Freitag, 19. April 2024

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"Organic Creatures" von Catalina Vicens
Die ältesten Orgeln der Welt

Die Organistin und Cembalistin Catalina Vicens liebt es, zu improvisieren. Auf ihrer neuen CD "Organic creatures" präsentiert sie ein Gesamtkunstwerk auf sieben historischen Orgeln, darunter einige der ältesten überhaupt noch spielbaren Instrumente. 

Am Mikrofon: Klaus Gehrke | 06.09.2020
    Eine Frau mit braunen Haaren im schwarzen Kleid sitzt vor einer kleinen historischen Orgel.
    Catalina Vicens interpretiert die auf der Doppel-CD eingespielten Werke des 12. bis 16. Jahrhunderts auf sieben verschiedenen Instrumenten. (Kurt van der Elst | kvde.be)
    Die Organistin und Cembalistin Catalina Vicens gehört zu den interessantesten Musikerinnen im Bereich der Alten Musik: Ihr Repertoire beinhaltet nicht nur Werke aus der Zeit des Barock, sondern erstreckt sich bis ins späte Mittelalter. Gleichzeitig spielt sie auch zeitgenössische Musik und liebt es, zu improvisieren. Auf ihrer neuen CD "Organic creatures" bündelt Catalina Vicens diese unterschiedlichen Vorlieben zu einem bemerkenswerten Gesamtkunstwerk, das die oft so bezeichnete "Königin der Instrumente", die Orgel, von einer ganz anderen Seite zeigt.
    Musik: Anonym – Audi, pontus
    Sie quietscht, ächzt, stöhnt, brummt oder flötet: Majestätisch opulente Klangpracht mit großem Plenum und schillernden Mixturen ist dieser Königin, oder genauer, diesen Königinnen weitgehend fremd. Denn Catalina Vicens interpretiert die auf der Doppel-CD eingespielten Werke des 12. bis 16. Jahrhunderts auf sieben verschiedenen Instrumenten. Dazu gehören zwei der ältesten bespielbaren Orgeln der Welt wie beispielsweise die in der St. Andreas-Kirche im westfälischen Ostönnen zwischen Werl und Soest. Über die Hälfte ihrer 576 Pfeifen stammen noch aus der Erbauungszeit des Instruments um 1430. Damit vermittelt sie wie auch die 100 Jahre jüngere Orgel im niederländischen Kreverd durchaus schon den strahlenden Klang, der ihr den "Königin"-Beinamen eintrug. Auf ihr hat Catalina Vicens die Variationen über das Lied "Frau, all mein Hoffen" von Adam Ileborgh eingespielt. Zwar sind von dem in Stendal lebenden Franziskanermönch weder Geburts- noch Sterbedatum bekannt. Dafür veröffentlichte er 1448 eine Orgeltabulatur, die früheste ihrer Art. Die darin enthaltenen Variationen zeigen in eindrucksvoller Weise, wie die Liedmelodie mit immer kleiner werdenden Notenwerten und kunstvollen Auszierungen immer weiter ausgeschmückt wird.
    Musik: Adam Ileborgh – Frau, all mein Hoffen
    Im Vergleich zur Ostönner Orgel sind die anderen Instrumente, auf denen Catalina Vicens spielt, deutlich kleiner. Damit spiegelt die Interpretin gleichzeitig auch deren Entwicklung eindrucksvoll wider. Bevor die Orgel in der Kirche ab dem 15. Jahrhundert weithin sichtbar ihren Platz auf einer Empore einnahm, stand sie unweit des liturgischen Zentrums in der Nähe des Chores. Über das Aussehen dieser Instrumente geben verschiedene Altarbilder der damaligen Zeit Auskunft. Ein solches nahm der niederländische Instrumentenbauer Winold van der Putten zum Vorbild für den Nachbau einer spätgotischen Orgel im niedersächsischen Stapelmoor. Dort errichtete er 2017 die so genannte Van-Eyck-Orgel nach einem Instrument, das in dem 1426 gemalten Genter Altarbild von Jan van Eyck zu sehen ist. Dort wird es von Engeln bedient. Um den realen Nachbau zu spielen, benötigt Catalina Vicens einen leibhaftigen Kalkanten, der den Blasebalg pumpt und damit hin und wieder auch zu hören ist.
    Musik: Guilliaume de Machaut – Honte, paour, doubtance
    Komponisten von Spätgotik bis Frührenaissance
    Winold van der Putten, auf dessen Van-Eyck-Orgel Catalina Vicens ein Stück von Guilliaume de Machaut spielte, hat sich auf den Nachbau mittelalterlicher Orgeln spezialisiert. Von ihm stammen drei der Instrumente, die auf der CD zu hören sind, unter anderem auch ein so genanntes Organetto, was übersetzt soviel wie "Örgelchen" bedeutet. Solche Kleinstorgeln bestanden meist nur aus einem Register mit wenigen Pfeifen sowie einer zuschaltbaren Bordunquarte oder -quinte. Sie waren seit dem Spätmittelalter weit verbreitet und ließen sich bequem von einem Spieler tragen. Wenn der musizierte, hielt er das Instrument seitlich auf seinem Schoß. Mit der rechten Hand wurden Melodien und wenige Begleittöne gespielt, während die linke den Blasebalg betätigte. Sie war jedoch nicht nur für die Luftzufuhr zuständig, sondern konnte damit auch zur Artikulation des Stückes beitragen. Möglicherweise ist Hildegard von Bingens um die Mitte des 12. Jahrhunderts entstandener Hymnus "Quia ergo femina" auf die Jungfrau Maria von den damaligen Interpreten so emphatisch gespielt worden wie hier von Catalina Vicens auf einem Organettonachbau der bayrischen Orgelbaufirma Keppler.
    Musik: Hildegard von Bingen – Quia ergo femina
    Sowohl Hildegard von Bingens Hymnus, das älteste Stück auf der CD, wie auch die anderen Werke der Komponisten von der Spätgotik bis zur Frührenaissance, etwa von Francesco Landini, John Dunstaple oder Heinrich Isaac interpretiert Catalina Vicens mit großer Sensibilität. Vor allem ihr kunstfertiges Spiel mit der Luftzufuhr zu den Orgeln verleiht den Jahrhunderte alten Kompositionen eine bemerkenswerte Lebendigkeit. Dazu trägt ebenso die raffiniert ausgeklügelte Artikulation der Organistin bei. Catalina Vicens, die unter anderem am Curtis Institute of Music und an der Freiburger Musikhochschule studierte, spezialisierte sich schon früh auf historische Tasteninstrumente. Einer ihrer Repertoireschwerpunkte liegt auf der Orgelmusik ab dem Mittelalter. In diesem Bereich hat sie bisher mit mehreren Orgelbaufirmen an Rekonstuktionsprojekten mitgewirkt. Darüber hinaus gibt Catalina Vicens Kurse zur Interpretation alter Musik und ist Mitbegründerin und künstlerische Leiterin des Festivals "Internationale Tage der Portativ-Orgel" im bayrischen Reimlingen. Jankees Braaksma und Christophe Deslignes, zwei ebenfalls international anerkannte Experten im Bereich der spätmittelalterlichen Orgelmusik und Gastdozenten beim Festival, wirken auch bei einigen Stücken der vorliegenden Produktion mit, etwa bei dem Stück "Procurans odium" eines unbekannten Komponisten des 13. Jahrhunderts. Dessen Ausführung auf drei Organetti ist in Bezug auf kanonische Stimmführung und Tutti-Solo-Effekte überaus reizvoll.
    Musik: Anonym – Procurans odium
    Zwei CDs mit Alter Musik und Improvisationen
    Während Catalina Vicens auf der ersten CD von "Organic creatures" fast ausschließlich Werke vom 12. bis 16. Jahrhundert eingespielt hat, gestaltet sie die zweite CD mit einem spannungsvollen Wechsel aus spätmittelalterlichen und zeitgenössischen Kompositionen sowie eigenen Improvisationen. Sowohl diese als auch die Werke von Ivan Moody, Olli Virtaperko oder Carson Cooman greifen sowohl die Möglichkeiten des Organetto als auch die historischen Melodiemodelle auf. Cooman, 1982 in den USA geboren und dort vor allem als Organist bekannt, komponierte 2014 seine drei "Nova Cantiga" für für Orgelportativ. Sein für die CD ausgewähltes Rondeau orientiert sich stark an den mittelalterlichen Gesängen.
    Musik: Carson Cooman – Rondeau
    Das war Catalina Vicens auf dem Organetto mit dem Stück "Rondeau" von Carson Cooman. Das Spiel der Organistin ist selten geräuschlos: Man hört, wie sie den Blasebalg oder auch die Tasten ihres Instruments traktiert. Doch das gehört ebenso zur Philosophie der CD wie auch diverse andere Nebengeräusche wie beispielsweise die beständigen Rufe eines Wanderfalken. Catalina Vicens Interpretation der Musik entwickelt sich organisch aus dieser heraus, sie scheint die Atmosphäre des Raumes ebenso in ihr Spiel mit einzubeziehen wie auch die äußeren Umstände. Zudem wirken der geräuschhafte Umgang mit den Instrumenten sowie die durch bewusst schwaches Anblasen unsauber und gebrochen klingenden Töne ungemein lebendig und geben der Aufnahme einen Hauch von Livemitschnitt. Einziger Wermutstropfen dieser äußerst gelungenen Produktion ist das Booklet der CD. Offensichtlich hatte man bei der Produktion die entsprechende Klientel im Kopf. Wer als nur interessierte Person etwas über das Konzept, die Komponisten, die Instrumente oder die Interpretin und ihre Mitstreiter wissen will, erfährt aus der zehnseitigen Textbeilage mit mehreren Bildern so gut wie nichts. Der musikalischen Qualität dieser spannenden und durchaus ungewöhnlichen Einspielung tut das jedoch keinen Abbruch.
    Musik: Catalina Vicens – Nothingless
    Das war ein Ausschnitt aus der Improvisation "Nothingless" von und mit Catalina Vicens. Sie spielte an einer so genannten "Taubenei"-Orgel des Niederländers Winold van der Putten – wobei der Name des nachgebauten Instruments von den Mensuren der Pfeifen abgeleitet ist. In diesem Falle haben alle den Durchmesser von 27 oder 35 Millimeter – was in etwa dem eines Taubeneis entspricht. Die Doppel-CD "Organic creatures" der Organistin Catalina Vicens ist beim belgischen Label "Consouling Sounds" erschienen.