Freitag, 19. April 2024

Archiv

Option Minderheitsregierung
"Man muss auch das Unmögliche durchdenken"

Fast alle dänischen Regierungen der Nachkriegszeit hatten keine eigene Mehrheit. Die Minderheitsregierungen funktionierten dort gut, sagte der dänische Europapolitiker Jens Rohde im Dlf. In Deutschland habe er dagegen gespürt, dass viele Menschen unzufrieden seien, dass es zwischen den Wahlen kaum politische Debatten gebe.

Jens Rohde im Gespräch mit Stefan Heinlein | 22.11.2017
    Der dänische Europaabgeordnete Jens Rohde
    Der dänische Europaabgeordnete Jens Rohde (picture alliance/ dpa/ Belga)
    Die "Sehnsucht nach überstabilen politischen Verhältnissen" in Deutschland habe historische Ursachen, sagte Rohde. Die Demokratie lebe aber von der politischen Auseinandersetzung. Eine Minderheitsregierung müsse für jedes Gesetz neu die Unterstützung der Parteien im Parlament suchen. Insbesondere für die Bundeskanzlerin sei das ein gut vorstellbares Modell, so Rohde: "Merkel könnte durch ihren Pragmatismus sehr gut von einer Minderheitsregierung profitieren."
    Die Minderheitsregierungen hätten in Dänemark nie zu instabilen Verhältnissen geführt, sagte Rohde. Er räumte jedoch ein, dass das politische System dort ein anderes sei als in Deutschland, weshalb die Erfahrungen nicht ohne Weiteres übertragbar seien.

    Das Interview mit Jens Rohde in voller Länge.
    Stefan Heinlein: Jamaika bleibt vorerst weiter in der Karibik und nicht an der Spree. Die Schulz-SPD will vorerst keine GroKo-Neuauflage. Was bleibt sind Neuwahlen oder eine Minderheitsregierung – eine Option allerdings, mit der man in Deutschland bislang kaum Erfahrungen hat. Eine stabile Mehrheit gilt hierzulande immer noch als Voraussetzung für eine erfolgreiche politische Arbeit.
    Im Ausland dagegen hat man oft keine Scheu, ohne ausreichende parlamentarische Mehrheit zu regieren. Vor allem in Skandinavien gehören Minderheitsregierungen seit vielen Jahren zur Tagesordnung, allen voran Dänemark, unser Nachbarland im Norden. Seit 1945 hatten fast alle Regierungen in Kopenhagen keine eigene Parlamentsmehrheit. 28 von 32 Regierungen der Nachkriegszeit waren auf die Unterstützung der Opposition angewiesen.
    Am Telefon in Jütland begrüße ich jetzt Jens Rohde. Er ist dänischer Europaabgeordneter der liberalen Fraktion. Guten Morgen, Herr Rohde.
    Jens Rohde: Guten Morgen, Herr Heinlein.
    "Merkel könnte gut von Minderheitsregierungen profitieren"
    Heinlein: Herr Rohde, wie funktioniert das mit der Minderheitsregierung?
    Rohde: Das funktioniert eigentlich ganz gut, würde ich sagen. Und in komplizierten politischen Situationen, da muss man ja auch mal das Unmögliche durchdenken. Die Sehnsucht nach überstabilen politischen Verhältnissen mag ja in Deutschland historische Ursachen haben, aber ich war in Deutschland während dem letzten Wahlkampf und da habe ich als Journalist für Radio24syv gearbeitet und für mich war ganz klar, dass viele Menschen damit unzufrieden waren, dass es zwischen den Wahlen kaum eine politische Debatte in Deutschland gibt. Und so was führt auch zum Wahlergebnis der AfD. Dabei lebt die Demokratie doch von den politischen Auseinandersetzungen und das kann sehr gut funktionieren, wenn man das will. Ich bin auch der Meinung, dass besonders die Frau Merkel durch ihren Pragmatismus sehr gut von Minderheitsregierungen profitieren könnte.
    Heinlein: Ist das gesund für eine Demokratie aus dänischer Sicht, dass die Parteien, alle Parteien im Parlament das Gefühl haben, sie können mitregieren, sie können mitsprechen bei den Entscheidungen?
    Rohde: Ja. Das führt ja dazu, dass mehrere Menschen sich im Laufe eines Mandats gehört fühlen und sich in den Gesetzen dann besser sehen können, und dabei wird die Demokratie ja gestärkt.
    "Wir möchten die Minderheiten gerne schützen"
    Heinlein: Ich sagte es eingangs, Herr Rohde. 28 von 32 Regierungen der Nachkriegszeit in Dänemark hatten keine eigene Mehrheit. Wie kommt so etwas zustande? Will man überhaupt keine Mehrheitsregierungen in Kopenhagen, oder ist das eher Zufall, dass das dann so gekommen ist?
    rohde: Das kommt vielleicht dadurch, dass unsere Sperrprozente nur auf zwei liegen. In Deutschland sind es ja fünf. Das bedeutet, dass es im Parlament sehr viele kleine Parteien gibt. Das ist auch, weil wir die Minderheiten gerne schützen möchten. Demokratie geht ja nicht nur, um die Mehrheit zu regieren; das geht ja auch, um die Minderheiten zu schützen. Das gelingt ganz gut, wenn man viele kleine Parteien hat - dann muss das einfach so sein – und wenn man dann eine Minderheitsregierung hat.
    Heinlein: Herr Rohde, helfen Sie uns noch einmal weiter. Wie funktioniert das in der Praxis? Die Regierung in Kopenhagen will ein Gesetz verabschieden. Sie hat aber keine eigene Mehrheit im Parlament. Geht man dann durch die Fraktionen und sucht dort Unterstützung?
    Rohde: Ja. Ganz einfach! Das ist ja das Handwerk der Politik in Dänemark, dass man immer die verschiedenen Haltungen bekommen muss, und das funktioniert recht gut in Dänemark. Für uns hat das nie zu unstabilen Verhältnissen geführt, dass wir Minderheitsregierungen haben.
    "Minderheitsregierung muss nicht unbedingt zu unstabilen Verhältnissen führen"
    Heinlein: Braucht es dafür eine bestimmte politische Kultur, dass eine solche Minderheitsregierung dauerhaft funktioniert, also ein Mindestmaß an demokratischem Miteinander, an demokratischem Konsens?
    Rohde: Das kann man schlecht sagen. Ich muss natürlich auch zugeben, die deutschen Voraussetzungen sind auch anders und mal historisch. Es gibt bei Ihnen ja auch ein Zwei-Kammer-System. Das haben wir in Dänemark nicht. Es gibt nur das Parlament und dann eine Regierung. Das kann die Sache vielleicht komplizierter machen. Aber eine Minderheitsregierung braucht nicht unbedingt zu unstabilen Verhältnissen zu führen. Das kommt immer auf den Pragmatismus und den Willen zum politischen Handwerk der Regierung an.
    Heinlein: Wird eine Politik, Herr Rohde, dadurch nicht schwerfälliger, wenn eine Regierung dann immer durch die Reihen gehen muss und jeden fragen muss, unterstützt Du mich oder nicht? Dauert es nicht einfach länger, bis man dann zu Entscheidungen kommt?
    rohde: Doch, aber das ist ja Demokratie. Man kann nicht immer Politik aus einer Effizienz anschauen. Wie gesagt, die Demokratie wird gestärkt, und viel mehr Leute sehen sich besser in der Politik vertreten, wenn man auch auf die Rücksicht nehmen muss und nicht nur durch zwei Parteien regiert. Ich habe das gemerkt in Deutschland, dass viele Leute sehr unzufrieden waren, dass es überhaupt keine Debatte in Deutschland gibt. Außerdem war das ja auch für mich so ein bisschen komisch. Man hat den Schulz gesehen. Die SPD war ein Teil dieser Koalition und der Schulz hat dauernd in seinem Wahlkampf auf diese Regierung gehackt. Und ich denke, für viele Menschen hat das keinen Sinn. Das sieht komisch aus irgendwie.
    Geplatzte Sondierungen? - "Das hat mich nicht überrascht"
    Heinlein: Herr Rohde, Sie sind Europaabgeordneter der liberalen Fraktion. Sie kennen Christian Lindner aus Brüssel und auch andere deutsche FDP-Politiker. Sie haben mir im Vorgespräch einiges erzählt. Hat Sie überrascht, dass die FDP die Jamaika-Sondierungen hat platzen lassen?
    Rohde: Das ist schwierig zu sagen. Nach dem Wahlkampf hat es mich nicht überrascht. Ich kenne eigentlich Christian Lindner als sehr, sehr guten und sehr pragmatischen Politiker. Aber im Wahlkampf sind ja viele auf die Bäume geklettert und das ist ja dann ein bisschen schwierig, wieder runterzukommen, ohne dann die Erwartungen eigener Wähler zu enttäuschen.
    Heinlein: Glauben Sie, dass Ihre liberalen Parteifreunde in Berlin ernsthaft verhandelt haben, oder wollte man Jamaika von vornherein an die Wand fahren?
    Rohde: Das kann ich nicht so aus Dänemark beurteilen. Aber ich denke schon, dass die ernsthaft verhandelt haben, und es ist dann nicht gelungen. In komplizierten politischen Situationen, da muss man dann auch mal das Unmögliche durchdenken.
    Heinlein: Im Deutschlandfunk heute Morgen Jens Rohde. Er ist dänischer Europaabgeordneter der Liberalen. Herr Rohde, ganz herzlichen Dank für das Gespräch und auf Wiederhören. Und gute Besserung für Ihre Erkältung!
    Rohde: Gerne. – Danke!
    //Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen