Heinlein: Herr Weisskirchen, das Abschlachten einer Nation, so nennt der tschechische Staatspräsident Vaclav Havel diesen Krieg. Teilen Sie diese Auffassung?
Weisskirchen: Zwei führende Oppositionspolitiker, die wir vor einigen wenigen Wochen in Moskau gesprochen haben, haben ähnliche Begriffe benutzt. Vom Schlachthof war die Rede und von Verbrechen, die dort organisiert würden. Das teilt also selbst ein Teil der russischen Elite. Allerdings trauen sie sich gegenwärtig nicht, das öffentlich zu sagen.
Heinlein: Und Sie schließen sich dieser Meinung an?
Weisskirchen: Ich glaube, dass das zutrifft, mindestens wenn man doch Glaubwürdigkeit in die setzt, die dort vor Ort recherchieren.
Heinlein: Glauben Sie, dass das ganze Ausmaß der Menschenrechtsverletzungen bereits bekannt ist?
Weisskirchen: Ich glaube, dass wir erst am Anfang der Aufklärung sind. Als wir dort in Moskau waren hat uns Memorial gesagt, dass das ein vergleichbares Abschlachten wäre wie im ersten Tschetschenien-Krieg. Das war schon schlimm genug. Allerdings fürchten sie nach ihren Zahlen, dass dies noch etwas schlimmer wäre. Möglicherweise sagen die Soldatenmütter wären bereits 3.500 russische Soldaten getötet worden und mindestens etwa die Hälfte jener Zahl noch einmal dazu auf der tschetschenischen Seite, nicht gerechnet diejenigen, die in Internierungslagern beziehungsweise Filtrationslagern, wie sie heißen, gegenwärtig festgehalten sind.
Heinlein: Wer sind denn nun nach Ihren Informationen, Herr Weisskirchen, die Täter? Sind es marodierende Teile der russischen Armee oder handeln die Soldaten auf Befehle aus Moskau?
Weisskirchen: Ich kann mir nicht vorstellen, dass Moskau solche Befehle ausgibt. Allerdings muss man fürchten, dass vor Ort marodierende Soldaten am Werk sind. Wenn man es richtig liest - zumindest hat die "Süddeutsche Zeitung" das gestern berichtet -, dann werden wohl auch Gefangene in Russland freigegeben, um in Tschetschenien agieren zu können, jedenfalls solche, die selbst Tschetschenen sind. Man kann sich vorstellen, was dann möglicherweise dort los sein kann.
Heinlein: Sie haben russische Menschenrechtsgruppen genannt. Sind dies die Quellen, aus denen Ihre Informationen über diesen Tschetschenien-Krieg stammen?
Weisskirchen: In erster Linie ja. Sie sind glaubwürdig. Sie haben in den letzten Jahren bewiesen, dass sie sehr seriös mit Daten umgehen können, mit Informationen, auch mit Informationsquellen, was Personen anbetrifft. Ich bin ziemlich sicher, dass deren Berichte zutreffen.
Heinlein: Warum weigert sich denn Moskau, unabhängige Beobachter in die Region zu lassen?
Weisskirchen: Offensichtlich um den Schleier zugezogen zu halten, der vor diesem furchtbaren Geschehen jetzt noch jedenfalls dicht ist.
Heinlein: Vaclav Havel, ich habe ihn schon zitiert, fordert nun eine deutliche Reaktion des Westens gegenüber Russland. Wie sollte denn diese Reaktion aussehen? Welche Möglichkeiten hat der Westen, um auf den Kreml einzuwirken?
Weisskirchen: Das sind natürlich begrenzte Mittel, denn wir können und wollen nicht wie in der Bundesrepublik Jugoslawien die schlimmsten und gefährlichsten Instrumente in die Hand nehmen. Darauf hat sich die internationale Staatenwelt verständigt. Allerdings glaube ich, man darf jedenfalls nicht mehr kritiklos hinnehmen, was dort in Tschetschenien geschieht. Es gibt einige Instrumente, die man prüfen kann. Nun wird gegenwärtig in Frankreich öffentlich etwas heftiger debattiert als bei uns in der Bundesrepublik Deutschland. Wenn Sie den "lo monde" verfolgen, dann werden Sie sehen, dass EU-Sanktionen gegen Russland als möglich gehalten werden, was Importreduzierung der Stahlproduktion betrifft. Nun sind das nur geringfügige Instrumente, Tazitus-Programm. Da ist die Rede davon, dass wir sie einfrieren. Sie wissen, dass die Raten vom internationalen Währungsfonds nicht mehr so fließen, wie das Russland gerne wünscht. Es gibt also einige Überlegungen. Sie sind aber noch nicht in gemeinsame Instrumentenüberlegungen eingebettet worden.
Heinlein: Wäre denn dieses Instrument der Wirtschaftssanktionen gegenüber Russland innerhalb der Europäischen Union konsensfähig beziehungsweise innerhalb der Bundesregierung zunächst einmal durchsetzfähig?
Weisskirchen: Wir haben ja das Problem, dass wir, die Bundesrepublik Deutschland selbst, einer oder der größte Gläubiger Russlands sind. Wir würden also, wenn wir solche Instrumente einsetzen, natürlich zu prüfen haben, ob diese Instrumente nicht uns selbst abschrecken und weniger die russische Elite. Das ist das Problem.
Heinlein: Verteidigungsminister Rudolf Scharping, ich sagte es, ist heute zu Gesprächen in Moskau. Was kann er denn bei Wladimir Putin erreichen in Sachen Tschetschenien-Krieg?
Weisskirchen: Ich kann nur hoffen, dass unser Verteidigungsminister deutlich macht, dass die westliche Staatengemeinschaft nicht länger bereit ist, vor dem, was in Tschetschenien geschieht, wegzuschauen, sondern wie bisher, allerdings auch eher in internen Gesprächen, aber nunmehr auch öffentlich deutlicher zu machen, dass wir nicht bereit sind, diese Kriegsführung länger zu akzeptieren und dass wir uns überlegen, solche Instrumente einzusetzen, die über Symbolkraft hinaus doch Wirksamkeit erzielen möchten, zum Beispiel die Frage zu stellen, ob nicht doch unsere Delegierten in der parlamentarischen Versammlung des Europarats überlegen sollten, die Stimmrechte der russischen Delegation partiell jedenfalls und zeitlich auszusetzen. Dies ist in der Staats-Duma heftig umstritten und wäre doch vielleicht eine Möglichkeit, ein Instrument einzusetzen, das zwar noch nicht ökonomisch richtig weh tut, aber welches deutlich macht, dass wir dieses Verhalten nicht mehr akzeptieren können.
Heinlein: Herr Weisskirchen, weil es aber keine europäische Beschlusslage in dieser Sache gibt, muss es Verteidigungsminister Scharping heute in Moskau zunächst einmal bei diesen Appellen, bei diesen verbalen Äußerungen belassen?
Weisskirchen: Leider ist das so, weil die europäische Staatengemeinschaft nach ihrer Sitzung in Helsinki gesagt hat, wir geben Putin eine Chance. Er hat diese Chance, den Krieg in ein ziviles Verhalten umzuändern, nicht genutzt. Weil er es nicht genutzt hat denke ich, sollte jetzt auch Europa deutlicher sagen, dass man es so nicht mehr hinnehmen kann.
Heinlein: Gert Weisskirchen war das, der außenpolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion. - Ich danke Ihnen für dieses Gespräch und auf Wiederhören!
Link: Die russische Armee und die "Soldatenmütter"