Peter B. Schumann: Frau Professor Ollier, Sie haben sich immer wieder mit dem Peronismus auseinandergesetzt, deshalb hoffe ich sehr, dass Sie unseren Hörerinnen und Hörern dieses manchmal schwer verständliche "argentinische Phänomen" näher bringen können. Aber zunächst müssen wir doch etwas weiter zurückgreifen und noch einmal auf den Ursprung dieses heutigen Argentiniens blicken. Vor 200 Jahren begann der Kampf um die Unabhängigkeit von Spanien. Das entscheidende Datum ist der 25. Mai 1810, die Rebellion der Stadt-Regierung von Buenos Aires. Was ist für Sie das wichtigste Ergebnis dieser sogenannten Mai Revolution?
María Matilde Ollier: Ihr stärkstes Erbe ist die Freiheit, die sie bewusst gemacht hat und die – wie soll ich sagen – verstümmelt wurde im Verlauf der letzten 200 Jahre. Die Frage der Freiheit und die Möglichkeit, eine Nation, ein Volk zu formen. Denn es waren ja nur Städte, vor allem Buenos Aires, die sich erhoben haben. Die Revolution hatte zunächst keine territoriale Ausdehnung, war noch nicht politisch organisiert. Danach begannen überhaupt erst die Streitigkeiten zwischen der Hafenstadt Buenos Aires und der Konföderation, den argentinischen Provinzen.
Schumann: Lassen Sie uns noch einen Moment bei dieser frühen Phase der Staatsbildung im 19. Jahrhundert bleiben, denn ich glaube, daran lässt sich auch heutige Politik festmachen. Bei den Feierlichkeiten zum Bicentenario hat ein Mitglied des Obersten Gerichtshofs gesagt: "Die Republik ist in Gefahr, unterzugehen." Wieso kann er das behaupten?
Ollier: Der große Streit drehte sich stets um die Vorherrschaft der Provinz Buenos Aires, zu der auch die Stadt gehört, d.h. um ihre Beziehung zum übrigen Land. Buenos Aires besaß den Hafen, kontrollierte den Handel, den Schiffsverkehr und den Zoll. Die Stadt besaß ein großes Gewicht und hat das teilweise mit Gewalt gegenüber den Provinzen behauptet. Dieser Zentralismus von Buenos Aires wurde sogar während der Herrschaft der Föderalisten gestärkt. Ihrem Anführer, Juan Manuel de Rosas, gelang es durch politische Manöver, eine Zeit lang die Vorherrschaft von Buenos Aires im Namen der Föderation, der vereinigten Provinzen, durchzusetzen und einen besonders schrecklichen Zentralismus zu errichten.
Schumann: Rosas herrschte wie ein Diktator über das ganze Land, obwohl er nur Gouverneur von Buenos Aires war, und wurde 1852 gestürzt. Doch die blutigen Kriege um die Hegemonie gingen noch bis 1880 weiter. Wie wurde der Konflikt gelöst?
Ollier: Im Jahr 1880 siegten die Provinzen unter General Roca. Er wurde Präsident und begann, ein Staatsgefüge aufzubauen. Aber der latente Konflikt zwischen Zentralisten und Föderalisten blieb Teil unserer politischen Kultur. Roca gelang die Vereinigung. Bei diesem Prozess wurde die Provinz Buenos Aires dadurch abgestraft, dass die Stadt selbst föderalisiert wurde: Sie wurde zur Hauptstadt der Nation. Die Provinz verlor sozusagen ihren Kopf.
Schumann: Dieser Konflikt hat sich in den letzten Jahrzehnten durch Menem und Kirchner wieder zugespitzt, allerdings auf andere, man könnte sagen: neoliberale Art. Beide verlagerten kostenintensive Aufgaben der Zentralregierung auf die Provinzen. Eine heutige Form der Intervention. Ab wann kann man denn überhaupt von Demokratie in Argentinien sprechen?
Ollier: Ab 1916. Aber die Zwischenzeit von 1880 bis 1916 wurde politisch geprägt von einem Vorkämpfer der Demokratie: dem Radikalismus mit Hipólito Yrigoyen an der Spitze.
Schumann: Ihre Basis, die Unión Cívica Radical, ist aber keine politisch radikale Partei, sondern lediglich eine Abspaltung der Unión Civica, einer Partei der bürgerlichen Mitte.
Ollier: Sie forderte die herrschende Oligarchie heraus und kämpfte nahezu 30 Jahre um die Bürgerrechte. 1912 befürworteten endlich auch die regierenden Konservativen ein allgemeines, geheimes, obligatorisches Wahlrecht für die männliche Bevölkerung, weil sie zu gewinnen hofften. Aber es siegte die Radikale Partei. Yrigoyen gelang es nämlich, viele konservative Provinzen auf seine Seite zu ziehen und mit ihnen eine Koalition einzugehen. So gewann er die Wahlen. Mit seinem Sieg 1916 und der Regierungsübernahme der Radikalen Partei beginnt die Demokratie.
Schumann: Ist also diese Radikale Bürgerunion dafür verantwortlich, dass sich die Demokratie in Argentinien schon früh durchgesetzt hat?
Ollier: Ja, aber mit republikanischen Fehlern. Sie hat von Anfang an eine sehr populistische Politik gemacht. Immer war der Wille des politischen Führers entscheidender als die etablierten Regeln. Die Radikalen haben beispielsweise sehr viele militärische Interventionen in den Provinzen unternommen – genauso wie früher die Konservativen. Yrigoyen hat es auf 19 solcher Interventionen gebracht. Wenn ein Gouverneur kein Verbündeter der Zentralregierung sein wollte, dann wurden Armee und Polizei hingeschickt, um ihn zu stürzen, einen genehmen Gouverneur zu inthronisieren und so den Sieg bei den nächsten Wahlen zu garantieren. Außerdem sicherte er sich die Zustimmung vieler Senatoren im Nationalparlament, die mit ihm befreundet waren. Diese Taktik war während der Regierung der Radikalen Partei sehr verbreitet. Dadurch sank natürlich das Ansehen der Legislative.
Schumann: Das kommt mir doch alles sehr bekannt vor, nur finden heute keine militärischen Interventionen mehr statt.
Ollier: Das ist eine bis heute fortdauernde traditionelle Taktik. Aber heute gibt der Präsident tatsächlich am 1. März eine Regierungserklärung vor beiden Kammern des Parlaments ab, wenn die neue Sitzungsperiode beginnt. Hipólito Yrigoyen, ein wahrer Caudillo der Radikalen Partei, hielt das nie für nötig. Er missachtete die Bedeutung des Parlaments. Unsere Demokratie wurde mit schweren demokratischen Fehlern geboren.
Schumann: Trotzdem entstand die Demokratie in Argentinien – wie auch in anderen Ländern Lateinamerikas – früher als beispielsweise in Deutschland. Aber sie blieb zunächst weitgehend auf diese Anfangsphase beschränkt und wurde erst Jahrzehnte später ab 1983 zu einer dauerhaften Staatsform.
Ollier: Ja. Was Argentinien charakterisiert – und genauso Bolivien, Peru, Paraguay mit ihren langen Diktaturen, weniger Chile und Uruguay – das ist der hohe Grad in politischer Instabilität. In Argentinien wurde 1930 die Radikale Partei von den Streitkräften aus der Regierung getrieben. Und wirklich saubere Wahlen gab es erst wieder 1946, als der Peronismus an die Macht kam und damit eine neue Volksbewegung mit noch populistischeren Zügen als der Radikalismus von Yrigoyen. Auch reformierte Perón 1949 die Verfassung, um wiedergewählt zu werden.
Schumann: Dabei wurde das Wahlrecht für Frauen eingeführt. Gab es dafür neben der Notwendigkeit auch einen taktischen Grund?
Ollier: Es gab in der Bevölkerung einen großen Anteil von Frauen, die bereit waren, Perón zu wählen. Deshalb wurde sogar eine peronistische Frauenpartei gegründet. Eva Perón hat sie mit eiserner Hand organisiert. Es war geradezu eine Armee von Frauen, die die Stimmen für Perón besorgen sollten. Dadurch erhielt er dann 1952 auch mehr Stimmen als bei seiner ersten Wahl 1946. Es war erstaunlich, mit welcher Disziplin diese Frauen in ganz Argentinien vorgingen. Aber auch Perón wurde 1955 durch einen Staatsstreich der Konservativen gestürzt, und die politische Instabilität ging weiter bis 1973, als der Peronismus wieder an die Regierung kam. 1976 erfolgte der blutige Militärputsch. Er war der Höhepunkt einer langen Etappe von politischer Instabilität und politischer Gewalt.
Schumann: Und von Interventionen, deren Vorbilder aufs 19. Jahrhundert zurückgehen.
Ollier: Unsere politische Kultur ist voller Gewalt und voller Schwierigkeiten, den nötigen Konsens herzustellen. Alle Gesellschaften sind kompliziert und konfliktreich, das liegt nun mal in ihrem Wesen. Aber unsere Politiker haben sich oft als unfähig erwiesen, den Dissens mit friedlichen Mitteln zu lösen. Seit 1983 ist uns das endlich gelungen. Heute existiert ein viel höherer Grad an Übereinstimmung und politischer Stabilität. Die Instabilität hat immer wieder zu Machtwechseln geführt, von den zivilen zu den militärischen Regimes.
Schumann: Mit dem Peronismus ist zugleich eine bis dahin unbekannte Massenbewegung entstanden, die alle Regimewechsel überdauert hat, auch wenn sie nicht an der Macht war. Was macht die Stärke dieses Peronismus aus?
Ollier: Das ist das Paradox des Peronismus. Ich halte ihn für die Kraft, die sich am besten an die politische Kultur in Argentinien adaptiert hat. Er vereint zwei sehr starke Elemente, die ihm Dauerhaftigkeit verleihen, die aber auch das politische System verändert haben: Organisation und Führerschaft. Der Peronismus nimmt hinter seinem jeweiligen Führer sehr rasch Disziplin an. Wenn dieser auch noch Staatspräsident ist, dann geht dieser Prozess noch schneller vonstatten. Dabei wird oft die Partei mit dem Staat verwechselt. Das führt naturgemäß zu großer politischer Stabilität. Der Nachteil besteht darin, dass dieser Führer nur schwer mit Institutionen umgehen kann, die seine Macht beschneiden, und dass er sich nicht selbst diszipliniert angesichts der politischen Regeln und Institutionen. Normalerweise nutzt er sie und verletzt sie, wenn nötig. Stets heißt es dann – und wir lachen schon darüber: "Aber nur dieses eine Mal!"
Schumann: Ich habe den Eindruck, dass es heute für die derzeit regierenden Kirchners schwerer geworden ist, die organisatorische Einheit der Partei herzustellen. Und dass nach dem Tod des ‚Übervaters’ Perón und dem Ende der Diktatur der Peronismus in verschiedene Tendenzen zerfallen ist. Stimmt das?
Ollier: Es hat auch früher schon Abspaltungen gegeben. Aber nach dem Tod Peróns stand die Führungselite vor einer neuen Situation: es fehlte die präsidiale Machtbasis, und man musste auf Wählerentscheidungen Rücksicht nehmen. Deshalb hat Menem auch sofort die Verfassung geändert, um wiedergewählt zu werden und die Machtbasis zu verlängern – wie Perón 1949. Als er das aber für eine 3. Amtszeit wiederholen wollte, traf er auf starken Widerstand innerhalb der Partei, und er musste verzichten. Heute müssen die peronistischen Führer gewisse Regeln beachten, denn die Verhältnisse sind sehr viel demokratischer geworden. Und sie verfügen auch nicht über das Charisma und die Standfestigkeit eines Perón. Es gibt heute keine ewigen Amtszeiten mehr, zumindest nicht in Argentinien und auch nicht in Brasilien, Bolivien oder Chile. Ausgenommen Chávez, Evo Morales – aber wie lange wird man sie wohl dulden?
Schumann: Nestór Kirchner ist heute sehr umstritten. Doch hat mit den Kirchners nicht eine neue Form des peronistischen Machtwechsels begonnen: die familiäre "Erbfolge"?
Ollier: Das war nur möglich, weil er nicht mehr Präsident ist. Während seiner vierjährigen Amtszeit hat kein einziger Peronist ihn anzuzweifeln gewagt. Dann hat er den Fehler begangen, seine Frau zu seiner Nachfolgerin zu machen. Und nun begannen die inneren Widersprüche aufzubrechen. Es ist kaum zu begreifen, dass der Peronismus während der Regierung von Cristina Kirchner so schwach geworden ist und dass dies so schnell ging.
Schumann: Ist es nicht immer noch schwer, außerhalb des Peronismus eine Opposition, eine regierungsfähige Alternative, zu bilden? Die Radikale Partei ist gescheitert, genauso wie die FREPASO und andere oppositionelle Versuche. Liegt das daran, dass der Peronismus zu viele politische Richtungen in sich vereint und innerhalb der Bewegung sogar seine eigene Opposition bildet? Liegt darin die Schwäche des demokratischen Parteiengefüges?
Ollier: Nein, das glaube ich nicht. Der Peronismus hat sich auch stark verändert. Der Peronismus, der in den 80er-Jahren gegen Alfonsín gekämpft hat, ist nicht mehr der gleiche wie der während der Regierung De la Rúa. Niemand sollte sagen, der Peronismus sei Schuld am frühzeitigen Rücktritt dieses Präsidenten im Dezember 2001. Die Peronisten haben zwar zwei Generalstreiks gegen Alfonsín unternommen und ihn sehr geschwächt, aber nicht einen einzigen gegen De la Rúa und die Regierung der Radikalen Partei. Das hieße, dem Peronismus eine Fähigkeit zuzuschreiben, die er nicht notwendigerweise besitzt. Wir müssen vielmehr analysieren, warum es den anderen Kräften nicht gelingt, politische Projekte voranzutreiben, wie der Peronismus das vermag. Ich will hier wirklich nicht den Peronismus verteidigen. Wir sollten nur einfach von ihm lernen, wie man Politik macht. Wir sollten nicht in ihm das Problem suchen, sondern im nicht-peronistischen Bereich.
Schumann: Deshalb frage ich Sie, Frau Ollier: Warum ist der Radikalismus zweimal gescheitert nach der Militärdiktatur: 1989 Alfonsín und 2001 De la Rúa? Und warum verschwand er danach beinahe vollends von der politischen Landkarte?
Ollier: Ich würde nicht sagen, dass die Regierung Alfonsín gescheitert ist, De la Rúa schon. Das ist eher eine Frage der Stabilität als der Regierungsfähigkeit. Menem beendete seine Präsidentschaft 1999 mit einer Arbeitslosigkeit von 18 Prozent. Er begnadigte die Militärs, mit ihm begann die Massenarmut, die Argentinien in dieser Form nicht gekannt hat. Eine Katastrophe. Der Peronismus ist nur erfolgreich bei der Machtausübung, denn er hat keine Skrupel. Und er trifft auf eine Opposition, die kaum das nötige Machtstreben besitzt. Deshalb sind der Radikalen Partei viele ihrer Wähler davongelaufen, z.B. zur FREPASO, die aus abtrünnigen radikalen und peronistischen Wählern bestand. Und zur ARI, die auch aus ehemaligen radikalen Wählern besteht. Die PRO ist ein rechter Flügel der Radikalen.
Schumann: Inzwischen scheint sich die politische Landschaft in einem Wandel zu befinden, dessen Folgen noch nicht abzusehen sind. Gibt es denn auch Veränderungen bei der Unión Cívica Radical, der alten Alfonsín-Partei?
Ollier: Die Radikale Partei hat sich wieder gefangen mit einem neuen Führer: dem Sohn von Alfonsín. Es ist sogar möglich, dass er der nächste Präsident wird, wenn der Streit der beiden peronistischen Fraktionen, der Kirchner-Dissidenten und der Kirchneristen, eskalieren sollte. Es wäre eine Chance für eine nicht-peronistische Kraft.
Schumann: Das wäre ja das erste Mal, dass der Peronismus durch innere Konflikte einer bürgerlichen Partei den Weg bereitet.
Ollier: Ja, denn bisher war es so, dass die Flügel zwar getrennt wählten, sich aber hinter dem Sieger wieder vereinigten wie 2003, als drei Kandidaten antraten, die aber nicht von einer oppositionellen Alternative bedroht waren. Doch kaum hatte Kirchner gesiegt, brach er diesmal die Übereinkunft – mit Duhalde, der ihm zur Präsidentschaft verholfen hatte. Dieser peronistische Führungswahn duldet keine Schatten. In jeder anderen Partei hätte man versucht, die andere politische Tendenz einzubinden und eine Art kollegiale Führung zu bilden. Einem Peronisten kommt das nicht in den Sinn. Kirchner forderte die ganze Macht und ließ sich von niemandem Bedingungen stellen. Danach entwickelte er seinen Stil der harten Konfrontation gegenüber den Gegnern in seiner eigenen Partei weiter. Diese Haltung wird es ihm sehr schwer machen, bei den nächsten Wahlen 2011 zu einer Übereinkunft mit den Anti-Kirchneristen zu kommen.
Schumann: Existieren eigentlich größere Gemeinsamkeiten innerhalb der verschiedenen Strömungen des Peronismus?
Ollier: Die Art der Machtausübung ist immer gleich, ganz unabhängig von dem jeweiligen Wirtschaftsplan. Dieser stark zentralisierte, auf eine Person fixierte Stil, die Missachtung der Institutionen, der föderalen Strukturen und der Gewaltenteilung – diese Art der Machtausübung hat Menem genauso praktiziert wie Kirchner, der allerdings die Konfrontation bis zum Extrem steigerte. Darin sind sie sich sehr ähnlich. Die Unterschiede finden sich eher in der Wirtschaftspolitik, aber sie werden von außen, durch die globale Entwicklung bestimmt. Menem hat lediglich die Politik des Washingtoner Konsens’ von 1990 durchgeführt und privatisierte, was möglich war, und Kirchner hat das damals alles befürwortet. Später hat er lediglich die Wirtschaftspolitik seines unmittelbaren Vorgängers Duhalde fortgesetzt.
Schumann: Kirchner hat aber die peronistische Politik um ein wesentliches Element erweitert: das Engagement für die Aufarbeitung der Vergangenheit. Ein deutlicher Linksruck.
Ollier: Warum ist er nach links geschwenkt? Weil sein Mitbewerber um die Macht 2003 Menem war und dieser eine rechte Position vertrat. Also hat Kirchner einen Linksschwenk vollzogen und sich mit den Menschenrechts-Organisationen verbündet und linke Töne angeschlagen.
Schumann: Das würde ja bedeuten, dass sein Engagement für die Menschenrechte auf einer ganz opportunistischen Entscheidung beruht.
Ollier: Ja, ich glaube, dass dies eine opportunistische Politik ist, und es ist schade, dass die meisten Menschenrechts-Organisationen sich vom Staat vereinnahmen ließen. Sie handelten dafür Vergünstigungen aus und das Versprechen, die Gerichtsverfahren gegen die verantwortlichen Generäle wieder aufzunehmen, was sehr wichtig ist, um die tiefen Wunden in unserem Land zu kurieren. Wir, die wir hier geblieben sind, wurden verfolgt, mussten in Katakomben unseren Unterricht durchführen, haben mit den Menschenrechts-Organisationen auf der Plaza de Mayo demonstriert. Aber Kirchner haben wir nirgendwo gesehen, so dass wir hätten sagen können, dort ist einer von uns. Er hat auch nicht ein einziges Wort gegen Menems Begnadigung der Militärs verloren, während viele andere Peronisten damals die Partei deshalb verlassen haben. Die Menschenrechte sind für ihn nur eine Waffe im politischen Kampf.
Schumann: Gibt es denn insgesamt in der Bevölkerung heute eine größere Bereitschaft, sich der Vergangenheit zu stellen und die Verantwortlichen aburteilen zu lassen?
Ollier: Ich weiß nicht, wie weit diese Bereitschaft wirklich in der Gesellschaft verankert ist. Aber klar ist für mich, dass Raúl Alfonsín das Thema der Menschenrechte bewusst gemacht hat. Er hat auch die Junta vor Gericht gebracht. Das ist ganz unabhängig davon, was danach geschah: das Schlusspunkt-Gesetz und so weiter. Entscheidend war, dass wir Argentinier Mitte der 1980er Jahre alltäglich im Fernsehen auf der Anklage-Bank die Generäle sehen konnten, die die Herren über unsere Leben gewesen waren. Das war eine Lektion, die im Bewusstsein der Argentinier haften geblieben ist. Und das war der entscheidende Schlag gegen die Streitkräfte, damit ist er in die Geschichte eingegangen. Er stärkte die Demokratie in Argentinien und zwar zu einem Zeitpunkt, als in Paraguay, Uruguay, Chile, Brasilien noch Diktaturen herrschten.
Schumann: Hat Kirchner diese Leistung Alfonsíns jemals gewürdigt? Als er die ESMA, das berüchtigte Folterzentrum der Militärs, in ein Museum verwandelte, hat er ihn jedenfalls nicht erwähnt.
Ollier: Diese Regierung hat sein Wirken für die Menschenrechte niemals anerkannt. Der Ex-Präsident hat mir erzählt, dass Kirchner ihn nach diesem Akt in der ESMA angerufen und gesagt hat: "Ich weiß, dass Sie über mich verärgert sind, und ich möchte Sie um Verzeihung bitten, dass ich mich für die Menschenrechte einsetze, ohne Ihre Arbeit zu würdigen." Daraufhin sagte Alfonsín: "Ich bin nicht verärgert, ich fühle mich aber verletzt."
Schumann: Ich glaube, die Anerkennung seiner Leistung erfolgte durch die argentinische Gesellschaft. Als Alfonsín im letzten Jahr starb, erwiesen dem Toten 70.000 Argentinier im Kongress die letzte Ehre. – Doch zurück zur Politik von Nestór Kirchner. Ist sein demonstratives Engagement für die Armen, für die Piqueteros, ebenfalls Teil seiner opportunistischen Politik?
Ollier: Nein, das glaube ich nicht. Der Peronismus hat eine natürliche Beziehung zu den Armen, die keine andere politische Kraft besitzt. Sie ist ein Verhältnis auf Augenhöhe. Ein peronistischer Führer hat keine Probleme, Maté mit einem Armen zu trinken und ihn zu Hause zu besuchen, er pflegt nicht die Distanz der Politiker anderer Parteien. Das ist sehr wertvoll, und die Armen danken es ihm bei den Wahlen. Aber es gibt auch eine negative Seite: Ganze Teile der armen Bevölkerung werden oft zu Gefangenen der peronistischen Sozialfürsorge Maßnahmen, denn sie werden bei Wahlen unter Druck gesetzt. Das halte ich für unverzeihlich.
Schumann: Gehören denn diese Piqueteros, dieses Heer von Arbeitslosen, die zum Teil Sozialhilfe erhalten, gehören sie zu den peronistischen Stammwählern?
Ollier: Sie sind heute sehr gespalten und nicht notwendigerweise Parteigänger von Kirchner. Viele sind seine Verbündeten, aber andere gehören auch zur traditionellen Linken oder sind autonome Gruppen. In Argentinien war Politik schon immer in Fraktionen zersplittert, die als Einzelne sehr schwach waren. Und genauso geht es den Piqueteros. Sie wären sehr viel mächtiger als große Einheitsbewegung.
Schumann: Welche Rolle spielen heute die Intellektuellen im politischen Leben Argentiniens, beispielsweise die Gruppe Carta Abierta - Offener Brief? Sie hat sich vor zwei Jahren gebildet und ist die einzige intellektuelle Vereinigung, die sich offen zur Regierung bekennt.
Ollier: Viele von ihnen, die diese Regierung verteidigen, werden von ihr bezahlt, sind Funktionäre. Ihre Stellungnahmen sind also mit Vorbehalt zu lesen. Ich wünschte mir Intellektuelle, die die Regierung aus reiner Überzeugung verteidigen und nicht weil sie ein öffentliches Amt bekleiden. Und ich möchte wirklich wissen, wo sie in der Zukunft stehen werden, wenn Kirchner nächstes Jahr nicht Präsident wird. Und was nun die Gruppe Carta Abierta betrifft, so kann ich mir nicht vorstellen, dass sie die Politik von Kirchner auch nur im Geringsten beeinflussen kann, denn der versteht die argentinische Politik wirklich perfekt und weiß genau, was er machen muss, um die Wahlen von 2011 zu gewinnen.
Schumann: Eine Besonderheit der präsidialen ‚Familien-Dynastie’ Kirchner ist ihr Umgang mit der Presse. Das Verhältnis vieler lateinamerikanischer Regierender zu den Medien ist heute sehr gespannt, ganz unabhängig von ihrer politischen Position. Ein Paradebeispiel liefert Chávez in Venezuela. Aber der Umgangston der Kirchners mit publizierter Kritik grenzt manchmal sogar an Beleidigung.
Ollier: Ich glaube, das gehört zu ihrem Verständnis von Machtausübung. Die beiden sind davon überzeugt, dass die Mehrheit der Presse ihre Feinde sind und sie deshalb bei ihren politischen Projekten nicht unterstützen werden. Und wen sie erstmal als Feind ausgemacht haben, der ist natürlich auch Feind des Volkes, der Nation, ein Vaterlandsverräter. Diese Haltung wird verständlich, wenn man sich vor Augen führt, dass sie ihre Macht um einen Feind herum aufgebaut haben. Das waren zunächst Menem und alle, die in den 90er Jahren mit ihm zu tun hatten. Dann die Regierung in Washington und der Internationale Währungsfond. Die Kirchners glauben wirklich, dass fast alles nur ihnen zu verdanken sei: die Menschenrechte genauso wie der Wirtschaftsaufschwung. Und jeder, der ihre Leistung beeinträchtigen oder Front dagegen machen könnte, wird als Feind betrachtet und entsprechend behandelt. Die Präsidentin scheut sich nicht, vors Mikrofon zu treten und öffentlich die Presse zu attackieren. Das ist wie in vergangenen Zeiten, man glaubt es nicht.
Schumann: Die Kirchners haben sich gegenwärtig besonders auf den Medienkonzern Clarín eingeschossen, der über die größte Tageszeitung und mehrere Rundfunk- und Fernsehsender verfügt. Geht es dabei nur um politische oder auch um ökonomische Interessen?
Ollier: Ich glaube, sie verfolgen ein Projekt der Macht, das über die Politik hinausreicht und auch durch Wirtschaftsinteressen bestimmt wird. Die Fälle von Korruption, die aufgedeckt wurden, betrafen befreundete Unternehmer. Dabei geht es um den Aufbau von Medien, TV- und Kabelkanälen, Radiosendern, ein riesiges Projekt: um einen politischen und kulturellen Medienapparat der Macht.
Schumann: Im letzten Jahrzehnt hat sich auch die politische Landschaft in Lateinamerika sehr verändert. Eine neue regionale Großmacht hat sich profiliert: Brasilien. Das Nachbarland hat die einst so stolze Nation Argentinien längst in den Schatten gestellt. Warum hat sich die Regierung nicht besser behauptet?
Ollier: Argentinien könnte eine angemessenere Rolle spielen, aber es hat schon immer eine miserable Außenpolitik praktiziert. Sie wird mehr von inneren Streitigkeiten bestimmt. als von einer übergeordneten Konzeption. Das trifft gerade auf den Fall Brasilien zu. Die Beziehung ist ziemlich schlecht. Dabei glaube ich, dass Argentinien ohne Brasilien keine Zukunft hat. Brasilien ist übermächtig, und es wäre sehr sinnvoll, eine möglichst enge strategische Partnerschaft einzugehen. Aber stattdessen haben wir früher, hat Menem innigste Beziehungen zu den USA unterhalten, und heute pflegen die Kirchners innigste Beziehungen zu Venezuela. Aber wo sind die Ziele, wo ist eine langfristige Außenpolitik?
Schumann: Zum Schluss noch einmal zurück zum Bicentenario. Bei den Feierlichkeiten wurde des öfteren die Einzigartigkeit Argentiniens betont. Worin besteht sie für María Matilde Ollier?
Ollier: Die Einzigartigkeit Argentiniens besteht in seiner Selbstzerstörung. Das ist ein Land, das Rückschritte macht. Argentinien war einmal berühmt für seine egalitären Verhältnisse, einzigartig in ganz Lateinamerika. Heute sind die Unterschiede bei der Einkommensverteilung wesentlich größer als 1994, als Menem regierte, ganz zu schweigen von den frühen 70er Jahren. Wirkliche Fortschritte hat nur die Demokratie gemacht, nicht zuletzt deshalb, weil es überall auf der Welt eine starke demokratische Strömung gibt. Das ist unser größter Erfolg. Aber gesellschaftlich und wirtschaftlich gesehen, steht Argentinien heute nicht besser da als vor 40 oder 50 Jahren.
María Matilde Ollier: Ihr stärkstes Erbe ist die Freiheit, die sie bewusst gemacht hat und die – wie soll ich sagen – verstümmelt wurde im Verlauf der letzten 200 Jahre. Die Frage der Freiheit und die Möglichkeit, eine Nation, ein Volk zu formen. Denn es waren ja nur Städte, vor allem Buenos Aires, die sich erhoben haben. Die Revolution hatte zunächst keine territoriale Ausdehnung, war noch nicht politisch organisiert. Danach begannen überhaupt erst die Streitigkeiten zwischen der Hafenstadt Buenos Aires und der Konföderation, den argentinischen Provinzen.
Schumann: Lassen Sie uns noch einen Moment bei dieser frühen Phase der Staatsbildung im 19. Jahrhundert bleiben, denn ich glaube, daran lässt sich auch heutige Politik festmachen. Bei den Feierlichkeiten zum Bicentenario hat ein Mitglied des Obersten Gerichtshofs gesagt: "Die Republik ist in Gefahr, unterzugehen." Wieso kann er das behaupten?
Ollier: Der große Streit drehte sich stets um die Vorherrschaft der Provinz Buenos Aires, zu der auch die Stadt gehört, d.h. um ihre Beziehung zum übrigen Land. Buenos Aires besaß den Hafen, kontrollierte den Handel, den Schiffsverkehr und den Zoll. Die Stadt besaß ein großes Gewicht und hat das teilweise mit Gewalt gegenüber den Provinzen behauptet. Dieser Zentralismus von Buenos Aires wurde sogar während der Herrschaft der Föderalisten gestärkt. Ihrem Anführer, Juan Manuel de Rosas, gelang es durch politische Manöver, eine Zeit lang die Vorherrschaft von Buenos Aires im Namen der Föderation, der vereinigten Provinzen, durchzusetzen und einen besonders schrecklichen Zentralismus zu errichten.
Schumann: Rosas herrschte wie ein Diktator über das ganze Land, obwohl er nur Gouverneur von Buenos Aires war, und wurde 1852 gestürzt. Doch die blutigen Kriege um die Hegemonie gingen noch bis 1880 weiter. Wie wurde der Konflikt gelöst?
Ollier: Im Jahr 1880 siegten die Provinzen unter General Roca. Er wurde Präsident und begann, ein Staatsgefüge aufzubauen. Aber der latente Konflikt zwischen Zentralisten und Föderalisten blieb Teil unserer politischen Kultur. Roca gelang die Vereinigung. Bei diesem Prozess wurde die Provinz Buenos Aires dadurch abgestraft, dass die Stadt selbst föderalisiert wurde: Sie wurde zur Hauptstadt der Nation. Die Provinz verlor sozusagen ihren Kopf.
Schumann: Dieser Konflikt hat sich in den letzten Jahrzehnten durch Menem und Kirchner wieder zugespitzt, allerdings auf andere, man könnte sagen: neoliberale Art. Beide verlagerten kostenintensive Aufgaben der Zentralregierung auf die Provinzen. Eine heutige Form der Intervention. Ab wann kann man denn überhaupt von Demokratie in Argentinien sprechen?
Ollier: Ab 1916. Aber die Zwischenzeit von 1880 bis 1916 wurde politisch geprägt von einem Vorkämpfer der Demokratie: dem Radikalismus mit Hipólito Yrigoyen an der Spitze.
Schumann: Ihre Basis, die Unión Cívica Radical, ist aber keine politisch radikale Partei, sondern lediglich eine Abspaltung der Unión Civica, einer Partei der bürgerlichen Mitte.
Ollier: Sie forderte die herrschende Oligarchie heraus und kämpfte nahezu 30 Jahre um die Bürgerrechte. 1912 befürworteten endlich auch die regierenden Konservativen ein allgemeines, geheimes, obligatorisches Wahlrecht für die männliche Bevölkerung, weil sie zu gewinnen hofften. Aber es siegte die Radikale Partei. Yrigoyen gelang es nämlich, viele konservative Provinzen auf seine Seite zu ziehen und mit ihnen eine Koalition einzugehen. So gewann er die Wahlen. Mit seinem Sieg 1916 und der Regierungsübernahme der Radikalen Partei beginnt die Demokratie.
Schumann: Ist also diese Radikale Bürgerunion dafür verantwortlich, dass sich die Demokratie in Argentinien schon früh durchgesetzt hat?
Ollier: Ja, aber mit republikanischen Fehlern. Sie hat von Anfang an eine sehr populistische Politik gemacht. Immer war der Wille des politischen Führers entscheidender als die etablierten Regeln. Die Radikalen haben beispielsweise sehr viele militärische Interventionen in den Provinzen unternommen – genauso wie früher die Konservativen. Yrigoyen hat es auf 19 solcher Interventionen gebracht. Wenn ein Gouverneur kein Verbündeter der Zentralregierung sein wollte, dann wurden Armee und Polizei hingeschickt, um ihn zu stürzen, einen genehmen Gouverneur zu inthronisieren und so den Sieg bei den nächsten Wahlen zu garantieren. Außerdem sicherte er sich die Zustimmung vieler Senatoren im Nationalparlament, die mit ihm befreundet waren. Diese Taktik war während der Regierung der Radikalen Partei sehr verbreitet. Dadurch sank natürlich das Ansehen der Legislative.
Schumann: Das kommt mir doch alles sehr bekannt vor, nur finden heute keine militärischen Interventionen mehr statt.
Ollier: Das ist eine bis heute fortdauernde traditionelle Taktik. Aber heute gibt der Präsident tatsächlich am 1. März eine Regierungserklärung vor beiden Kammern des Parlaments ab, wenn die neue Sitzungsperiode beginnt. Hipólito Yrigoyen, ein wahrer Caudillo der Radikalen Partei, hielt das nie für nötig. Er missachtete die Bedeutung des Parlaments. Unsere Demokratie wurde mit schweren demokratischen Fehlern geboren.
Schumann: Trotzdem entstand die Demokratie in Argentinien – wie auch in anderen Ländern Lateinamerikas – früher als beispielsweise in Deutschland. Aber sie blieb zunächst weitgehend auf diese Anfangsphase beschränkt und wurde erst Jahrzehnte später ab 1983 zu einer dauerhaften Staatsform.
Ollier: Ja. Was Argentinien charakterisiert – und genauso Bolivien, Peru, Paraguay mit ihren langen Diktaturen, weniger Chile und Uruguay – das ist der hohe Grad in politischer Instabilität. In Argentinien wurde 1930 die Radikale Partei von den Streitkräften aus der Regierung getrieben. Und wirklich saubere Wahlen gab es erst wieder 1946, als der Peronismus an die Macht kam und damit eine neue Volksbewegung mit noch populistischeren Zügen als der Radikalismus von Yrigoyen. Auch reformierte Perón 1949 die Verfassung, um wiedergewählt zu werden.
Schumann: Dabei wurde das Wahlrecht für Frauen eingeführt. Gab es dafür neben der Notwendigkeit auch einen taktischen Grund?
Ollier: Es gab in der Bevölkerung einen großen Anteil von Frauen, die bereit waren, Perón zu wählen. Deshalb wurde sogar eine peronistische Frauenpartei gegründet. Eva Perón hat sie mit eiserner Hand organisiert. Es war geradezu eine Armee von Frauen, die die Stimmen für Perón besorgen sollten. Dadurch erhielt er dann 1952 auch mehr Stimmen als bei seiner ersten Wahl 1946. Es war erstaunlich, mit welcher Disziplin diese Frauen in ganz Argentinien vorgingen. Aber auch Perón wurde 1955 durch einen Staatsstreich der Konservativen gestürzt, und die politische Instabilität ging weiter bis 1973, als der Peronismus wieder an die Regierung kam. 1976 erfolgte der blutige Militärputsch. Er war der Höhepunkt einer langen Etappe von politischer Instabilität und politischer Gewalt.
Schumann: Und von Interventionen, deren Vorbilder aufs 19. Jahrhundert zurückgehen.
Ollier: Unsere politische Kultur ist voller Gewalt und voller Schwierigkeiten, den nötigen Konsens herzustellen. Alle Gesellschaften sind kompliziert und konfliktreich, das liegt nun mal in ihrem Wesen. Aber unsere Politiker haben sich oft als unfähig erwiesen, den Dissens mit friedlichen Mitteln zu lösen. Seit 1983 ist uns das endlich gelungen. Heute existiert ein viel höherer Grad an Übereinstimmung und politischer Stabilität. Die Instabilität hat immer wieder zu Machtwechseln geführt, von den zivilen zu den militärischen Regimes.
Schumann: Mit dem Peronismus ist zugleich eine bis dahin unbekannte Massenbewegung entstanden, die alle Regimewechsel überdauert hat, auch wenn sie nicht an der Macht war. Was macht die Stärke dieses Peronismus aus?
Ollier: Das ist das Paradox des Peronismus. Ich halte ihn für die Kraft, die sich am besten an die politische Kultur in Argentinien adaptiert hat. Er vereint zwei sehr starke Elemente, die ihm Dauerhaftigkeit verleihen, die aber auch das politische System verändert haben: Organisation und Führerschaft. Der Peronismus nimmt hinter seinem jeweiligen Führer sehr rasch Disziplin an. Wenn dieser auch noch Staatspräsident ist, dann geht dieser Prozess noch schneller vonstatten. Dabei wird oft die Partei mit dem Staat verwechselt. Das führt naturgemäß zu großer politischer Stabilität. Der Nachteil besteht darin, dass dieser Führer nur schwer mit Institutionen umgehen kann, die seine Macht beschneiden, und dass er sich nicht selbst diszipliniert angesichts der politischen Regeln und Institutionen. Normalerweise nutzt er sie und verletzt sie, wenn nötig. Stets heißt es dann – und wir lachen schon darüber: "Aber nur dieses eine Mal!"
Schumann: Ich habe den Eindruck, dass es heute für die derzeit regierenden Kirchners schwerer geworden ist, die organisatorische Einheit der Partei herzustellen. Und dass nach dem Tod des ‚Übervaters’ Perón und dem Ende der Diktatur der Peronismus in verschiedene Tendenzen zerfallen ist. Stimmt das?
Ollier: Es hat auch früher schon Abspaltungen gegeben. Aber nach dem Tod Peróns stand die Führungselite vor einer neuen Situation: es fehlte die präsidiale Machtbasis, und man musste auf Wählerentscheidungen Rücksicht nehmen. Deshalb hat Menem auch sofort die Verfassung geändert, um wiedergewählt zu werden und die Machtbasis zu verlängern – wie Perón 1949. Als er das aber für eine 3. Amtszeit wiederholen wollte, traf er auf starken Widerstand innerhalb der Partei, und er musste verzichten. Heute müssen die peronistischen Führer gewisse Regeln beachten, denn die Verhältnisse sind sehr viel demokratischer geworden. Und sie verfügen auch nicht über das Charisma und die Standfestigkeit eines Perón. Es gibt heute keine ewigen Amtszeiten mehr, zumindest nicht in Argentinien und auch nicht in Brasilien, Bolivien oder Chile. Ausgenommen Chávez, Evo Morales – aber wie lange wird man sie wohl dulden?
Schumann: Nestór Kirchner ist heute sehr umstritten. Doch hat mit den Kirchners nicht eine neue Form des peronistischen Machtwechsels begonnen: die familiäre "Erbfolge"?
Ollier: Das war nur möglich, weil er nicht mehr Präsident ist. Während seiner vierjährigen Amtszeit hat kein einziger Peronist ihn anzuzweifeln gewagt. Dann hat er den Fehler begangen, seine Frau zu seiner Nachfolgerin zu machen. Und nun begannen die inneren Widersprüche aufzubrechen. Es ist kaum zu begreifen, dass der Peronismus während der Regierung von Cristina Kirchner so schwach geworden ist und dass dies so schnell ging.
Schumann: Ist es nicht immer noch schwer, außerhalb des Peronismus eine Opposition, eine regierungsfähige Alternative, zu bilden? Die Radikale Partei ist gescheitert, genauso wie die FREPASO und andere oppositionelle Versuche. Liegt das daran, dass der Peronismus zu viele politische Richtungen in sich vereint und innerhalb der Bewegung sogar seine eigene Opposition bildet? Liegt darin die Schwäche des demokratischen Parteiengefüges?
Ollier: Nein, das glaube ich nicht. Der Peronismus hat sich auch stark verändert. Der Peronismus, der in den 80er-Jahren gegen Alfonsín gekämpft hat, ist nicht mehr der gleiche wie der während der Regierung De la Rúa. Niemand sollte sagen, der Peronismus sei Schuld am frühzeitigen Rücktritt dieses Präsidenten im Dezember 2001. Die Peronisten haben zwar zwei Generalstreiks gegen Alfonsín unternommen und ihn sehr geschwächt, aber nicht einen einzigen gegen De la Rúa und die Regierung der Radikalen Partei. Das hieße, dem Peronismus eine Fähigkeit zuzuschreiben, die er nicht notwendigerweise besitzt. Wir müssen vielmehr analysieren, warum es den anderen Kräften nicht gelingt, politische Projekte voranzutreiben, wie der Peronismus das vermag. Ich will hier wirklich nicht den Peronismus verteidigen. Wir sollten nur einfach von ihm lernen, wie man Politik macht. Wir sollten nicht in ihm das Problem suchen, sondern im nicht-peronistischen Bereich.
Schumann: Deshalb frage ich Sie, Frau Ollier: Warum ist der Radikalismus zweimal gescheitert nach der Militärdiktatur: 1989 Alfonsín und 2001 De la Rúa? Und warum verschwand er danach beinahe vollends von der politischen Landkarte?
Ollier: Ich würde nicht sagen, dass die Regierung Alfonsín gescheitert ist, De la Rúa schon. Das ist eher eine Frage der Stabilität als der Regierungsfähigkeit. Menem beendete seine Präsidentschaft 1999 mit einer Arbeitslosigkeit von 18 Prozent. Er begnadigte die Militärs, mit ihm begann die Massenarmut, die Argentinien in dieser Form nicht gekannt hat. Eine Katastrophe. Der Peronismus ist nur erfolgreich bei der Machtausübung, denn er hat keine Skrupel. Und er trifft auf eine Opposition, die kaum das nötige Machtstreben besitzt. Deshalb sind der Radikalen Partei viele ihrer Wähler davongelaufen, z.B. zur FREPASO, die aus abtrünnigen radikalen und peronistischen Wählern bestand. Und zur ARI, die auch aus ehemaligen radikalen Wählern besteht. Die PRO ist ein rechter Flügel der Radikalen.
Schumann: Inzwischen scheint sich die politische Landschaft in einem Wandel zu befinden, dessen Folgen noch nicht abzusehen sind. Gibt es denn auch Veränderungen bei der Unión Cívica Radical, der alten Alfonsín-Partei?
Ollier: Die Radikale Partei hat sich wieder gefangen mit einem neuen Führer: dem Sohn von Alfonsín. Es ist sogar möglich, dass er der nächste Präsident wird, wenn der Streit der beiden peronistischen Fraktionen, der Kirchner-Dissidenten und der Kirchneristen, eskalieren sollte. Es wäre eine Chance für eine nicht-peronistische Kraft.
Schumann: Das wäre ja das erste Mal, dass der Peronismus durch innere Konflikte einer bürgerlichen Partei den Weg bereitet.
Ollier: Ja, denn bisher war es so, dass die Flügel zwar getrennt wählten, sich aber hinter dem Sieger wieder vereinigten wie 2003, als drei Kandidaten antraten, die aber nicht von einer oppositionellen Alternative bedroht waren. Doch kaum hatte Kirchner gesiegt, brach er diesmal die Übereinkunft – mit Duhalde, der ihm zur Präsidentschaft verholfen hatte. Dieser peronistische Führungswahn duldet keine Schatten. In jeder anderen Partei hätte man versucht, die andere politische Tendenz einzubinden und eine Art kollegiale Führung zu bilden. Einem Peronisten kommt das nicht in den Sinn. Kirchner forderte die ganze Macht und ließ sich von niemandem Bedingungen stellen. Danach entwickelte er seinen Stil der harten Konfrontation gegenüber den Gegnern in seiner eigenen Partei weiter. Diese Haltung wird es ihm sehr schwer machen, bei den nächsten Wahlen 2011 zu einer Übereinkunft mit den Anti-Kirchneristen zu kommen.
Schumann: Existieren eigentlich größere Gemeinsamkeiten innerhalb der verschiedenen Strömungen des Peronismus?
Ollier: Die Art der Machtausübung ist immer gleich, ganz unabhängig von dem jeweiligen Wirtschaftsplan. Dieser stark zentralisierte, auf eine Person fixierte Stil, die Missachtung der Institutionen, der föderalen Strukturen und der Gewaltenteilung – diese Art der Machtausübung hat Menem genauso praktiziert wie Kirchner, der allerdings die Konfrontation bis zum Extrem steigerte. Darin sind sie sich sehr ähnlich. Die Unterschiede finden sich eher in der Wirtschaftspolitik, aber sie werden von außen, durch die globale Entwicklung bestimmt. Menem hat lediglich die Politik des Washingtoner Konsens’ von 1990 durchgeführt und privatisierte, was möglich war, und Kirchner hat das damals alles befürwortet. Später hat er lediglich die Wirtschaftspolitik seines unmittelbaren Vorgängers Duhalde fortgesetzt.
Schumann: Kirchner hat aber die peronistische Politik um ein wesentliches Element erweitert: das Engagement für die Aufarbeitung der Vergangenheit. Ein deutlicher Linksruck.
Ollier: Warum ist er nach links geschwenkt? Weil sein Mitbewerber um die Macht 2003 Menem war und dieser eine rechte Position vertrat. Also hat Kirchner einen Linksschwenk vollzogen und sich mit den Menschenrechts-Organisationen verbündet und linke Töne angeschlagen.
Schumann: Das würde ja bedeuten, dass sein Engagement für die Menschenrechte auf einer ganz opportunistischen Entscheidung beruht.
Ollier: Ja, ich glaube, dass dies eine opportunistische Politik ist, und es ist schade, dass die meisten Menschenrechts-Organisationen sich vom Staat vereinnahmen ließen. Sie handelten dafür Vergünstigungen aus und das Versprechen, die Gerichtsverfahren gegen die verantwortlichen Generäle wieder aufzunehmen, was sehr wichtig ist, um die tiefen Wunden in unserem Land zu kurieren. Wir, die wir hier geblieben sind, wurden verfolgt, mussten in Katakomben unseren Unterricht durchführen, haben mit den Menschenrechts-Organisationen auf der Plaza de Mayo demonstriert. Aber Kirchner haben wir nirgendwo gesehen, so dass wir hätten sagen können, dort ist einer von uns. Er hat auch nicht ein einziges Wort gegen Menems Begnadigung der Militärs verloren, während viele andere Peronisten damals die Partei deshalb verlassen haben. Die Menschenrechte sind für ihn nur eine Waffe im politischen Kampf.
Schumann: Gibt es denn insgesamt in der Bevölkerung heute eine größere Bereitschaft, sich der Vergangenheit zu stellen und die Verantwortlichen aburteilen zu lassen?
Ollier: Ich weiß nicht, wie weit diese Bereitschaft wirklich in der Gesellschaft verankert ist. Aber klar ist für mich, dass Raúl Alfonsín das Thema der Menschenrechte bewusst gemacht hat. Er hat auch die Junta vor Gericht gebracht. Das ist ganz unabhängig davon, was danach geschah: das Schlusspunkt-Gesetz und so weiter. Entscheidend war, dass wir Argentinier Mitte der 1980er Jahre alltäglich im Fernsehen auf der Anklage-Bank die Generäle sehen konnten, die die Herren über unsere Leben gewesen waren. Das war eine Lektion, die im Bewusstsein der Argentinier haften geblieben ist. Und das war der entscheidende Schlag gegen die Streitkräfte, damit ist er in die Geschichte eingegangen. Er stärkte die Demokratie in Argentinien und zwar zu einem Zeitpunkt, als in Paraguay, Uruguay, Chile, Brasilien noch Diktaturen herrschten.
Schumann: Hat Kirchner diese Leistung Alfonsíns jemals gewürdigt? Als er die ESMA, das berüchtigte Folterzentrum der Militärs, in ein Museum verwandelte, hat er ihn jedenfalls nicht erwähnt.
Ollier: Diese Regierung hat sein Wirken für die Menschenrechte niemals anerkannt. Der Ex-Präsident hat mir erzählt, dass Kirchner ihn nach diesem Akt in der ESMA angerufen und gesagt hat: "Ich weiß, dass Sie über mich verärgert sind, und ich möchte Sie um Verzeihung bitten, dass ich mich für die Menschenrechte einsetze, ohne Ihre Arbeit zu würdigen." Daraufhin sagte Alfonsín: "Ich bin nicht verärgert, ich fühle mich aber verletzt."
Schumann: Ich glaube, die Anerkennung seiner Leistung erfolgte durch die argentinische Gesellschaft. Als Alfonsín im letzten Jahr starb, erwiesen dem Toten 70.000 Argentinier im Kongress die letzte Ehre. – Doch zurück zur Politik von Nestór Kirchner. Ist sein demonstratives Engagement für die Armen, für die Piqueteros, ebenfalls Teil seiner opportunistischen Politik?
Ollier: Nein, das glaube ich nicht. Der Peronismus hat eine natürliche Beziehung zu den Armen, die keine andere politische Kraft besitzt. Sie ist ein Verhältnis auf Augenhöhe. Ein peronistischer Führer hat keine Probleme, Maté mit einem Armen zu trinken und ihn zu Hause zu besuchen, er pflegt nicht die Distanz der Politiker anderer Parteien. Das ist sehr wertvoll, und die Armen danken es ihm bei den Wahlen. Aber es gibt auch eine negative Seite: Ganze Teile der armen Bevölkerung werden oft zu Gefangenen der peronistischen Sozialfürsorge Maßnahmen, denn sie werden bei Wahlen unter Druck gesetzt. Das halte ich für unverzeihlich.
Schumann: Gehören denn diese Piqueteros, dieses Heer von Arbeitslosen, die zum Teil Sozialhilfe erhalten, gehören sie zu den peronistischen Stammwählern?
Ollier: Sie sind heute sehr gespalten und nicht notwendigerweise Parteigänger von Kirchner. Viele sind seine Verbündeten, aber andere gehören auch zur traditionellen Linken oder sind autonome Gruppen. In Argentinien war Politik schon immer in Fraktionen zersplittert, die als Einzelne sehr schwach waren. Und genauso geht es den Piqueteros. Sie wären sehr viel mächtiger als große Einheitsbewegung.
Schumann: Welche Rolle spielen heute die Intellektuellen im politischen Leben Argentiniens, beispielsweise die Gruppe Carta Abierta - Offener Brief? Sie hat sich vor zwei Jahren gebildet und ist die einzige intellektuelle Vereinigung, die sich offen zur Regierung bekennt.
Ollier: Viele von ihnen, die diese Regierung verteidigen, werden von ihr bezahlt, sind Funktionäre. Ihre Stellungnahmen sind also mit Vorbehalt zu lesen. Ich wünschte mir Intellektuelle, die die Regierung aus reiner Überzeugung verteidigen und nicht weil sie ein öffentliches Amt bekleiden. Und ich möchte wirklich wissen, wo sie in der Zukunft stehen werden, wenn Kirchner nächstes Jahr nicht Präsident wird. Und was nun die Gruppe Carta Abierta betrifft, so kann ich mir nicht vorstellen, dass sie die Politik von Kirchner auch nur im Geringsten beeinflussen kann, denn der versteht die argentinische Politik wirklich perfekt und weiß genau, was er machen muss, um die Wahlen von 2011 zu gewinnen.
Schumann: Eine Besonderheit der präsidialen ‚Familien-Dynastie’ Kirchner ist ihr Umgang mit der Presse. Das Verhältnis vieler lateinamerikanischer Regierender zu den Medien ist heute sehr gespannt, ganz unabhängig von ihrer politischen Position. Ein Paradebeispiel liefert Chávez in Venezuela. Aber der Umgangston der Kirchners mit publizierter Kritik grenzt manchmal sogar an Beleidigung.
Ollier: Ich glaube, das gehört zu ihrem Verständnis von Machtausübung. Die beiden sind davon überzeugt, dass die Mehrheit der Presse ihre Feinde sind und sie deshalb bei ihren politischen Projekten nicht unterstützen werden. Und wen sie erstmal als Feind ausgemacht haben, der ist natürlich auch Feind des Volkes, der Nation, ein Vaterlandsverräter. Diese Haltung wird verständlich, wenn man sich vor Augen führt, dass sie ihre Macht um einen Feind herum aufgebaut haben. Das waren zunächst Menem und alle, die in den 90er Jahren mit ihm zu tun hatten. Dann die Regierung in Washington und der Internationale Währungsfond. Die Kirchners glauben wirklich, dass fast alles nur ihnen zu verdanken sei: die Menschenrechte genauso wie der Wirtschaftsaufschwung. Und jeder, der ihre Leistung beeinträchtigen oder Front dagegen machen könnte, wird als Feind betrachtet und entsprechend behandelt. Die Präsidentin scheut sich nicht, vors Mikrofon zu treten und öffentlich die Presse zu attackieren. Das ist wie in vergangenen Zeiten, man glaubt es nicht.
Schumann: Die Kirchners haben sich gegenwärtig besonders auf den Medienkonzern Clarín eingeschossen, der über die größte Tageszeitung und mehrere Rundfunk- und Fernsehsender verfügt. Geht es dabei nur um politische oder auch um ökonomische Interessen?
Ollier: Ich glaube, sie verfolgen ein Projekt der Macht, das über die Politik hinausreicht und auch durch Wirtschaftsinteressen bestimmt wird. Die Fälle von Korruption, die aufgedeckt wurden, betrafen befreundete Unternehmer. Dabei geht es um den Aufbau von Medien, TV- und Kabelkanälen, Radiosendern, ein riesiges Projekt: um einen politischen und kulturellen Medienapparat der Macht.
Schumann: Im letzten Jahrzehnt hat sich auch die politische Landschaft in Lateinamerika sehr verändert. Eine neue regionale Großmacht hat sich profiliert: Brasilien. Das Nachbarland hat die einst so stolze Nation Argentinien längst in den Schatten gestellt. Warum hat sich die Regierung nicht besser behauptet?
Ollier: Argentinien könnte eine angemessenere Rolle spielen, aber es hat schon immer eine miserable Außenpolitik praktiziert. Sie wird mehr von inneren Streitigkeiten bestimmt. als von einer übergeordneten Konzeption. Das trifft gerade auf den Fall Brasilien zu. Die Beziehung ist ziemlich schlecht. Dabei glaube ich, dass Argentinien ohne Brasilien keine Zukunft hat. Brasilien ist übermächtig, und es wäre sehr sinnvoll, eine möglichst enge strategische Partnerschaft einzugehen. Aber stattdessen haben wir früher, hat Menem innigste Beziehungen zu den USA unterhalten, und heute pflegen die Kirchners innigste Beziehungen zu Venezuela. Aber wo sind die Ziele, wo ist eine langfristige Außenpolitik?
Schumann: Zum Schluss noch einmal zurück zum Bicentenario. Bei den Feierlichkeiten wurde des öfteren die Einzigartigkeit Argentiniens betont. Worin besteht sie für María Matilde Ollier?
Ollier: Die Einzigartigkeit Argentiniens besteht in seiner Selbstzerstörung. Das ist ein Land, das Rückschritte macht. Argentinien war einmal berühmt für seine egalitären Verhältnisse, einzigartig in ganz Lateinamerika. Heute sind die Unterschiede bei der Einkommensverteilung wesentlich größer als 1994, als Menem regierte, ganz zu schweigen von den frühen 70er Jahren. Wirkliche Fortschritte hat nur die Demokratie gemacht, nicht zuletzt deshalb, weil es überall auf der Welt eine starke demokratische Strömung gibt. Das ist unser größter Erfolg. Aber gesellschaftlich und wirtschaftlich gesehen, steht Argentinien heute nicht besser da als vor 40 oder 50 Jahren.