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Oliver Sachs
Ein persönlicher Abschied

Im Februar 2015 haben Ärzte in seiner Leber zahlreiche Metastasen entdeckt. Oliver Sacks weiß, dass er sterben wird. Er selbst schreibt dazu: "Jeder Mensch muss seinen eigenen Weg finden, sein eigenes Leben leben, seinen eigenen Tod sterben."

Von Martin Winkelheide | 27.10.2015
    Oliver Sacks
    Oliver Sacks (Imago/leemage)
    "Am 17. Dezember 2005, einem Samstag, schwamm ich wie üblich meine Morgenbahnen und beschloss dann ins Kino zu gehen."
    Der Neurologe und Autor Oliver Sacks ist mit seinen "Fallgeschichten" bekannt geworden. Etwa, mit dem "Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte".
    "Ich setzte mich in den hinteren Teil des Kinos. Mir fiel nichts Ungewöhnliches auf, bis die Programmvorschau begann. Da bemerkte ich augenblicklich eine Art Flimmern."
    Im Buch "Das innere Auge" beschreibt Oliver Sacks seinen "Fall".
    "Als die Leinwand dunkel wurde, flammte der Fleck, der auf der linken Seite gezittert hatte, wie weißglühende Kohle auf. An den Rändern zeigten sich Spektralfarben. Türkis, Grün, Orange. Nach 20 Minuten stürzte ich aus dem Kino hinaus."
    Zwei Stunden später. Der Arzt Oliver Sacks wird zum Patienten.
    "Er sprach behutsam, wählte seine Worte sorgfältig. "Ich sehe eine Pigmentierung – etwas hinter der Netzhaut. Es könnte ein Hämatom, aber auch ein Tumor sein. Wenn es ein Tumor ist, könnte er gutartig oder bösartig sein". In meinem Kopf begann eine Stimme "Krebs, Krebs, Krebs" zu brüllen."
    Es ist ein bösartiger Tumor. Bestrahlung, Laserbehandlung. Sacks erblindet auf dem kranken Auge. Der Tumor aber, er scheint besiegt.
    "Vor einem Monat fühlte ich mich gesund. Ich bin 81, ich schwimme jeden Tag eine Meile. Aber mein Glück hat mich verlassen."
    Februar 2015. Ärzte haben in seiner Leber zahlreiche Metastasen entdeckt. Oliver Sacks weiß, dass er sterben wird.
    "Jetzt ist es an mir zu entscheiden, wie ich die Monate verlebe, die mir bleiben. Ich muss auf die reichste, tiefste und produktivste Art leben, die ich vermag", schreibt Sacks in einem Essay für die "New York Times". Der Titel: "Mein eigenes Leben".
    "In den letzten Tagen ist es mir gelungen, mein Leben wie aus großer Höhe zu betrachten. Als eine Art Landschaft. Mit einem tieferen Sinn dafür, wie alle Teile zusammenhängen. Ich habe noch nicht mit dem Leben abgeschlossen. Im Gegenteil, ich fühle mich sehr lebendig. Ich möchte meine Freundschaften vertiefen, denen Lebewohl sagen, die ich liebe, schreiben, reisen – wenn die Kraft dazu reicht. Es wird Zeit sein für Spaß – vielleicht sogar für etwas Verrücktheit."
    Worauf kommt es an? Was ist wichtig? Was ist nicht mehr wichtig?
    "Ich sollte mich nicht mehr um Politik oder den Klimawandel kümmern. Das ist nicht Gleichgültigkeit. Es ist eine Ablösung. Ich sorge mich nach wie vor um den Nahen Osten, den Klimawandel, oder wachsende wirtschaftliche Ungleichheit. Aber das ist nicht mehr mein Job – es gehört der Zukunft."
    Oliver Sacks starb am 30. August 2015 im Alter von 82 Jahren. Bis zuletzt, heißt es auf seiner Website, machte er das, was er gerne tat: Schreiben, mit Freunden reden, Klavier spielen, Räucherlachs essen.
    "Menschen, die sterben, lassen sich nicht ersetzen. Sie hinterlassen Löcher, die nicht gefüllt werden können. Es ist das Schicksal eines jeden menschlichen Wesens, dass er ein einzigartiges Individuum ist: Er muss seinen eigenen Weg finden, sein eigenes Leben leben, seinen eigenen Tod sterben."