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Oliver Sacks: "Der Strom des Bewusstseins"
Die Fähigkeit zum Optimismus

Was passiert in unserem Gehirn, wenn wir uns falsch erinnern? Hat ein Regenwurm Empfindungen? Diesen und weiteren Fragen von Mensch, Natur und Evolution ist Oliver Sacks in seinem jüngsten Buch nachgegangen. An dem Essay-Band hat der 2015 verstorbene Autor bis zum Schluss gearbeitet. Das Schreiben für ihn: eine lebenswichtige Arbeit.

Von Paul Stoop | 27.12.2017
    Der britische Neurologe und Schriftsteller Oliver Sacks
    Der britische Neurologe und Schriftsteller Oliver Sacks: "Der Strom des Bewusstseins" wurde nach dem Tod des Autors veröffentlicht. (Imago/leemage)
    Wird es eigentlich nicht langweilig, wieder ein Buch von Oliver Sacks zu lesen? Sacks hat doch seit Jahrzehnten die Funktionsweise unseres Gehirns erläutert, ungewöhnliches Verhalten erklärt und Verständnis für die Vielfalt menschlicher Entwicklung geweckt. Der jüngste, postum erschienene Essay-Band "Der Strom des Bewusstseins" lässt keine andere Antwort zu als: Nein, es wird nicht langweilig. Jede Seite ist die Lektüre wert – wieder einmal.
    Wenn Oliver Sacks über Evolution, Neurologie, Flora und Fauna schreibt, geht es ihm nicht einfach um eine verständliche Wiedergabe komplexer Sachverhalte. Seine Bücher sind Plädoyers für intellektuelle und menschliche Offenheit, für Wagemut und Geduld beim Ringen um Erkenntnis. In idealer Weise findet er solche Eigenschaften bei den Heroen der Wissenschaftsgeschichte. Ihnen widmet sich der Neurologe in seinem neuen Buch. Dabei schlägt er immer wieder die Brücke zum Heute und zeigt: Wissenschaft ist ein offener Prozess, der niemals abgeschlossen ist.
    In den zehn Artikeln dieses Bandes befasst sich Sacks mit Darwin, Freud und William James. Das sind seine Protagonisten, die beobachtend, experimentierend und analysierend zu Durchbrüchen menschlicher Erkenntnis beigetragen haben. Es geht um Pflanzen und Regenwürmer, um Verhören und Vergessen und um Phänomene wie Geschwindigkeit und Kreativität.
    Oliver Sacks: Schon früh ein Beobachter
    Darwins Arbeiten über Pflanzen und Blumen haben die Grundlagen für seine Evolutionstheorie gelegt. Obwohl er für sich das Etikett "Botaniker" ablehnte, hat er dieses Fach doch aus der Sammel- und Hobby-Ecke herausgeführt. Es ging ihm nicht nur um das Was, sondern um das Wie und das Warum. Und er experimentierte, wie Sacks schildert.
    "In mühevoller Kleinarbeit versuchte er, sich als Bestäuber zu betätigen. Mit dem Gesicht nach unten lag er auf dem Rasen und übertrug Pollen von einer Blüte auf die andere: langgriffelig auf langgriffelig, kurzgriffelig auf kurzgriffelig, langgriffelig auf kurzgriffelig und so weiter."
    Seine Experimente brachten Darwin dazu, nach der Erklärung für die unterschiedliche Anziehung zu suchen, die bestimmte Blüten auf einzelne Insekten ausüben. Seine Kinder halfen bei der Flug-Beobachtung der Bienen mit, eine damals übliche Form von "Citizen Science". Am Ende verstand Darwin die selektive Befruchtung durch Bienen, Schmetterlinge und andere Insekten – und entschlüsselte mit diesem Fluggeschehen auch die Co-Evolution von Pflanzen und Tieren.
    Oliver Sacks brennt für diese Art forschender Neugier. Er selbst war schon früh ein Beobachter, wie er in einem der autobiografischen Hinweise erzählt, die er in seinen Texten behutsam einsetzt:
    "Als Junge war ich von Geschwindigkeit fasziniert, von der ungeheuren Vielfalt der Geschwindigkeiten in der Welt um mich her. Menschen bewegten sich mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten, Tiere noch mehr. Insekten schlugen ihre Flügel so rasch, dass man sie nicht sehen konnte, wohl aber vermochte man ihre Frequenzen an dem Ton zu erkennen, den sie erzeugten."
    Diese Faszination blieb, und es gab immer wieder Patienten, denen der Neurologe Sacks genaue Beschreibungen ihres mentalen Tempos entlockte, wie auch – als Gegenpol – der extremen Verlangsamung von Wahrnehmen oder Handeln. Auf der Grundlage aktueller Forschungsarbeiten fasst Sacks zusammen, dass es für den durchschnittlichen Menschen ein recht überschaubares Geschwindigkeitsspektrum gibt. Aber Training, Disziplin und kreative Anleitung könnten im Einzelfall Grenzen verlegen.
    "Die verblüffenden Leistungen von Schachgroßmeistern, die blitzartige Geschwindigkeit von Rechenkünstlern, von musikalischen Improvisatoren und anderen Virtuosen hat wohl weniger mit grundlegender neuronaler Geschwindigkeit zu tun als mit enormem Wissen, auswendig gelernten Mustern und Strategien und höchst raffinierten Fertigkeiten, die sie abrufen können."
    Diese nuancierte Betrachtungsweise des Zusammenwirkens von physisch Gegebenem und Erlerntem oder Trainiertem bietet beiläufig eine unideologische Antwort auf die alte Frage "Natur oder Kultur?"
    Das Unbewusste erklärt wohl nicht alles
    Sacks ist auf zweifache Weise großzügig. Einmal gegenüber der Leserschaft, mit der er unaufdringlich sein Wissen um die Wege der Forschung, seine Annäherungen an Erkenntnisse und seinen Wissensdrang teilt. Und er ist großzügig gegenüber den Giganten vieler Disziplinen, vor denen er sich verneigt. Dabei lässt er seinen Blick nicht durch Ehrfurcht trüben. Das demonstriert er in einem kurzen Essay über Fehlleistungen beim Hören, illustriert mit amüsanten persönlichen Beispielen. Sicherlich habe Freud Recht mit der Annahme, Wünsche, Ängste, Motive und Konflikte spielten eine Rolle bei Fehlwahrnehmungen. Aber alles erkläre das Unbewusste wohl nicht.
    Seine eigenen Erfahrungen zwängen ihn zur Annahme, schreibt Sacks, "dass Freud den Einfluss anderer Faktoren unterschätzt hat: die neuronalen Mechanismen und den offenen, unvorhersehbaren Charakter der Sprache – zwei Faktoren, die die ursprünglichen Bedeutungen sprachlicher Äußerungen untergraben und Hörfehler bewirken können, die in keinerlei Beziehung zum Kontext und zu bewussten Beweggründen stehen."
    Der Großzügigkeit in Sacks' Denken entspricht seine Fähigkeit zum Optimismus. Aus individuellen Abweichungen selbst extremster Art zieht er Wissen um das Gemeinsame der menschlichen Existenz. Die Beschreibung eigenen Leidens während der Krebstherapie in beendet er im Kapitel über das sogenannte Kernbewusstsein des Menschen mit seinem Jubel über den einen Moment, als es ihm plötzlich unerwartet gut ging. Die entscheidenden Teile des vegetativen Nervensystems hätten wohl wieder den idealen Zustand der Balance erreicht – und das auf dem Weg zum sicheren Tod.
    Das Schreiben hatte für Sacks’ in seinem letztem Lebensjahr eine besondere Bedeutung. Er hatte viel vor und wenig Zeit, also befasste er sich mit Fragen, die er unbedingt zur Diskussion stellen wollte, zum Beispiel mit diesem Band. Für ihn war das lebenswichtige kreative Arbeit. Kreativität, schreibt er, sei ein
    "Zustand, in dem sich Gedanken zu einem raschen, dichten Strom zu organisieren scheinen, der uns das Gefühl einer wunderbaren Klarheit und Sinnhaftigkeit vermittelt (...). "Wenn ich in einer solchen Verfassung schreibe, scheinen sich meine Gedanken von allein zu einer spontanen Reihenfolge zu organisieren und sich augenblicklich in die passenden Worte zu kleiden. Ich habe das Empfinden, dass ich einen Großteil meiner Persönlichkeit und meiner Neurosen hinter mir lassen kann. Ich bin zugleich nicht mehr ich und der innerste Teil meiner selbst – sicherlich der beste Teil meiner selbst."
    Und ach! Bei der Lektüre dieses Buches fällt einem wieder diese entsetzliche Lücke auf: Wie sehr fehlt uns eine europäische Zeitschrift wie die "New York Review of Books", in der auch viele von Sacks’ Artikeln zuerst erschienen sind. Eine Zeitschrift, die sich "interdisziplinär" nicht als Label anheftet, sondern es ganz einfach ist. Klug zusammengestellt, perfekt redigiert und mit internationaler Ausstrahlung. Sacks’ Buch ist dem Mitbegründer und Redakteur Bob Silvers gewidmet. Silvers starb im März dieses Jahres, auch er ein großzügiger Mensch des Wortes und der Kultur.
    Oliver Sacks: "Der Strom des Bewusstseins"
    Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 2017, 256 Seiten, 22 Euro