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Ohne Kontext, aber mit Bier

Bierbänke, Flex und kalte Pizza, dazu drei Handwerker – und fertig ist die Bauarbeiter-Szene. Arbeit ist eher nicht angesagt. Die drei reden aneinander vorbei aufeinander ein.

Von Cornelie Ueding | 10.04.2011
    Jeder folgt allein seiner Denkspur: Der eine ist mächtig frustriert, hat er doch drei Tage nach seiner Hochzeit "die Frau seines Lebens" kennengelernt und wieder verloren. Der andere regt sich über die jeden Tag aus Cottbus angekarrten Billig-Leiharbeiter auf und schwelgt in Elegien über die politische Gesamtsituation, den Niedergang des Sozialismus und die Arbeitskolonnen der "gebrochenen Herzen". Und der Dritte kann nicht fassen, dass ein vierter mir nichts dir nichts zwischen die Wände geraten, mutmaßlich abgestürzt, jedenfalls verschwunden ist. Und daher greifen die drei in ein paar Redepausen abwechselnd zu Putzkelle und Vorschlaghammer: erst wird das Loch in der Wand wieder verputzt, dann neu aufgeklopft, weil es ihnen keine Ruhe lasst, was sich dahinter befinden könnte.

    Nein, eine Retro-Revue des sozialistischen Realismus samt Klassenkampf und Lohndrückerei, Society-Lady und Vorarbeiter wird nicht draus – für den Autor Roland Schimmelpfennig sind diese Bausteine von drei Lebensausschnitten nur Einleitung zu mächtigen Exkursen im Stil philosophischer Proseminare. Eine gefühlte Unendlichkeit, de facto jeweils gut 10 Minuten lang, sondern Rudi und Uli eine apokalyptische und eine utopische Zusammenschau aller, wirklich aller möglichen Globalisierungsthemen ab, von Atomkraft und Armut bis Klimawandel und Weltfrieden, Jesus-Schleife inbegriffen – kontextfrei und Bier nippend.

    Wie gut, dass sich in dieser dramaturgisch diffizilen Situation was tut: Der verloren geglaubte Marek ist plötzlich wieder da. Nein, aus dem Loch, diesem Durchbruch ins Nichts, kommt er nicht, und er bricht auch nicht, wie's im Text steht, staubbedeckt durch den Fußboden. Er saß schon die ganze Zeit in der 1. Reihe des Zuschauerraums – und springt jetzt splitterfasernackt auf die Bühne. Nun ist nicht die Stunde des Pan angebrochen, obwohl er wie ein nackter Frosch, wie eine mythische Rätselfigur wirkt, sondern die Viertelstunde der Regie, die nun alle Register zieht. Marek, der vierte Mann, muss sich erstmal mit viel Mörtelschlamm in eine groteske Bühnenfigur, halb Caliban, halb Fantasy verwandeln, bevor er seinen Kumpels ringend, blökend, spuckend, sabbernd, schenkelschlagend und gliederhüpfend seine Botschaft aus dem Untergrund mitteilt. Es ist die Geschichte des Königs Runza aus dem Feen- bzw. Putz- und Mörtelreich, dem Spinnen-, Asseln- und Bodenritzen-Reich. Irgendwo zwischen einem "Vorwärts-" und einem "Rückwärts-Reich".

    Die Kumpels und, nicht minder ratlos, die Zuschauer, lassen das zuweilen aggressive Gegrunze mehr oder weniger amüsiert über sich ergehen. Dann ist die Geschichte aus, die Arbeiter erwachen aus der Starre und spritzen in völlig unbegründeter Euphorie den glitschigen Gesellen wieder halbwegs weiß. Und das Publikum tut, was man, wie Schimmelpfennigs Stücktitel ja schon nahe legt, immer tut, wenn man nicht weiß, "was man tun soll" und auch nicht "wie und warum" – es applaudiert. Applaudiert einem Stück, das nicht nur keine Antworten gibt, sondern – und darin liegt das Problem: auch keine Fragen stellt. Den bloßen Gestus, 'irgendwas', und sei's die allgemeine Ratlosigkeit, möglichst plastisch und ein bisschen sehr regredierend zum Ausdruck bringen zu wollen, sollte man jedenfalls nicht, wie es höchst ambitioniert im Programmheft geschieht, mit einem aufklärerischen Anspruch verwechseln. Die Zuschauer sollten die Geschichte ernst nehmen, empfiehlt der Autor im Programmheftinterview. Möglicherweise hat Regisseur Christoph Mehler sie aber zu ernst, nämlich wörtlich genommen und, durchsetzt mit ungelenken Ausflügen in rein illustrative Spielsituationen, etwas sehr eindimensional 'vom Blatt' spielen lassen? Was, wenn Schimmelpfennig in diesem Auftragswerk dem landauf, landab proklamierten Ende der Spaßkultur und dem Beginn einer neuen Ernsthaftigkeit, einer naiven Repolitisierung den Spiegel vorhalten wollte? Dann wäre das Werk mit dem monströsen Titel "Wenn, dann: was wir tun, wie und warum" immer noch kein gelungenes Stück – man müsste es nur ganz anders inszenieren.

    Schauspiel Frankfurt


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