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Offenbach - eine Stadt voller Überraschungen

Einige Kilometer flussaufwärts der früheren Kaiserstadt Frankfurt liegt Offenbach. Nicht unbedingt eine der oberen Adressen deutscher Kulturstädte. Doch ein Spaziergang durch Offenbach lässt die Besucher staunen.

Von Franz Nussbaum | 26.09.2010
    Wir stehen hier am Ufer eines weiten Mainbogens. In unserem Rücken liegt der sogenannte Lilipark, daneben oder dahinter der Büsing-Park. Parkanlagen mitten in der Innenstadt. Seitlich von uns das opulente, rot-verputzte Isenburgische Renaissanceschloss. Dieses Ensemble aus Parks und Schloss war vor 250 Jahren der Mittelpunkt einer hufeisenförmig angelegten Garten- und Parkstadt. Der Frankfurter Johann Wolfgang von Goethe schwärmte von diesem Offenbach wie kaum sonst von einer Stadt. Er notiert hier, fast genau aus unserem Blickwinkel:

    "Trat man am Morgen aus dem Haus, so fand man sich in der freien Luft, aber nicht eigentlich auf dem Lande. Ansehnliche Gebäude, die jener Zeit einer Stadt Ehre gemacht hätten. Gärten parterreartig übersehbar, mit flachen Blumen- und sonstigen Prunkbeeten, freie Übersicht über den Fluss bis ans jenseitige Ufer. Oft schon früh eine tätige Schifffahrt von Flößen und gelenkten Marktschiffen und Kähnen. Eine sanft hingleitende lebendige Welt mit liebevoll zarten Empfindungen im Einklang."

    So eine beschauliche Sicht zarter Empfindungen waren in den engen, spießigen Gassen der Frankfurter-Innenstadt undenkbar. Am großen Hirschgarben bewohnen die Goethes ja ein stattliches vierstöckiges Haus. Zurück nach Offenbach. Dr. Jürgen Eichenauer:

    "Also wir stehen hier am Main, in der Nähe des klassischen Viertels, so nennt man die Maingärten, die die Innenstadt Offenbachs bilden. Das ist ein Bereich der Stadt, der war im 19. -Jahrhundert noch nicht bebaut. Dadurch hat man jetzt hier direkt am Fluss das Gefühl in der freien Natur zu sein. Den Eindruck, den die Besucher Offenbachs auch im 18. Jahrhundert hatten, im Grünen zu sein."

    Offenbach ist in die Geschichte getreten im Jahr 977 nach Chr. mit der Ersterwähnung. Und ist dann viel schneller als seine heutigen Vororte gewachsen, weil es näher an Frankfurt dranlag. In Frankfurt gab es die Messe. Das heißt, die Nähe zum Frankfurter Handel, zur Frankfurter Metropole, die sich dann entwickelt hat.

    Was kaum jemand weiß, im Jahre 1631 sind die Frankfurter Ratsherrn im Isenburger Schloss zu Offenbach zur Kapitulation empfangen worden. Es war im Dreißigjährigen Krieg, als Gustav Adolf von Schweden das Rhein-Main-Gebiet besetzt hatte. Das sind natürlich düstere Punkte für das Offenbach-Frankfurter-Verhältnis. Aber es gibt auch viele positive. Und nun springen wir in das Jahr 1775. Da flaniert also hier im Büsingpark der 25-jährige Jungadvokat Dr. Johann Wolfgang von Goethe, Dichter des Weltbestsellers "Die Leiden des Jungen Werthers" in Wertherkluft. Habe hier ein kleines Bild dabei. Dunkle taillierte Jacke, gelbe Hose und Stulpenstiefel. Wie der gestiefelte Kater. Goethe ist verliebt, oder ist er nur verknallt - in die 16-Jährige Bankierstochter Lili Schönemann? Goethe nennt sie eine niedliche Blondine. Der Wertherroman öffnet Goethe die Türen der sehr feinen Frankfurter Gesellschaft. Was treibt Goethe in Wertherkluft nach Offenbach?

    "Ja, die Lili Schönemann hatte eine Mutter, eine geborene d'Orville. Die d'Orvilles waren eine Hugenottenfamilie, die in Offenbach eingewandert sind im 18. Jahrhundert. Die sind als Unternehmer hervorgetreten. Das heißt, es gab einmal Frankfurter als Großstadt als Lebensort und Offenbach als Sommerfrische. Und Goethe hat die Lili in die Sommerfrische begleitet."

    Nun muss man aber auch dazu sagen, es gab ja Standesunterschiede.

    "Also die Schönemanns waren sehr, sehr reich und die Familie Goethe war reich. Das betont den Unterschied. Die Familie Goethe hat auf erworbenen, beständig gewachsenen Reichtum zurückgeblickt, der sich in gediegenen bürgerlichen Verhältnissen ausgedrückt hat. Schönemanns haben zu den oberen Zehntausend gezählt und mussten einen Salon unterhalten, um ihre Bank- und Geschäftskunden zu hofieren. Dort war die Tochter dann zum öffentlichen Pianospielen, zu damaligen Glücksspielen zuständig. Hat also die Geschäftskunden unterhalten müssen. Und diese illustre Gesellschaft, die sich dort jeden Abend getroffen hat, die also bei Goethes Zuhause undenkbar gewesen wäre, in diesen Kreis hat Goethe nach seinem Werthererfolg Einlass gefunden, über Freunde und hat sich in die Tochter des Hauses verliebt."

    Goethe fühlt sich in dieser Schönemann'schen Gesellschaft angestarrt wie "ein Papagei auf der Stange", beklagt er. Und Demoiselle Lili ist derart gewandt, selbstsicher, elegant, eine junge Dame von Welt. Man turtelt, reitet aus, ist im holden Offenbach, im Palais des Onkels d'Orville hochwillkommen, bisweilen sogar alleine im Zimmer oder in einem Gartenhaus. Alleine - was damals undenkbar ist. Sturm und Drang. Zu Ostern folgt eine etwas seltsam ritualisierte Verlobung. Und wir spazieren hier in Offenbach am sogenannten "Lili-Tempel" vorbei. Eine Gedenktafel erinnert, dass hier Johann Wolfgang und Lili 1775 der Liebe Glück und Leid erleiden. Wir lesen in der Goetheliteratur:

    "Das Bankhaus Schönemann favorisiert damals ganz andere Pläne mit der Tochter des Hauses. Lili ist quasi die "Rückversicherung" der Bank. Was kaum jemand ahnt, das Geldhaus Schönemann ist fast pleite."

    Lehmann-Brothers lassen grüßen. Die einiges älteren Brüder der Lili in der Geschäftsführung des Hauses möchten die bildhübsche Schwester mit Haut und Haaren an einen potenten Sanierer verheiraten. Lieber dumm und dick, Hauptsache stinkreich. Dagegen ist ihnen der Advokat und Stückeschreiber Goethe, der noch dem eigenen Vater auf der Tasche liegt, vollkommen ungeeignet. Sturm hin, Drang her, die Banker-Brüder sollen dem Papagei das Haus verboten haben. Deswegen vielleicht die vielen Treffs hier in Offenbach? Das junge Glück zerbröselt. Der verlobte, gleichzeitig umtriebige, auch luderliche Goethe hat nebenbei auch andere Liebschaften im Kopf. Er wird stürmisch vom 18-jährigen Herzog Carl August von Sachsen Weimar umworben. Auch die charmante Lili führt Verehrer gerne am Gängelband oder am Nasenring spazieren. Goethe bricht mit Lili, oder umgekehrt? Er bricht seine Zelte in Frankfurt und Offenbach ab und wird Geheimer Rat und Dichterfürst in Weimar. Als 80-jähriger Greis soll Goethe seinem Eckermann gebeichtet haben:

    "Ich sehe die reizende Lili wieder in aller Lebendigkeit vor mir. Und es ist mir, als fühlte ich wieder den Hauch ihrer beglückenden Nähe. Sie war in der Tat die Erste, die ich tief und wahrhaft liebte. Auch kann ich sagen, dass sie die Letzte gewesen. Ich bin meinem eigentlichen Glück nie so nahe gewesen als in der Zeit jener Liebe zu Lili."

    Dichtung und Wahrheit? Einer der Lilibrüder schießt sich, wie in Goethes Werther, eine Kugel in den Kopf. Nicht aus Liebeskummer, das Bankenhaus stürzt in die Insolvenz. Und hier draußen auf einer Bank am Lili-Tempel möchte man sich hinsetzten und weit über 50 Seiten verschiedener Literatur nachlesen, die jene Romanze ausgelotet hat. Dieser sogenannte Lili-Tempel ist gute 20 Jahre nach der bittersüßen Lovestory erbaut worden. Ein kleiner Badepavillon hier am Büsing-Park. Erbaut vom Frankfurter Bankier Metzler. Dessen Nach-Nachfahren mussten vor wenigen Jahren jenen kriminellen Erpressungsversuch und die Ermordung eines 11-jährigen Sohnes verkraften.

    Offenbach steckt voller Geschichten. Aber man sieht nur, was man weiß. Deswegen der Rat, vor einem Sonntagsspaziergang vorab einen Besuch im Haus- und im Museum der Stadtgeschichte einplanen, gleich neben dem Lili-Park. Und am jenseitigen Ausgang des Parks kommen wir zur Goethestrasse und zum Capitol-Theater und hier lassen wir Goethes Rhapsodie in Love ausklingen.

    Dieses heutige Capitol-Theater war die 1938 geschändete ehemalige Synagoge von Offenbach. Das Haus wird dann, weil entweiht, später umgebaut, wird das Offenbacher Theaterforum, spielt demnächst auch Goethes Liebesleiden als jungen Werther. Das Capitol ist gleichzeitig aber auch die musikalische Heimstätte der Neuen Philharmonie, die wir grade mit Gershwins Rhapsody in Blue hörten. 52 Sinfoniker spielen alles von Klassik bis Jazz und Rock. So begleitet die Neue Philharmonie crossover beispielsweise auch Künstler wie Jose Carreras oder Paul Potts oder den Geigenartisten David Garrett auf deren Deutschlandtourneen oder bei Musikeinspielungen.

    Und nun möchte ich mit Ihnen einige Seiten aus dem kurzen Leben des jungen Dramatikers Georg Büchner aufblättern. Er wird nur 23 Jahre alt. Nach Georg Büchner wird heute der renommierteste Deutsche Literaturpreis benannt. 1834 schmuggelt dieser Medizinstudent Büchner auf Schleichwegen von Gießen zu Fuß nach Offenbach seinen "Hessischen Landboten" heimlich hierher zum Druck. Eine Flugschrift gegen den bornierten Absolutismus.

    "Hier gab es die Buchdruckerei Brede, die den Inhaber Karl Preller hatte. Preller hat revolutionäre Schriften im Vormärz verlegt, also in der Zeit vor 1848, vor der Paulskirchen-Revolution. Damals hat in Deutschland strengste Zensur geherrscht, politische Unfreiheit, das Recht auf freie Meinungsäußerung und politische Betätigung war verboten. Karl Preller immer wieder im Konflikten mit der Zensur in Darmstadt. Georg Büchner ist schon früh mit Revolutionären in Berührung gekommen. Als Student, er hat in Gießen studiert, hat er dort eine Gesellschaft für Menschenrechte gegründet."

    Der Landbote hört sich eher bieder an. Auf den ersten Blick wie ein erbauliches Blättchen für Samstag und Sonntag?

    "Der hessische Landbote verrät im Titel, dass er sich an die Landbevölkerung richtet, an den Bauernstand. Die Bauern sind durch diese Schrift angesprochen worden, unter dem Motto Frieden den Hütten, Krieg den Palästen. Die Schrift selbst war mit zahlreichen Bibelzitaten gespickt, um auch die Bauern direkt anzusprechen, die ja stark im Glauben verwurzelt waren. Also Büchner war revolutionär in einem Sinne, wie man es heute nicht mehr als revolutionär begreifen würde. Er war Republikaner, er ist für Demokratie eingetreten, was er gefordert hat, das Recht freie Meinungsäußerung."

    Büchner und sein Drucker Preller werden denunziert, können aber, obwohl steckbrieflich gesucht, vor den Hessen-Darmstädter Schlapphüten fliehen. Straßburg, Schweiz. Büchner arbeitet unter anderem als Schriftsteller, stirbt mit 23 Jahren an einer Typhusinfektion. Eines seiner Werke ist der "Woyzeck", spielt in den Kulissen und im Milieu des biederen Soldaten Woyzeck. Und in Offenbach studiert man derzeit den "Woyzeck" ein. Eine kurze Szenenprobe, nach einem Fest, nachdem Woyzecks Liebchen, die Marie, mit dem flotten Tambourmajor angebändelt hat. Marie dreht fasziniert einen Geschenkring in den Händen:

    "Wie das glänzt? Was hat er gesagt, was das sein soll? Es ist bestimmt ein Diamant. Wir könnten uns gerad' mal einen Plastikspiegel leisten."

    Und nun muss ich Ihnen diese gespiegelte Szene erklären. Im Starthaus-Theater spielen, frei nach Büchners Text Arbeitslose. Nicht arbeitslose Schauspieler. Leute ohne Job, dreißig Mal abgewiesen. Der einzige Profi ist der Regisseur und Projektleiter. Und nun sollen diese Spieler, perspektivlos wie Woyzeck und Marie, auf einer Bühne bestehen lernen. Sollen nebenbei fit getrimmt werden für Bewerbungsgespräche. Und deshalb büffeln sie Texte, überwinden ihre Scheu im Scheinwerferlicht.

    "Die Leute, die hier freiwillig sind, die mögen's auch, wenn die Leute da auf einen gucken und sagen, du hast das Klasse gemacht."

    Das merken Sie, dass da was zurückkommt, aus dem Publikum? Wenn Sie sich demnächst mal wieder bewerben.

    "Ja, Vorstellungsgespräch, das wird ja hier öfters geübt, das ist ja auch Theaterspielen dann in dem Moment."

    Das ist im Endeffekt das gleiche Spiel. Ich muss mich verkaufen!

    "Bisschen unter Druck dann. Und das lernen wir hier mit den Schwächen besser umzugehen, und die Stärken dann halt besser in den Vordergrund. Das Selbstbewusstsein, wissen, was ich beim Bewerbungsgespräch sage, wie ich mich verhalte, wie ich da sitze."

    Zu was würden Sie sich denn bewerben wollen?

    "Ich wollte früher mal bei der Deutschen Bahn arbeiten. Aber da ich jetzt hier bin, habe ich dann eine neue Richtung gewählt, ich will ein Studium als Sozialpädagogin machen."

    Sie lernen sich als wichtiges Rädchen eines Uhrwerks begreifen, das nur dann pünktlich geht, wenn alle anderen Rädchen wie aufgedreht funktionieren. Die Stationen dieses Sonntagsspaziergangs liegen alle fußläufig beieinander, vielleicht in einem Planquadrat von einem Kilometer. Von Lili und Johann Wolfgang über die Neue Philharmonie bis zu Woyzecks "Marie". Und in diesem Planquadrat würden wir auch auf Sophie von La Roche treffen. Sie war 20 Jahre älter als Goethe, schreibt den ersten erfolgreichen deutschen Frauenroman. Man könnte auch sagen, für emanzipierte Leserinnen "Die Geschichte des Fräuleins von Sternheim". Goethe sucht sie mehrfach auf. Beim ersten Treff, noch in Koblenz hofft der junge Goethe auf ein bisschen Werbung durch die La Roche in ihrem literarischen Salon. Der Filou Goethe ist auch mit Maximiliane, der 16-jährigen La Roche-Tochter befreundet, sprich verknallt. Und Maximiliane, später verheiratete Brentano, ist die Mutter der Schriftstellerin Bettina von Arnim und von Clemens Brentano. Und als Maximiliane früh verstirbt, kommen die Enkel Bettina und Clemens zur Oma La Roche und verleben hier in diesem Planquadrat "Offenbach", mit Park und Mainbogen einen Teil ihrer Jugend in der Sommerfrische.