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Oper Frankfurt
"Manon Lescaut" als Flüchtlingsdrama

Die Opernheldin Manon Lescaut als illegale Einwanderin ohne Papiere - in dieser Neudeutung bringt Regisseur Àlex Ollé Giacomo Puccinis Oper in Frankfurt auf die Bühne. Die Aktualisierung überzeugt nicht immer, doch bieten die Sänger, besonders in den Hauptrollen, eine herausragende Vorstellung.

Von Kirsten Liese | 07.10.2019
    Joshua Guerrero (Chevalier Renato Des Grieux) und Asmik Grigorian (Manon Lescaut) in einer Szene der Oper Manon Lescaut.
    Ergreifender Gesang: Asmik Grigorian als Manon Lescaut und Joshua Guerrero als armer Student Des Grieux (Oper Frankfurt / Barbara Aumüller)
    Für einige Minuten verwandelt sich das Opernhaus in ein Kino. Der Film beginnt mit Bildern von Flüchtlingen, die einen Grenzzaun zu überwinden suchen. Dann folgen Szenen mit einer jungen Migrantin, der Titelheldin Manon, die nach erfolgreicher Flucht in einer Textilfabrik als Näherin Arbeit gefunden hat. Aus dem Off ist die Stimme ihrer besorgten Mutter zu hören. Dann setzt die Musik ein.
    Manon beim Tanz an der Stange
    Mit einer radikalen Neuinterpretation von Puccinis Oper "Manon Lescaut" erzählt der katalanische Regisseur Alex Ollé von einer nach Europa geflüchteten Einwanderin. Die Bühne von Alfons Flores zeigt im ersten Akt eine triste, graue Fast-Food-Kaschemme als Wartesaal. Daneben setzen sich haushohe Lettern zu dem englischen Wort Love zusammen.
    Asmik Grigorian (Manon Lescaut; in der vorderen linken Bildhälfte), Donato Di Stefano (Geronte de Ravoir; rechts von ihr in beigem Anzug) und Ensemble der Oper Frankfurt in einer Szene von Manon Lescaut, im Hintergrund der Bühne der rote Schriftzug "Love".
    Moderne Stangentänzerin statt luxusliebender Kurtisane: Manon Lescaut im Jahr 2019 (Oper Frankfurt / Barbara Aumüller)
    Regisseur Ollé hat die Menschenmassen der am stärksten sozial benachteiligten Länder im Visier, die auf ihrer Suche nach Würde und Freiheit Sandwüsten und gefährliche Meere überqueren. Schwarzafrikaner, die einen großen Teil dieser Menschen ausmachen, sind auf der Bühne nicht zu sehen, nur zwei Frauen mit Kopftuch als arabische Migrantinnen. Sie spielen im weiteren Verlauf aber keine Rolle mehr. Die Titelheldin sieht mit offenen langen Haaren dagegen weniger wie eine Einwanderin aus, die gefährliche Meere oder Wüsten überquert hat. Sie entspricht vor allem im zweiten Akt, den Ollé in einem Nachtclub ansiedelt, eher dem Erscheinungsbild einer osteuropäischen Prostituierten. Aufreizend mit Bustier, knappen Shorts und nacktem Bauch räkelt sich Manon, umgeben von anderen halbnackten Frauen, an einer Stange vor dem reichen älteren Mann, an den sie sich verkauft hat.
    Übergestülpte Aktualität
    So richtig passt das alles nicht zusammen. Der politisch ambitionierte Beitrag zu Flucht, Migration und sexueller Ausbeutung ist nur ansatzweise kompatibel mit Puccinis Musikdrama "Manon Lescaut". Verwundern tut das kaum. Das 1893 entstandene Stück kann die politische Aktualität, die Ollé ihm überstülpt, nicht hergeben, Völkerwanderungen, wie wir sie derzeit erleben, waren damals nicht im Gange. Die Heldin im Libretto, an dem mehrere Autoren mitschrieben, ist schlicht eine zwischen ihrer Liebe zu einem armen Studenten und ihrer Sucht nach Reichtum hin- und hergerissene Frau, die ihrer verhängnisvollen Luxusliebe wegen zur Diebin wird, in Gefangenschaft gerät und in der Verbannung stirbt.
    Menschen in Käfigen
    Die zweite Halbzeit nach der Pause wirkt in der Frankfurter Produktion deutlich stimmiger und zeitloser. Gefangenschaft, Verbannung und Tod- das kann letztlich zu jeder Zeit und überall spielen, auch wenn es etwas irritiert, wenn in Ollés Geschichte Flüchtlinge getreu dem Libretto nach Amerika abgeschoben werden. Mit eingepferchten Menschen in riesigen Käfigen aus Maschendraht und einer patrouillierenden Wächterin mit Schäferhund, gelingt es dem Regisseur immerhin eine bedrückende, mit der melancholischen Musik korrespondierende Atmosphäre herzustellen.
    Herausragende Sänger
    Der abstrakt-leere Raum des letzten Bildes, in dem es nichts mehr gibt außer dem Wort Love, bietet die geeignete Bühne für herausragende sängerdarstellerische Leistungen. Ungemein ergreifend kämpft die litauische Sopranistin Asmik Grigorian in der Titelpartie um ihr Leben, sucht die Kraft dafür in der Liebe, klammert sich an den ihr freiwillig gefolgten Geliebten und bäumt sich auf gegen den Tod. Schlank und strahlklar führt sie dabei ihren großen lyrisch-dramatischen Sopran durch alle Register.
    Ergreifendes Schluss-Duett
    In ihrer berührenden Sterbeszene kann Grigorian, die 2018 ihren Durchbruch als Salome in Salzburg feierte, ihrem Verständnis von Manon als großer Liebender auch ihrer eigenen Einschätzung nach besonders starken Ausdruck geben.
    Bei der Darstellung dieser Figur habe sie sich nicht vorgestellt, ein Flüchtling zu sein, sagt Asmik Grigorian, weil die Erlebniswelt einer Geflüchteten ihr nicht vertraut sei, sie sich nicht vorstellen könne, wie es wäre, sich in einer solchen Situation zu befinden und nicht weiß, wie sie eine Geflüchtete spielen solle. Ihr gehe es nur um die menschliche Seite von Manon. Die Liebesgeschichte zwischen Manon und Des Grieux ist für sie in dieser Produktion deshalb besonders wichtig.
    Melancholisch und wunderbar gefühlvoll
    Der Amerikaner Joshua Guerrero steht Grigorian als armer Student Des Grieux in nichts nach, verzehrt sich mit Haut und Haaren als ein Geliebter, der darüber verzweifelt, seine Manon nicht retten zu können. Sein Tenor verfügt über alles, was die anspruchsvolle Partie erfordert: Strahlkraft, Geschmeidigkeit und ein herrliches Belcanto. Auch alle übrigen Partien, darunter insbesondere der ukrainische Bariton Iurii Samoilov als Manons Bruder Lescaut und der Tenor Michael Porter als Student Edmondo, sind trefflich besetzt.
    Im Graben stellte Lorenzo Viotti mit dem Frankfurter Opernhaus- und Museumsorchester in Abstimmung mit der Inszenierung überwiegend die kühleren Farben der Partitur aus und ließ die Musik im Dramatischen groß aufschäumen. Aber auch die Schwerblütigkeit und Melancholie in Puccinis Musik, wie sie sich besonders in den Cello- und Oboensoli der beiden letzten Akte vermittelt, kamen, wunderbar gefühlvoll vorgetragen, zu ihrem Recht. Der größte Premierenbeifall ging jedoch verdient an das neue Sänger-Traumpaar Grigorian und Guerrero.