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Ölfieber

Aus Erdöl wird Benzin für Autos hergestellt, man heizt damit, es steckt in Kunststoffen, Medikamenten, Kosmetik und Asphalt. Unendlich viele Alltagsgegenstände beruhen auf dem "Schwarzen Gold". Am 27. August 1859 gelang es dem Amerikaner Edwin Drake erstmals, größere Mengen Rohöl zu Tage zu fördern.

Von Irene Meichsner |
    "Wegen der Entdeckung dieser gewaltigen Ölquelle herrscht eine enorme Aufregung. Es ist genauso, wie ich es in Kalifornien gesehen habe, wenn dort zufällig ein großer Klumpen Gold gefunden wurde."

    Der Korrespondent der "New York Daily Tribune" war schwer beeindruckt. In Titusville, einer kleinen Stadt nördlich von Pittsburgh im amerikanischen Bundesstaat Pennsylvania, herrschte das Ölfieber. Edwin Drake, ein ehemaliger Eisenbahnschaffner, hatte den Durchbruch geschafft: Am 27. August 1859 pumpte er erstmals größere Mengen Rohöl aus dem Boden. Zehn bis 40 Barrel Öl sprudelten pro Tag aus der Quelle. Sie wurden in große Bottiche abgefüllt. Drake hatte die Skeptiker eines Besseren belehrt.

    "Man war sicher gewesen, dass der Versuch fehlschlagen würde. Damals hielt fast jeder das Bohren nach Öl noch für unrealistisch",
    schrieb der amerikanische Historiker Paul Giddens in seinem Standardwerk über die Anfänge der Öl-Industrie.

    "Selbst Dr. Brewer, ein Teilhaber der Firma, die das Land verpachtet hatte, betrachtete die ganze Sache offenbar eher als Witz. Er verteilte Zigarren an die jungen Männer von Titusville und sagte lachend: 'Nehmt sie. Sie kosten mich nichts. Ich habe für sie ein Öllager eingehandelt."

    Für Maschinen und Öllampen nutzte man Mitte des 19. Jahrhunderts hauptsächlich noch das Öl aus dem Speck von Walen. Im Zuge der Industrialisierung brauchte man dringend eine Alternative. In der Region um Titusville am sogenannten "Oil Creek" quoll das Erdöl sogar direkt aus dem Boden – allerdings als eine stinkende, mit Wasser vermengte, von den Anwohnern eher verhasste Drecksbrühe, aus der sich nur sehr mühsam geringe Mengen von Öl isolieren ließen.

    Ein kleines Fläschchen mit Öl aus Titusville landete in der Praxis von Dr. Dixi Crosby, einem Arzt aus Hanover in New Hampshire. Dort sah es zufällig der spätere Ölmagnat George Bissell, damals Juniorpartner einer New Yorker Anwaltskanzlei. Kurz entschlossen kaufte Bissell für 5000 Dollar ein hundert Morgen großes Gelände außerhalb von Titusville, um dort gezielt nach Öl zu bohren. Im Dezember 1854 gründete er mit seinem Anwaltskollegen die "Pennsylvania Rock Oil Company of New York" – die erste Ölfirma der Welt. Der Chemiker Benjamin Silliman vom Yale College lobte das Öl aus Titusville in den höchsten Tönen.

    "Es gibt viel Grund zu der ermutigenden Annahme, dass sich Ihre Gesellschaft im Besitz eines Rohmaterials befindet, von dem sich mit einfachen und nicht teuren Verfahren sehr wertvolle und nützliche Produkte herstellen lassen."

    Mit dem Bankdirektor James Townsend gründete Bissell 1855 eine neue Gesellschaft: die "Pennsylvania Rock Oil Company of Connecticut", die später von der "Seneca Oil Company" abgelöst wurde. In einem Hotel in New Haven lernten die Gesellschafter 1857 den damals 38-jährigen Edwin Drake kennen, der bereit war, die Bohrarbeiten vor Ort zu übernehmen.

    "Ich glaube selber nicht an das Projekt",
    sagte Jonathan Watson, bei dem Drake Material für seinen mit einer kleinen Dampfmaschine betriebenen Bohrturm bestellte.

    "Aber ich will ihm helfen, sein Glück zu versuchen."

    Ein Jahr lang mühte sich Drake – unter den spöttischen Blicken der Bürger von Titusville – vergeblich. Schließlich erfand Drake - zusammen mit "Uncle Billy" Smith, seinem Vorarbeiter - eine Bohrtechnik, bei der sich das Bohrloch nicht immer wieder mit Wasser füllte. Pro Tag kamen sie etwa einen Meter voran. Als sie die Baustelle am 27. August 1859, einem Samstag, verließen, waren sie 21,2 Meter tief in das Schiefergestein vorgedrungen – und hatten den allerletzten Cent ausgegeben. Tags darauf sah "Uncle Billy" in dem Bohrloch eine Öllache schwimmen. Laut schreiend rannte sein Sohn Sam zu einem nahe gelegenen Sägewerk:

    "Sie sind auf Öl gestoßen! Sie sind auf Öl gestoßen!"

    Ein neues Zeitalter hatte begonnen. 1860 wurden in den USA bereits 509.000 Barrel Rohöl gefördert; außerhalb von Amerika waren es gerade mal 5000 Barrel. Bis 1870 hatte sich die amerikanische Ölproduktion noch einmal verzehnfacht. Im gleichen Jahr gründete John Rockefeller gemeinsam mit einigen Geschäftspartnern die legendäre "Standard Oil Company" - bis zu ihrer Zerschlagung Anfang des 20. Jahrhunderts das größte Erdöl-Unternehmen der Welt.