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Olivia Laing: “Zum Fluss"
Spurensuche an der Ouse

1941 ging Virginia Woolf in die Ouse. Die britische Autorin Olivia Laing ist dem Lauf dieses Flusses gefolgt und hat sich der eigenen Einsamkeit ausgesetzt. "Zum Fluss", im Original bereits 2011 erschienen, erweist sich als Wegbereiterin des britischen Nature Writings.

Von Tanya Lieske |
Hintergrund: Stockimage Weizenfeld / Vordergrund: Buchcover "Zum Fluss"
In Deutschland darf man die 1977 geborene Autorin Olivia Laing noch entdecken, zum Beispiel mit ihrem Debüt „Zum Fluss“. Es erzählt von einer einwöchigen Wanderung entlang der Ouse. (btb Verlag)
Eine Woche lang war Olivia Laing im Jahr 2009 an der Ouse unterwegs. Sie folgte dem Fluss, der in Northamptonshire nördlich von London entspringt und schließlich in den Ärmelkanal mündet. Ihre Wanderung ist der stoffliche Kern des Buchs, doch wie immer geht es im Nature Writing auch um die Erforschung der Verbindung zwischen Mensch und Landschaft. Wasser wird bei Olivia Laing zu jenem Element, das Geschichten und Erinnerung mit sich führt.
"Ein Fluss bewegt sich nicht nur durch den Raum, sondern auch durch die Zeit. Flüsse haben unsere Welt geformt; sie tragen, wie es bei Joseph Conrad heißt, 'die Träume der Menschen, die Saat neuer Staaten, den Keim großer Reiche' in sich."

Ein Text wie ein Flusslauf

Wie der von Conrad beschworene Flusslauf vollzieht auch Laings Text eine vertikale und eine horizontale Bewegung. Die Sedimentstruktur einer alten Kulturlandschaft wird in ihrer Prosa zu sich überlagernden Reflexionen. Da sind zum Beispiel die Knochen jener Männer, die im Mittelalter eine Schlacht an der Ouse geschlagen haben, und die nie beerdigt wurden. Für Laing, die sich bewusst ist, dass diese Knochen unter ihren Füßen liegen, ist dies Anlass über die Verbindung von Leben und Tod nachzudenken. Der Tod wird zum essayistischen Leitmotiv wie zum Kompass ihrer Wanderung, denn natürlich ist sie auch zu Virginia Woolf unterwegs.
"Die Ouse ist nicht sonderlich bedeutend. Sie hat die breiteren Ströme der Geschichte nur ein- oder zweimal gekreuzt; als Virginia Woolf 1941 dort ertrank und als an ihren Ufern, Jahrhunderte zuvor, die Schlacht von Lewes ausgefochten wurde."
Virgina Woolfs Suizid in der Ouse ist einer jener Schriftstellerinnentode, die von der Nachwelt fast mythisch überhöht wurden. Auch wenn sie diesen Ort sucht und findet, bleibt Olivia Laing merklich um Zurückhaltung bemüht. Sie vermeidet jegliches Tremolo. Mehr als die viel diskutierten Umstände und Auslöser von Virginia Woolfs Todeswunsch interessiert sie sich für die Anverwandlung des Elements Wassers in Woolfs literarischem Werk.

Wasser bei Woolf und bei Grahame

Dabei gelingen ihr, auch dank ihres gründlichen Studiums von Briefen und Notizbüchern der Eheleute Woolf, frische Betrachtungen. Dazu gehört eine so überraschende wie überzeugende Engführung der Woolfschen Wassermetaphorik mit Kenneth Grahames Klassiker "Der Wind in den Weiden" aus dem Jahr 1908. Der dunkle und polymorphe Charakter dieser Geschichte von Maulwurf, Dachs, Kröte und Ratte am Fluss weist ja ohnehin weit über das Genre der Kinderliteratur hinaus. Auch hier ist die dünne Membran, welche die Welt der Lebenden von der Welt der Toten trennt, stets präsent.
"Allmählich verfiel ich in jene Trance, die vom langen Laufen herrührt, wenn die Füße und das Blut in vollkommener Harmonie zu kollidieren scheinen. Kurioserweise haben sowohl Kenneth Grahame als auch Virginia Woolf diesen unheimlichen Zustand besungen, den sie für eine nahe Verwandte der Inspiration hielten, die zum Schreiben nötig ist. 'Das besondere Geschenk der Natur an den Wanderer', erläuterte Grahame in einem späten Aufsatz, 'besteht darin, dass es den Geist in Schwung versetzt, ihn redselig, überschwänglich werden lässt, ja vielleicht sogar ein klein wenig verrückt - in jedem Falle aber schöpferisch und hochsensibel.'"

Die Autorin im Dickicht

Das Verfahren einer Lektüre, die zu Erfahrung wird, die schließlich in einem Text wiederkehrt, der an die vergangene Lektüre erinnert, ist stilbildend für dieses Buch "Zum Fluss." Hier wandert eine besessene Leserin, zudem eine Autorin, die akribisch recherchiert hat. Man kann das Ergebnis nicht ganz freisprechen vom Drang zur Gelehrsamkeit, und nicht immer gelingt Olivia Laing die Engführung an ihr persönliches Thema. Denn auch ihr Weg steht im Zeichen eines Verlustes.
Eingangs lässt sie ihre Leser und Leserinnen wissen, dass sie sich auf den Weg gemacht hat, weil eine Liebesbeziehung endete. Doch dann verbirgt sie sich in dem narrativen Dickicht, das sie selbst geschaffen hat. Bezeichnenderweise liegt ihr der Gleichmut des überlebenden Ehemanns Leonhard Woolf viel näher als der tragische Tod seiner Ehefrau Virginia. Dies ist also kein feministisch inspiriertes Manifest einer Trauer und eines Verdrusses am Leben.
"Diese Gedanken mögen freudlos klingen, doch sie erfüllten mich mit einer sonderbaren Heiterkeit. 'Nichts ist von Bedeutung', pflegte Leonhard zu sagen, nur um sogleich hinzuzusetzen: 'Alles ist von Bedeutung'."
Olivia Laings Debüt glänzt in vielen Passagen durch Understatement und durch ihre bewegliche, luzide Prosa, in der das Element des Wassers stets präsent ist. "Zum Fluss" ist in Großbritannien übrigens bereits 2011 erschienen, zwei Jahr früher als das vielfach rezipierte und einflussreiche Buch "Die Alten Wege" von Robert Macfarlane, dem im Nachwort gedankt wird. In der stil- und wortsicheren Übertragung von Thomas Mohr wird hier eine wichtige Stimme und Wegbereiterin des modernen britischen "Nature Writings" den deutschsprachigen Leserinnen und Lesern zugänglich gemacht.
Olivia Laing: "Zum Fluss. Eine Reise unter die Oberfläche"
Aus dem Englischen übersetzt von Thomas Mohr.
Btb Verlag, München. 384 Seiten, 20 Euro.