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Özdemir: "Bei den Grünen gibt es keinen Migrantenbonus"

Grünen-Chef Cem Özdemir hat Jugendliche mit Migrationshintergrund zu mehr persönlichem Engagement ermuntert. Seine eigenen politischen Siege, aber auch seine Niederlagen zeigten, dass man nichts geschenkt bekomme, auch nicht in der eigenen Partei, sagte der neue Parteivorsitzende, der im Herbst noch mit seiner Kandidatur für ein Bundestagsmandat gescheitert war.

Cem Özdemir im Gespräch mit Dirk Müller |
    Dirk Müller: 2008. Ein Jahr mit Höhen und Tiefen, auch für Cem Özdemir. Der grüne Europaabgeordnete will seine politischen Ambitionen neu ordnen. Er möchte Parteichef der Grünen werden und darüber hinaus auch Bundestagsabgeordneter. Mitte November wird er zum neuen Vorsitzenden der Partei gewählt. Wenige Wochen zuvor steht jedoch die Niederlage. Er scheitert bei dem Versuch, einen Listenplatz für den Bundestag zu bekommen. Cem Özdemir, angeschlagen, geschockt, enttäuscht, zieht von dannen. Er wollte damals im Oktober nicht über diese bittere Erfahrung bei uns im Deutschlandfunk sprechen. Wir wollen das jetzt zur Jahreswende nachholen. Guten Morgen, Herr Özdemir!

    Cem Özdemir: Guten Morgen, Herr Müller!

    Müller: War das eine Demütigung?

    Özdemir: Ich würde nicht von einer Demütigung sprechen, aber das war eine Niederlage. Und Niederlagen gehören leider auch zum politischen Geschäft dazu. Die wichtigere Wahl dieses Jahres, die Wahl in den Bundesvorstand, die habe ich mit einer sehr großen Mehrheit bekommen. Ich hätte gerne dazu auch ein Bundestagsmandat gehabt, weil es im Interesse der Partei meines Erachtens gewesen wäre. Aber da ist es nicht gelungen, die Mehrheit der Delegierten in Baden-Württemberg zu überzeugen.

    Müller: Haben Sie denn mit dem möglichen Scheitern gerechnet?

    Özdemir: Na ja, gut, wenn man kandidiert, gehört immer auch die Möglichkeit des Scheiterns dazu, sonst, wissen wir, glaube ich, verliert man auch den Realitätsbezug. Aber natürlich ging ich in die Auseinandersetzung rein mit der Aussicht zu gewinnen oder mit der Erwartung zu gewinnen. Sonst tritt man nicht an. Und die Möglichkeit, dass man verliert, das ist dann hoffentlich die kleinere Option. Es war ja nun sehr knapp im ersten Wahlgang. Und viele der Delegierten, die mich nicht gewählt haben, haben mir auch bestätigt, dass sie den Bundestagsabgeordneten Cem Özdemir nicht gewählt haben, aber den Parteivorsitzenden Cem Özdemir in Erfurt wählen möchten. Das gehört eben auch zur grünen Logik dazu, die man wahrscheinlich bei anderen Parteien nicht so verstehen kann. Das hat mit einer grünen Tradition zu tun. Sie wissen, die Trennung von Amt und Mandat bei den Grünen gehört quasi zu den Gründungsmythen der Partei. Und das hat lange gedauert, bis die Trennung von Amt und Mandat gelockert werden konnte. Ein Bundesparteitag reichte nicht aus, man musste dafür eine Mitgliederbefragung durchführen. Und auch da hat es dann eine Weile gebraucht, bis es geklappt hat. Und jetzt haben wir die Möglichkeit, dass bis zu einem Drittel der Bundesvorstandsmitglieder gleichzeitig mandatiert sein kann. Und Sie sehen auch, das führt nicht automatisch dazu, dass man dieses Mandat bekommt.

    Müller: Ähnliches ist ja auch Ihrem Parteifreund, Parteikollegen Oswald Metzger passiert. Mit ihm haben wir vor gut einem Jahr auch über seine Niederlage gesprochen bei den Grünen. Er hat gesagt, man darf bei den Grünen einfach nicht zu gut sein. Stimmt das?

    Özdemir: Ach, das würde ich nicht sagen. Da macht er sich es, glaube ich, ein bisschen zu einfach. Man darf nicht vergessen, dass man eben auch nicht nur gewählt wird, weil man selber so ein toller Hecht ist, sondern weil man auch Teil der Partei ist. Und Oswald Metzger wurde bei uns auch immer gewählt, weil er Grüner ist und weil die Konzepte, die er vorgeschlagen hat, weil er die als Grüner vorgeschlagen hat. Und er hat irgendwann mal vergessen, dass diese Beziehung eben nicht eine einseitige ist, sondern eben auch in beide Richtungen geht und dass man selber auch der Partei manches verdankt. Ich gehöre nicht zu denen, die da jetzt wie die Clemens und die Oswald Metzgers dieser Republik da vor allen Parteiwäschen betreiben und oft sich profilieren zu Kosten des eigenen Ladens. Davon halte ich nichts. Wenn man an so einem Punkt ist, muss man konsequent sein und dann eben auch die eigenen Sachen packen und der Partei der Rücken kehren.

    Müller: Aber Sie kennen die Neider in Ihrer Partei?

    Özdemir: Das gehört dazu. Das gibt es, glaube ich, nicht nur bei den Grünen, das gibt es in allen Parteien, dass eben auch welche gibt, die einem den Erfolg missgönnen. Sie können davon ausgehen, die Niederlagen, die stecke ich weg, aber ich vergesse sie nicht. Ich will es mal so formulieren. Mein Ansatz in der Politik ist, wenn jeder das macht, was er besonders gut kann, im Sinne der Sache nützt es allen, alle profitieren davon, natürlich gibt es auch Konkurrenzen in Parteien, die gehören dazu, aber wenn jeder sich so ein bisschen zurücknimmt und an das Ganze denkt, profitieren im Endeffekt alle davon. Aber das ist in der Theorie einfacher gesagt als in der Praxis realisiert.

    Müller: Diese Niederlage in Schwäbisch Gmünd war ja kurz davor, vier, fünf Wochen vor dem entscheidenden Parteitag in Erfurt, wo es dann um den Parteivorsitz ging. Wenn wir das alles richtig nachgelesen haben, hat es aber im Vorfeld auch eine Phase gegeben, wo Sie auch bereit waren, einen Rückzieher anzutreten, das heißt nicht mehr zu kandidieren. War das so?

    Özdemir: Auf dem Parteitag selber habe ich erst mal - ich meine, ich bin zwar gegangen, aber das war auch das Ende des Parteitages an dem Samstag -, habe ich erst mal gedacht, jetzt wird gar kein Entschluss gefasst, sondern jetzt muss man erst mal in Ruhe überlegen. In Ruhe überlegt man nicht, wenn man von Kameras und von Mikrofonen umgeben ist und vielen, vielen Delegierten, die auf einen einreden und einem erklären wollen, warum sie einen gewählt haben oder warum sie einen nicht gewählt haben und was das jetzt für Sie und für andere bedeutet. Sondern das macht man, wenn man sich ein bisschen zurückzieht und dann im Kreise der engsten Freunde und der Lieben zusammen in Ruhe überlegt, abwägt, was spricht dafür, was spricht dagegen. Und da war relativ schnell klar, dass vieles dafür spricht, dass ich als Bundesvorsitzender kandidiere. Das haben mir auch die Reaktionen aus der Partei gezeigt. Aber es ist ja auch klar, das wichtigere Amt ist das Amt des Parteivorsitzenden. Und jetzt bin ich Bundesvorsitzender, jetzt muss ich beweisen, dass ich so wie Reinhard Bütikofer das trotzdem gut machen kann. Das beflügelt auch meinen Ehrgeiz, all denjenigen, die mich nicht gewählt haben, zu zeigen: Ich kann das, ich kann Bundesvorsitzender sein, ohne dass ich zusätzlich ein Bundestagsmandat habe. Ich kandidiere ja noch in Stuttgart als Direktkandidat. Ich habe diese Kandidatur bewusst nicht zurückgezogen, auch wenn ich vielleicht nicht die allerallerbesten Chancen habe, das Direktmandat gleich im ersten Anlauf zu bekommen. Aber das gehört auch dazu, dass man dann eben seine Verpflichtungen ernst nimmt, die man den Wählern und Wählerinnen gegenüber im Wahlkreis in Stuttgart hat.

    Müller: Sie hatten einmal diese "Miles-and-more"-Affäre, dann haben Sie sich politisch etwas zurückgezogen, sind dann wieder angetreten, dann jetzt in diesem Jahr diese Niederlage. Wird man dadurch noch besser, noch selbstbewusster?

    Özdemir: Es gehört einfach dazu. Wenn man im Leben vorankommen möchte, gibt es auch Rückschläge, gibt es eben auch Niederlagen. Die blödesten sind diejenigen, die man aus eigener Schuld sich zuzuschreiben hat. Und dann gibt es eben auch die anderen, die nicht vorhersehbar sind wie Schwäbisch Gmünd, wo es ja manchmal auch wirklich auf Messers Schneide steht und sehr knapp ausgeht. Auch das tut natürlich sehr weh. Aber es gehört dazu. Man kann es einem nicht abnehmen, man kann es einem nicht ersparen. Ich glaube sogar, dass es ein bisschen dazu beigetragen hat, dass viele, die danach sich nach Erfurt um so mehr gefreut haben, das gilt vor allem für viele Jugendliche mit Migrationshintergrund, dass die in mir sich noch stärker wiedererkennen konnten, weil sie gesehen haben, da ist einer, der muss kämpfen, dem wird nicht alles geschenkt, nicht mal in der eigenen Partei. Und das zeigt, bei den Grünen gibt es keinen Migrantenbonus. Ich weiß nicht, wie es bei anderen Parteien wäre, aber bei uns gibt es mit Sicherheit keinen Migrantenbonus. Denn wenn es den gäbe, dann hätte man mich in Schwäbisch Gmünd sicherlich nicht durchfallen lassen, sondern bei uns muss man sich beweisen mit dem, was man kann, mit dem, was man sagt, mit dem, was man macht. Und die Herkunft, die nehmen die Delegierten zur Kenntnis, aber sie geben einem dafür nicht irgendwie ein Extra.

    Müller: Sie sind ja jetzt Parteivorsitzender, Sie sind ja jetzt im Amt seit wenigen Wochen, Herr Özdemir. Wäre auch ein Leben ohne Politik denkbar gewesen?

    Özdemir: Ja, ich hatte es ja schon mal 2002. Nach "Miles-and-more" habe ich mich nicht nur aus der politischen Arbeit, also aus der Parteiarbeit zurückgezogen, sondern ich bin sogar aus Deutschland raus. Ich war in den USA, war dort bei einem angesehenen Thinktank und hatte auch vor, dort eine Weile zu bleiben und im Prinzip komplett umzusatteln, bis dann eben das Angebot kam mit dem Europaparlament, als Daniel Cohn-Bendit, aber auch Reinhard Bütikofer und andere mich gefragt haben, ob ich nicht fürs Europaparlament kandidieren möchte, aus Deutschland, und ich mich dann entschlossen habe, das zu machen. Ich finde, die Jobs und die Aufgaben kommen zum Mann und nicht umgekehrt. Ich gehöre nicht zu denjenigen, die morgens aufstehen und sich überlegen, was kann ich als Nächstes machen, sondern ich nehme den Job, den ich gegenwärtig mache, sehr ernst, der ist mir sehr wichtig und den will ich gut machen. Da habe ich auch eine Verantwortung gegenüber denjenigen, für die ich spreche, die mich gewählt haben, die auf mich setzen und deren Arbeit vor Ort ja auch davon abhängt, ob ich meinen Job gut mache oder nicht. Denken Sie an Kommunalpolitiker, die ja auch immer ein bisschen drauf angewiesen sind, dass sie Rückenwind von der Bundespartei bekommen und nicht Gegenwind. Und dann muss man schauen, was dann kommt und wie das danach wird und wie das dann anschließend auch von den Delegierten angenommen wird, die Arbeit nach zwei Jahren, wenn es drum geht, im Falle einer möglichen Wiederkandidatur diese zu bewerten. Aber ich halte nichts davon, dass man quasi eine Karriereplanung macht so mit dem 17. Lebensjahr und überlegt, wo werde ich dann mit 44 mal stehen.