinois University)
    In unseren Augen herrschen unter dem antarktischen Eisschild höchst unwirtliche Verhältnisse: Es ist kalt und finster. Dazu kommt der Druck von Hunderten oder Tausenden von Metern Eis. Die Proben aus Lake Whillans beweisen jedoch, dass am Grund der Eismassen ein vollkommen unbekannter Teil der irdischen Biosphäre existiert:
    "Durch Erdwärme und Reibung schmilzt das Eis. Das heißt, es gibt Wasser und darin leben Mikroorganismen, die trotz Temperaturen unter dem Gefrierpunkt Nährstoffe aus Mineralen holen und umsetzen. Dieses Ökosystem ist über ein subglaziales Fluss-System von der Fläche des Amazonasbeckens mit dem Meer verbunden. So könnten diese Nährstoffe in den Südozean gelangen und ihn düngen."
    Überraschend reiches Ökosystem
    Es sei das größte Feuchtgebiet der Erde, das durchaus Bedeutung für die Weltmeere haben könnte, beschreibt John Priscu von der Montana State University in Bozeman. Obwohl Lake Whillans seit mindestens 120.000 Jahren keinen Kontakt zur Außenwelt gehabt hat, ist sein Ökosystem überraschend reich: In den Wasserproben zählten die Mikrobiologen 130.000 Zellen pro Milliliter. Das entspricht in etwa der Mikrobendichte der Tiefsee. Auch die Wachstumsrate ist vergleichbar:
    Priscu: "Überrascht hat mich die Vielfalt der Organismen in Lake Whillans. Wir haben rund 4000 verschiedene Arten entdeckt von Bakterien und von Archaeen, ursprünglichen Mikroorganismen, die extreme Standorte bevorzugen. Das ist erstaunlich."
    So greifen Bakterien im Seesediment Minerale an, um Energie aus anorganischen Verbindungen unter anderem von Schwefel oder Eisen zu ziehen. Damit hatten die Wissenschaftler gerechnet - nicht jedoch damit, wer und was in Lake Whillans die Hauptrolle spielt:
    "Den DNA-Analysen zufolge nimmt eine Archaeen-Art die zentrale Position in Lake Whillans ein, die wie eine Pflanze ihre Biomasse mit Hilfe von Kohlendioxid aufbaut. Allerdings ist ihre Energiequelle nicht das Sonnenlicht, sondern die chemische Energie aus der Umsetzung von Ammonium zu Nitrit. Wir haben in Lake Whillans weder diese Mengen an Ammonium erwartet, noch dass dort Archaeen dominant sind. Von diesem Nitrit lebt dann das häufigste Bakterium im See, das daraus Nitrat formt. Außerdem haben wir Mikroben gefunden, die statt Kohlendioxid Methan als Kohlenstoffquelle nutzen."
    Es gibt also Primärproduzenten, die aus anorganischen Stoffen Biomasse und Nährstoffe erzeugen, und andere, die diese Produkte dann nutzen. Dazu, woher Ammonium und Methan stammen, haben John Priscu und seine Kollegen eine Idee:
    "Wir wissen, dass der Westantarktische Eisschild irgendwann zwischen 100.000 und einer Million Jahre vor heute nicht existiert hat, sondern dass sich dort ein flaches Meer erstreckte. In dessen Sedimenten sammelten sich große Mengen an organischer Substanz an. Dann änderte sich das Klima. Das Eis begrub Sedimente samt organischer Substanz - und genau die könnten die Mikroorganismen in Lake Whillans heute nutzen."
    Organismen stammen zum Teil aus dem Meer, zum Teil vom Land
    Erschien noch vor wenigen Jahren die Idee, dass es unter einem Eisschild ein Ökosystem existieren könnte, als wenig glaubhaft, konnten die Wissenschaftler nun beweisen, dass es sogar komplex ist.
    "Das Besondere an der Entdeckung der Lebenswelt in Lake Whillans ist, dass die Mikroorganismen von dem leben müssen, was unter dem Eisschild ist. Das ist richtig interessant",
    beurteilt Martyn Tranter von der University of Bristol die Arbeit seiner Kollegen. Interessant sind auch die Ergebnisse der DNA-Analysen zu der Frage, woher die Mikroorganismen eigentlich stammen. Sie belegen, dass manche Verwandte im Meer haben. Andere scheinen vor Hunderttausenden von Jahren in den Schnee eingebettet worden und so ins Eis und schließlich in dieses besondere Ökosystem gelangt zu sein. Mit ihren nächsten Bohrprojekten hoffen die Mikrobiologen nun festzustellen, wie heterogen diese Lebensgemeinschaften in den Seen und Flüssen unter dem westantarktischen Eises sind. In der kommenden Bohrsaison soll der Bereich des Systems beprobt werden, in dem das Wasser in Meer fließt.