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Özdemir erwartet Beruhigung des deutsch-türkischen Verhältnisses

Der Grünen-Politiker Cem Özdemir sieht in den Regierungsjahren Helmut Kohls (CDU) die Wurzeln für die bis heute reichenden Integrationsprobleme in der deutschen Gesellschaft. Damals sei die Politik immer von der Prämisse ausgegangen, Deutschland sei kein Einwanderungsland. Erst Rot-Grün habe ein neues Staatsangehörigkeitsrecht geschaffen.

Moderation: Friedbert Meurer |
    Friedbert Meurer: Der türkische Ministerpräsident Erdogan ist heute also zu Gast in Berlin. Diese Visite war allerdings lange schon geplant. Erdogan wird nämlich anschließend weiterreisen zur Sicherheitskonferenz nach München. Es ist kein Geheimnis, dass die Türkei sich eher gewünscht hätte, von deutscher Seite heute in Berlin von Gerhard Schröder begrüßt zu werden und nicht von Angela Merkel, denn ihn, Schröder, empfand man als pro-türkisch. Angela Merkel dagegen ist die Repräsentantin der Partei, der CDU, die gegen einen Beitritt der Türkei in die EU sei. Dann hinzu kam noch der hessische Wahlkampf und jetzt der tragische Brand eines Wohnhauses in Ludwigshafen, dessen Ursachen noch nicht geklärt sind. ( MP3-Audio , Beitrag von Wolfgang Labuhn)

    Viele Probleme also zwischen Deutschland und der Türkei und vielleicht auch zwischen Deutschen und Türken in Deutschland selbst. Am Telefon in Berlin begrüße ich Cem Özdemir, den Grünen-Europaabgeordneten. Guten Tag, Herr Özdemir!

    Cem Özdemir: Guten Tag, Herr Meurer!

    Meurer: Wie schlecht ist das Verhältnis augenblicklich zwischen Deutschen und Türken in Deutschland?

    Özdemir: Ich glaube jetzt nicht, dass man pauschalisieren soll. Das Verhältnis zwischen Deutschen und Türken wird nicht nur bestimmt von einigen etwas sehr breiten Schlagzeilen in türkischen und deutschen Medien. Überwiegend ist es gut. Die meisten Menschen türkischer Herkunft leben gerne in der Bundesrepublik Deutschland. Sie haben sich freiwillig dafür entschieden, hier zu leben, fühlen sich hier wohl und können sich nicht vorstellen, in die Türkei, das Land ihrer Vorfahren, zurückzukehren.

    Es gibt allerdings gegenwärtig Probleme. Die haben mit dem Wahlkampf in Hessen von Herrn Koch zu tun. Sie haben damit zu tun, dass manche das Gefühl haben, dass sie für alles verantwortlich gemacht werden, was es an Problemen in der Bundesrepublik Deutschland gibt. Das sind aber alles Dinge, die lösbar sind in einer gemeinsamen Gesellschaft. Und ich bin ziemlich zuversichtlich, dass uns das gemeinsam in der gemeinsamen Bundesrepublik Deutschland gelingen wird.

    Meurer: Wie muss man das andererseits interpretieren, Herr Özdemir, wenn doch ziemlich viel Misstrauen in Ludwigshafen zu spüren ist, wenn unterstellt wird, die deutsche Feuerwehr und Polizei arbeite nicht ordentlich und deutsche Feuerwehrleute bespuckt oder auch geschlagen werden?

    Özdemir: Verrückte und Extremisten gibt es überall. Die gibt es in Deutschland genauso. Denken Sie an manche Menschen im Osten Deutschlands, die rechtsradikal sind und dort Teile zu ausländerfreien Zonen erklären. Die gibt es aber leider auch in der türkischen Community. Ich habe ja vorher bereits darauf hingewiesen: Nicht alle Schlagzeilen, um es mal zurückhaltend zu formulieren, in manchen türkischen Tageszeitungen waren hilfreich, insbesondere was die Rolle der Feuerwehr angeht. Dass man sich hier auf Spekulationen einlässt, das ist unverantwortlich angesichts des bereits aufgeheizten Klimas in Ludwigshafen. Da sollte auch mancher Journalist sich seiner staatsbürgerlichen Verantwortung erinnern. Das gilt auch für die türkische Presse in Deutschland. Die türkische Presse in Deutschland ist nicht eine Presse der Türkei, sondern es sind deutsche Tageszeitungen in türkischer Sprache. Nicht alle in Neu Isenburg haben das bislang kapiert, dass sie sich an Bürger richten, die in der Bundesrepublik Deutschland leben und hier auf Dauer bleiben werden.

    Aber ich füge noch mal dazu: Wer sich über die türkische Presse ärgert, der sollte dann bitte schön auch dafür sorgen, dass das öffentlich-rechtliche Angebot für Migranten verbessert wird. Man kann nicht einerseits "Hürriyet" und Co. kritisieren und andererseits das Geld für Radio Multikulti und andere im öffentlich-rechtlichen Bereich zusammenstreichen.

    Meurer: Sie fordern einen 24 Stunden türkischen Radiokanal oder sogar Fernsehkanal in Deutschland?

    Özdemir: Na, warum nicht? Schauen Sie sich doch mal an, dass sie Gebührenzahler sind. Nur als Gebührennutzer sitzen sie ganz offensichtlich nicht in der ersten Reihe. Im Gegenteil! Früher war es mal so, dass das öffentlich-rechtliche Angebot quasi von allen Deutsch-Türken gehört wurde, und man hatte dadurch auch eine Möglichkeit, manche schrillen Töne zu korrigieren. Wir haben ohne Not dieses Angebot zusammengestrichen und uns damit abgefunden, dass das mediale Nutzen sich Richtung Ankara, Richtung Istanbul richtet. Dann darf man sich bitteschön auch nicht beklagen. Warum nicht ein deutsch-türkisches arte? Warum nicht ein Radio in türkischer Sprache mit Radiomachern, die in Deutschland aufgewachsen sind und unsere Sicht der Dinge darstellen können, die sich von diesen schrillen Tönen unterscheidet.

    Meurer: Um bei den Medien zu bleiben, Herr Özdemir. Der Südwestrundfunk hat jetzt den "Tatort" für kommenden Sonntag abgesagt. Er soll ausgestrahlt werden am 6. April. Der Titel lautet "Schatten der Angst", und dieser "Tatort" spielt just in Ludwigshafen, da wo sich der Brand ereignet hat. Es geht um Ehrenmord, um Zwangsheirat. Wir hören uns mal kurz an, was Ulrike Folkerts, die "Tatort"-Kommissarin, welche die Lena Odenthal spielt, im Bayerischen Rundfunk dazu gesagt hat:

    "Solange nicht geklärt ist, ob das einen politischen Hintergrund hat oder einen rechtsradikalen Hintergrund, sind die Wellen ja so hochgeschlagen, dass unser Film darin jetzt untergehen würde. Der würde benutzt werden, wahrscheinlich auch von der türkischen Presse, dass man mit unseren türkischen Mitbewohnern nicht gut umgehen will und sie vorführt und, und, und. Um das genau zu vermeiden, finde ich es gut, dass wir den Film, der eine andere Aussage hat, da geht es nämlich um Menschenrechte und Frauenrechte, dass wir den verschoben haben auf den 6. April. Ich hoffe, der hat dann ein besseres Gehör und wieder Platz wahrgenommen zu werden als das, was wir wollten."

    Meurer: Die "Tatort"-Kommissarin Ulrike Folkerts. Herr Özdemir, ist die Verschiebung richtig?

    Özdemir: Ich sehe es genauso wie Frau Folkerts. Sie hat völlig Recht. Man hätte der Sendung sicherlich keinen Gefallen getan jetzt in diesem Kontext. Das heißt nicht, dass die Themen deshalb obsolet sind. Ganz im Gegenteil! Themen wie Ehrenmorde, Zwangsehen gehören auf die Tagesordnung. Niemand steht hier in der Bundesrepublik Deutschland unter Artenschutz. Man muss diese Themen thematisieren. Aber alles hat seine Zeit. Es hat auch was mit Pietät zu tun. Es hat was damit zu tun, dass man jetzt die Menschen in Ludwigshafen trauern lassen muss. Frau Folkerts hat richtigerweise darauf hingewiesen: Es liegt nicht in unserer Hand, was andere daraus gemacht hätten. Insofern, glaube ich, wird das auch dem "Tatort" gerecht, wenn man jetzt ein bisschen noch wartet und dann der Sendung auch so gerecht wird, wie das später vielleicht der Fall ist.

    Meurer: Auf der anderen Seite, das ist jetzt schon der zweite umstrittene "Tatort". Der erste wurde gesendet; dann gab es massive Proteste. Der zweite wird jetzt verschoben. Wird da doch nicht ein Druck entstehen, dass man vielleicht künftig bei solchen Themen etwas vorsichtiger wird?

    Özdemir: Das glaube ich nun bei diesem "Tatort" nicht, denn der ist ja nicht inhaltlich umstritten, sondern es ist eine Frage des Zeitpunkts. Aber grundsätzlich ist natürlich klar: Ich habe darauf immer hingewiesen; andere wie Daniel Cohn-Bendit haben das auch gemacht. Die interkulturelle oder multikulturelle Gesellschaft ist nicht eine Gesellschaft eines fröhlichen Happenings, wo wir gemeinsam Döner Kebab essen und uns zum Bauchtanzringel treffen.

    Meurer: Deswegen zweifele ich mal, ob dieser neue "Tatort" so unumstritten gewesen wäre, Herr Özdemir. Da hätte man gesagt, die Türken werden alle wieder in eine Ecke gestellt in Richtung Zwangsverheiratung und Ehrenmord.

    Özdemir: Es spricht grundsätzlich nichts dagegen, dass man das thematisiert, solange nicht damit einher geht, das passiert leider auch manchmal in den Medien, dass quasi jede türkische Ehe eine Zwangsehe ist und jede türkische Frau potenzielles Opfer eines Ehrenmordes werden kann. Das ist genauso wenig der Fall, wie nicht alle Deutschen Rechtsradikale sind oder nicht alle deutschen Mütter ihre Kinder vernachlässigen, wie das in Deutschland gelegentlich, wenn man die Medien liest, immer wieder in Erscheinung tritt. Man sollte sich gegen jede Art von Pauschalisierung wehren. Wenn ich im Ausland bin, dann erkläre ich immer, dass die Mehrheit der Deutschen mit Rechtsradikalismus nichts am Hut hat, und ich werde oft danach gefragt, da können Sie sicher sein. In letzter Zeit werde ich danach gefragt, ob Deutsche ein Problem mit Kindern haben, weil sie sie oft vernachlässigen oder verhungern lassen, und ich weise darauf hin, dass das nicht so ist. Ich würde mir allerdings auch wünschen, dass meine Kollegen, das gilt für Ihren Berufsstand, das gilt aber auch für Politiker, nicht andersherum das Spiel mitspielen und den Islam, die Türken oder die Muslime pauschal unter einen Generalverdacht stellen.

    Meurer: Auf der anderen Seite: Jetzt kommen die Probleme mal auf den Tisch.

    Özdemir: Dagegen spricht nichts. Ich habe immer darauf hingewiesen, dass man über die Probleme reden muss. Es gibt ein Grundproblem und das ist glaube ich etwas, was viele bei uns nicht verstanden haben. Man redet über Probleme besser, wenn man unter dem Dach einer gemeinsamen Familie diskutiert. Das passiert aber bei uns nicht. Man redet über die Türken, die außerhalb der Gesellschaft stehen würden, und nicht über Menschen, die Teil unserer gemeinsamen Bundesrepublik Deutschland sind. Die Feuerwehr, die Polizei ist unsere gemeinsame Feuerwehr, unsere gemeinsame Polizei. Die Jugendlichen, die da Jagd auf diesen Feuerwehrmann gemacht haben, was mir übrigens sehr leid tut für ihn, die haben das Gefühl, es ist nicht ihre Feuerwehr. Das hat auch etwas mit Versäumnissen in der Vergangenheit zu tun, dass die Politik - ich denke da an die Kohl-Jahre - sich lange Jahre hartnäckig geweigert hat einzugestehen, dass die Bundesrepublik Deutschland sich verändert hat. Man sieht ja den Kampf innerhalb der Union: auf der einen Seite Koch, auf der anderen Seite Leute wie Barbara John, wie Frau Süssmuth, wie Armin Laschet, die die Gesellschaft so, wie sie ist, akzeptieren.

    Meurer: Die Konservativen sagen natürlich, Herr Özdemir, dass die Grünen umgekehrt zu blauäugig waren.

    Özdemir: Ich ziehe mir gerne an, nicht ich persönlich, aber ein Teil meiner Partei, dass wir da auch manchmal vielleicht blauäugig waren. Aber wenn Sie das vergleichen damit, dass die letzten 30, 40 Jahre, von denen wir sieben Jahre regiert haben, davor kein neues Staatsangehörigkeitsrecht eingeführt wurde, kein Zuwanderungsgesetz eingeführt wurde, keine Sprachkurse eingeführt worden sind und die Politik der wechselnden Regierungen immer von der Prämisse ausging, wir sind kein Einwanderungsland, wenn Sie dann mal die Verantwortungen verteilen, dann haben wir vielleicht 1 Prozent, und die restlichen 99 Prozent haben einen Namen, heißen Helmut Kohl.

    Meurer: Cem Özdemir, der Grünen-Europaabgeordnete, heute Mittag im Deutschlandfunk. Danke Herr Özdemir und auf Wiederhören.