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Özdemir fordert europaweites EU-Referendum in allen 25 Staaten

Engels: Der französische Präsident Jacques Chirac hat den gestrigen Nationalfeiertag dazu genutzt, eine schon länger bekannte Ankündigung zu konkretisieren. Sie lautet, in der zweiten Jahreshälfte 2005 werden die Franzosen per Volksabstimmung entscheiden, ob sie der gesamteuropäischen Verfassung zustimmen oder nicht. Diese konkrete Ankündigung lässt hierzulande erneut die Frage aufkommen, weshalb die Deutschen eigentlich kein direktes Entscheidungsrecht bekommen sollen. Am Telefon ist Cem Özdemir, er ist seit den letzten Europawahlen frisch für die Grünen ins Europäische Parlament eingezogen. Guten Morgen und nachträglich herzlichen Glückwunsch.

Moderation: Silvia Engels |
    Özdemir: Danke sehr, herzlichen Dank, guten Morgen.

    Engels: Die Grünen setzen sich ja in ihrem Grundsatzprogramm von jeher für direkte Bürgerbeteiligung ein also auch Volksabstimmungen und Referenden. Sollten die Deutschen nicht bei der wichtigen Frage EU-Verfassung direkt gefragt werden?

    Özdemir: Wir setzen uns nicht nur theoretisch dafür ein, sondern haben auch ganz praktisch einen Gesetzesentwurf eingebracht im deutschen Bundestag 2002. Das war nicht ganz einfach, denn auch in der SPD gab es gewisse Skepsis, gewisse Sorgen, ob das sinnvoll ist. Und unser Argument ist, dass die repräsentative Demokratie die wir haben, dass wir die ja nicht ändern oder abschaffen wollen, sondern wir wollen sie nur ergänzen durch plebiszitäre Elemente, durch direktdemokratische Elemente nach Schweizer Vorbild. Es gibt aber das Problem, dass in der Bundesrepublik Deutschland dafür die Verfassung geändert werden müsste. Sie brauchen eine Zweidrittel-Mehrheit in Bundestag und Bundesrat und da hat eben nun die Mehrheit der CDU/CSU aber auch ungefähr die Hälfte der FDP-Abgeordneten nein gesagt. Das heißt, es gibt noch nicht mal im Deutschen Bundestag eine Zweidrittel-Mehrheit geschweige denn im Bundesrat.

    Engels: Aber verstecken sich die Grünen da nicht einfach hinter den Dingen wie sie nun mal liegen? Es gab ja auch keinen Protest an der Regierungserklärung von Bundeskanzler Schröder, der kürzlich ja noch mal deutlich gemacht hat, die Ratifizierung der EU-Verfassung erfolgt nur über den parlamentarischen Weg. Da hätte man doch zumindest sich den FDP-Kollegen anschließen können, die ja etwas anderes wollten.

    Özdemir: Die FDP-Kollegen wollten über diese Verfassung abstimmen, damit sie ein Thema haben im Europawahlkampf. Wenn es ihnen ein Anliegen gewesen wäre, das man direkte Demokratie in Deutschland einführt, also ein dreistufiges Verfahren wie das sinnvoll wäre mit Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid wie gesagt wie in der Schweiz, dann müssen wir uns zusammensetzen und die Verfassung ändern. Aber ich habe was dagegen, dass immer eine Partei oder eine Regierung in Deutschland so wie es jetzt in Frankreich der Fall ist bei Chirac, quasi sagt, jetzt wollen wir mal was dem Volk vorsetzen. Der Gedanke der direkten Demokratie ist ja nun gerade nicht, dass eine Regierung oder eine Partei eine Initiative startet sondern die Bevölkerung aus sich selbst heraus sagt, diese Frage ist uns so wichtig, dafür sammeln wir Unterschriften und wollen ein Parlament zwingen, darüber abzustimmen und wenn die Abstimmung nicht so ist, wie wir es uns vorgestellt haben, dann kommt der nächste Schritt. Dann muss ein Volksentscheid einberufen werden. Das ist ja gerade der Charme. Meine Befürchtung ist, was in Frankreich jetzt passiert ist, dass es nicht um das Referendum in der EU-Verfassung geht, sondern es geht um Herrn Chirac, es geht um seine unpopuläre Wirtschafts- und Sozialpolitik. Dasselbe würde auch bei uns passieren. Die saubere Lösung wäre ein europaweites Referendum in allen 25 Staaten gemeinsam am gleichen Tag. Dann wird über die Verfassung abgestimmt und nicht darüber, ob Herr Schröder schwarze Haare hat oder nicht, ob seine Wirtschaftspolitik richtig ist oder falsch oder eben bei Herrn Chirac. Das ist meine große Befürchtung, dass es um alles geht, aber nicht um die Verfassung.

    Engels: Aber letztendlich bleibt doch das Gefühl, dass den Franzosen offenbar eher eine verantwortungsvolle Entscheidung zugetraut wird als dem deutschen Volk.

    Özdemir: Ja schauen wir uns mal die verantwortungsvolle Entscheidung an, die es ja schon mal gab in Frankreich. Erinnern Sie sich an 1992, als es um den Maastrichter EU-Vertrag ging, den Mitterand damals hat abstimmen lassen. Die Entscheidung ging hauchdünn aus. Und es ging um alles, nur nicht um die Frage Euro, nur nicht um die Frage Maastrichter EU-Vertrag, es ging im Grunde darum, wollen wir Mitterand oder wollen wir Mitterand nicht. Das ist die ganz große Gefahr, wenn man ein Referendum macht, dass von der Regierung eingeleitet wird und nicht so, wie es eigentlich die reine Lehre vorsieht, nämlich, dass direkte Demokratie bedeutet, dass sich Bürgerinnen und Bürger, Sie und ich, wir setzen uns zusammen und sagen, da hat die Regierung ein Gesetz gemacht, das gefällt uns nicht und jetzt gehen wir auf die Straße und sammeln Unterschriften dafür und wenn wir genug haben, ist das Volksbegehren eingeleitet. So sieht direkte Demokratie aus und das was jetzt in Frankreich gemacht wird, das ist ein Referendum, das hat mit dem, was wir wollen oder was in der Schweiz existiert, nicht sehr viel zu tun.

    Engels: Trotzdem hat man jetzt gerade in der Diskussion um die EU-Verfassung mit den Grünen ja nun als Regierungspartei in Deutschland nicht viel auf diesem Weg gehört, eine Verfassungsänderung tatsächlich in ihrem Sinne durchzusetzen?

    Özdemir: Naja, es gibt einen Gesetzentwurf und dem kann man ja zustimmen und dazu müsste man eine Mehrheit hinbekommen, die über die rot-grüne Mehrheit hinausgeht. Man kann sich ja über die Details unterhalten. Es gibt ja da sicherlich auch einen Streit darüber, was abgestimmt werden soll, soll man beispielsweise auch grundgesetzändernde Dinge abstimmen, soll es beispielsweise um haushaltsrelevante Themen gehen, wie hoch sollen die Quoren sein. Das alles ist sicherlich umstritten, wir sagen beispielsweise 400.000 Stimmberechtigte könnten schon ausreichen für eine Volksinitiative, für manche könnte das zu niedrig sein. Darüber kann man sich ja unterhalten. Aber unser Problem ist, dass die Union, immer dann, wenn sie gerade lustig ist oder auch die FDP sagt, dieses Thema würden wir gerne abstimmen. Aber die gesamten Themen mal in einem Gesetz zu regeln und zu sagen, wir machen ein sauberes transparentes Verfahren wie direkte Demokratie aussehen soll. Das machen sie bislang nicht. Da würde ich mir mehr Druck wünschen aus der Öffentlichkeit, aus der Bevölkerung, denn ich denke, dass die deutschen Bevölkerung mündig ist genug, dass sie direkte Demokratie bekommt, wie sie in unseren Nachbarstaaten auch existiert.

    Engels: Sie haben die Art und Weise, wie in den Nachbarstaaten Referenden angesetzt werden, kritisiert. Fürchten Sie denn, dass in Großbritannien und Frankreich und womöglich auch in anderen Staaten die Abstimmung mit einer Niederlage endet und so die Verfassung doch noch scheitert?

    Özdemir: Naja, man muss ja wissen, was auf dem Spiel steht. Es geht ja darum, dass wenn die 25 Staaten, die Mitglied der Europäischen Union sind, nicht zustimmen, dann tritt diese neue Verfassung nicht in Kraft. Und diese Verfassung brauchen wir, damit Europa überhaupt noch handlungsfähig ist, damit wir künftig Verfahren haben wie Entscheidungen zustande kommen, die einigermaßen so sind, dass bei 25 Ländern nicht die gesamte Europäische Union wie gesagt zusammenbricht. Und wenn nun eines der Länder nein sagt in dem Referendum, dann haben wir die Verfassung erst mal nicht. Die Konsequenz wäre allerdings vermutlich dann auch beispielsweise in Großbritannien, dass dann Großbritannien vor der Frage stehen würde, wie eigentlich seine Zukunft innerhalb der europäischen Union noch aussehen kann, ob nicht dann konsequent am Ende des Weges der Austritt aus der Europäischen Union steht. Das wünsche ich natürlich nicht, im Gegenteil, aber das muss den Wählerinnen und Wählern vermittelt werden. Man muss wirklich klar machen, es steht was zur Abstimmung, es geht nicht nur um Paragraphen hin oder her, sondern es geht darum, ob Großbritannien weiterhin in der Europäischen Union einen Platz hat.

    Engels: Cem Özdemir, grüner Europa-Parlamentarier, heute früh hier im Deutschlandfunk. Ich bedanke mich für das Gespräch.

    Özdemir: Ich danke Ihnen.