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Orkney-Inseln
Archäologische Entdeckungen stellen das Bild der Jungsteinzeit auf den Kopf

Der Steinkreis von Stonehenge, die Hügelgräber in Irland oder die neolithischen Dörfer auf den Orkney-Inseln: Seit mehr als hundert Jahren bekannt liefern sie immer noch neue Erkenntnisse. Doch vor allem auf den Orkneys im Norden Schottlands machen Forscher in letzter Zeit außergewöhnliche Entdeckungen: Sie legen neue Häuser und Heiligtümer aus der Steinzeit frei und gewinnen damit einen Einblick in das Geistesleben vor 5.000 Jahren.

Von Matthias Hennies | 16.10.2014
    Herrenhaus und Leuchtturm auf den Orkney-Inseln bei Rendall.
    Eine der großen Herausforderungen der europäischen Archäologie ist die Erforschung der Steinzeitkulturen auf den britischen Inseln, zum Beispiel auf den Orkney-Inseln bei Rendall. (picture-alliance / dpa / Hinrich Bäsemann)
    Bei klarem Wetter wölbt sich ein endloser Himmel über der stillen Landschaft der Orkney-Inseln. Sanfte Hügel, von Wiesen bedeckt, wechseln ab mit Wasserflächen, die im Licht der Herbstsonne glitzern. Soweit das Auge reicht, ist alles klar und hell - das Geheimnis schlummert unter der Erde.
    "Am Ness von Brodgar fühlt man sich im Herzen der Landschaft. Die Hügel rundum bilden ein gewaltiges, natürliches Amphitheater und wir stehen in seinem Mittelpunkt. Hier sind wir auf einem Streifen Land, der zwischen zwei Seen eingeklemmt ist: dem Loch von Stenness und dem Loch von Harray. Und das war vor 5000 Jahren ein bedeutender Ort."
    Nick Card leitet die archäologische Erforschung des Ness von Brodgar auf Mainland, der größten Insel der Orkneys, hoch im Norden von Schottland. An den Enden des schmalen Landstreifens zeigt er drei spektakuläre Bauten aus der Jungsteinzeit.
    "Wenn Sie hier stehen, wird das Auge von einigen der eindrucksvollsten archäologischen Monumente Europas angezogen. Gleich rechts von uns die Stehenden Steine von Stenness, etwas weiter weg der Hügel von Maes Howe, dem schönsten Kammergrab in Europa, und links der Steinkreis von Brodgar. Doch seit der Ness entdeckt wurde, wirken sie nur noch wie Randerscheinungen zu dem, was hier geschah."
    Jeden Sommer verwandeln Archäologen das Land zwischen den Seen fast in voller Breite in eine Ausgrabung. Wo sie die oberen Erdschichten abgetragen haben, ist der Boden übersät mit hellen Steinplatten, dem jahrtausende-alten Baustoff aus lokalem Sandstein. Nick Card und seine Kollegen haben daraus die Grundrisse von rund 20 Häusern rekonstruiert: jedes drei bis vier Mal so groß wie ein normales Wohnhaus, alle verbunden durch gepflasterte Wege und umschlossen von einer mächtigen, bis zu vier Meter dicken Mauer. Erbaut um 3300 vor Christus, erklärt Card:
    "Was in dieser beeindruckenden Umwallung lag, die Art der Gebäude, haben wir in diesem Ausmaß in Großbritannien nie zuvor gesehen."
    Auf dem Kontinent kann man von Architektur aus der Jungsteinzeit ohnehin nur träumen. In der Epoche, als sich Ackerbau und Viehzucht ausbreiteten, wurde in Mitteleuropa nur mit Holz gebaut - folglich sind Häuser und Heiligtümer heute längst zerfallen. Nur die unscheinbaren Löcher der Stützpfosten können Archäologen noch im Boden erkennen.
    Die Bauten auf dem Ness von Brodgar sind aber auch für die fundreichen Orkney-Inseln etwas Besonderes. Sie bildeten kein Dorf, denn die Häuser wurden nicht dauerhaft bewohnt und die gewaltige Mauer diente nicht zur Verteidigung, sondern zur Repräsentation. Nick Card:
    "Die Menschen kamen zu bestimmten Zeiten im Jahr her, tauschten Gedanken und Geschenke aus, arrangierten vielleicht Hochzeiten. Und sie kommunizierten hier mit ihren Göttern."
    Auf der schmalen Landbrücke lag wohl ein Versammlungszentrum, der soziale und religiöse Mittelpunkt der Gemeinschaft. Hier trafen Leute aus verschiedenen Clans und unterschiedlichen Gegenden zusammen. Ihre Häuser gleichen sich in der Grundform - alle sind rechteckig, mit Trennwänden im Innenraum -, unterscheiden sich aber in Details wie der Qualität des Mauerwerks und vor allem der Größe. Es wirkt, meint der Archäologe, als hätten die Menschen darin gewetteifert, wer das schönere, das größere Haus baute.
    Der Kontrast zwischen grundlegender Konformität und kleinen, unübersehbaren Abweichungen ist charakteristisch für die Jungsteinzeit. Forscher schließen daraus, dass sich aus einer egalitären Gesellschaft allmählich Konkurrenzdenken und Individualität entwickelten. Card kann das auch an den Stelen des Rings von Brodgar zeigen, die man ein Stück weiter westlich erreicht.
    Monumente aus der Steinzeit
    27 mächtige, verwitterte Sandsteinplatten stehen noch heute im Kreis auf der Kuppe eines heide-bewachsenen Hügels. Einige ragen bis zu sechs Meter in den Himmel. Ursprünglich waren es um die 60 Stelen, jede tief in den Felsgrund eingelassen. Wozu Menschen der Steinzeit solche aufwendigen Monumente errichteten, ist seit Langem umstritten. Die meisten britischen Forscher gehen zur Zeit davon aus, dass die Steinkreise zur Verehrung der Vorfahren in einem Ahnenkult dienten.
    Im Ring von Brodgar unterscheiden sich die Stelen in der Größe, der Qualität der Bearbeitung und ihrer Herkunft aus verschiedenen Gebieten der Insel. Kein Zufall, meint Ausgräber Card:
    "Verschiedene Gemeinschaften haben ihre eigenen Steine aufgerichtet. Es war wie ein Wettbewerb: Wer bringt den größten Stein, wer mobilisiert die meisten Arbeiter, wer kann sie ernähren? Das war keine egalitäre Gesellschaft mehr, sondern eine Konkurrenz, die schließlich zur Entstehung von Hierarchien führte."
    Die frühen Bauern und Viehzüchter konnten auf den Orkneys eine differenzierte Kultur entwickeln, denn sie profitierten von reichen Ressourcen. Sie mussten nicht ständig um ihr Überleben kämpfen, erläutert Julie Gibson, die County-Archäologin im Hauptort Kirkwall:
    "Wir haben hier einen sehr fruchtbaren Boden und eine Landschaft mit sehr kleinen Bäumen, das Roden ist daher sehr einfach, man braucht keine mächtigen Baumstümpfe auszugraben."
    Dass große Bäume fehlten, führte auch dazu, dass man mit Stein bauen musste. Der Sandstein, der auf den Inseln ansteht, machte es den Menschen leicht: Er lässt sich so gut in handliche Platten brechen, dass sie daraus nicht nur die Häuser, sondern auch die Einrichtungsgegenstände herstellten. Und so bieten die Orkneys rund 5000 Jahre später einen verblüffend detaillierten Einblick in die Lebensbedingungen der Jungsteinzeit. Zum Beispiel in dem hervorragend erhaltenen Dorf Skara Brae an der Westküste:

    "Wenn Sie dort eines der Häuser betreten, stoßen Sie links auf eine große Steinkiste und Sie wenden sich nach rechts. Die Herdstelle liegt dann in der Mitte, der Hausaltar oder die Anrichte steht vor Ihnen an der Stirnwand, rechts finden Sie meist ein größeres Bett, links ein kleineres."
    Und so sieht es in jedem einzelnen Haus von Skara Brae aus. Zwischen den Gebäuden verliefen gepflasterte Wege, darunter steinerne Kanäle für das Abwasser. Außen waren die Bauten von einem Berg aus verrotteten Pflanzen, Mist und Haushaltsabfall umgeben: eine Isolation gegen die scharfen Winde, die den Wohnungen einen höhlenartigen Charakter verlieh.
    Noch eindrucksvoller ist der Grabhügel von Maes Howe, in einer Weide in der Nähe der Steinkreise gelegen. Ein niedriger Gang führt ins Halbdunkel einer geräumigen, rechteckigen Grabkammer: Die glatten Wände, aus Steinplatten aufgeschichtet, verjüngen sich gewölbeartig nach oben. An den Ecken sorgen Pfeiler für Stabilität. Die Gebeine der Verstorbenen wurden vermutlich in Wandnischen abgelegt.
    Hinter der Anlage steckt aber mehr als herausragende Handwerksarbeit, sagt Julie Gibson: Der Zugang war auf den Gang der Sonne durch die umgebende Landschaft ausgerichtet. Julie Gibson:
    "Zur Wintersonnenwende steigt die Sonne zwischen zwei großen Hügeln auf, ihr Licht scheint auf einen Stehenden Stein vor dem Grabhügel, fällt in den Gang und erleuchtet das Innere. Ein Haus der Toten, erleuchtet am dunkelsten Tag des Jahres: Das ist eine verblüffende, durchdachte Architektur, die zeigt, wie bewusst die Menschen die Landschaft und den Kosmos einbezogen."
    Die Monumente erlauben Rückschlüsse auf Kult und sozialen Wandel in der Jungsteinzeit. Sie belegen auch den intensiven Austausch zwischen weit entfernten Gegenden. Das Konzept für die Grabanlage von Maes Howe kam aus Irland, die Bauweise von Skara Brae wurde in südenglischen Durrington Walls bei Stonehenge übernommen. Und die Steine von Stenness könnten Vorbild für viele jüngere Steinkreise auf den Britischen Inseln gewesen sein.
    Ein völlig neues Bild der Epoche
    Die neuen, manchmal spektakulären Entdeckungen, sogar an altbekannten Fundorten wie den Orkneys und Stonehenge, haben die britische Vorgeschichtsforschung beflügelt. Jetzt hat sich auch die Tür zur nicht-materiellen Welt der Jungsteinzeit einen Spalt breit geöffnet. Ein neues Bild der Epoche zeichnet sich ab, meint Dr. Alison Sheridan, Kuratorin im Schottischen Nationalmuseum in Edinburgh:
    "Wir sind gerade dabei, unsere Lehrbücher zu zerreißen und neue zu schreiben!"
    In der Vorgeschichtsabteilung im Untergeschoss des Museums zeigt die Archäologin ein Beispiel: Neben Gewandnadeln aus Walrosszahn liegen drei faustgroße Steinkugeln in einer Vitrine, jede etwas anders gestaltet: eine poliert, eine mit Noppen bedeckt, eine mit zwei kräftigen Spitzen versehen. Sheridan:
    "Wir sehen hier drei sehr merkwürdig geformte Steinbrocken. Einer davon kommt aus Skara Brae. Fachleute haben lange darüber nachgedacht, wofür diese Steine wohl waren und ich glaube, es waren sehr ausgefallene Waffen. Man kann sie in die Faust nehmen und jemandem damit einen bösen, schmerzhaften Schlag auf den Kopf versetzen."
    Lange hatte man geglaubt, in der egalitären Gesellschaft der Orkneys habe es keine Waffen gegeben. Doch Spuren an Schädeln aus Gräbern belegen, dass die Kultur durchaus nicht nur friedfertig war. Und die fantasievolle, unverwechselbare Gestaltung der Steinkugeln zeigt erneut, wie sich Individualität entwickelte. Die neolithische Gesellschaft war alles andere als gleichförmig und statisch, betont Sheridan:
    "Die Menschen, die diese Gräber bauten und den Ness von Brodgar, waren extrem dynamisch und innovativ. Sie begründeten eine eigene Kultur."
    Ein Fest am Ende
    Eines Tages brach diese florierende Kultur in sich zusammen. In den Ausgrabungen am Ness von Brodgar wird das Ende der Steinzeit fassbar. Die Menschen gaben das monumentale Zentrum hinter der dicken Mauer auf und zerstörten einen Teil - offenbar freiwillig, denn Kampfspuren kamen nicht zutage. Vorher veranstalteten sie aber noch ein letztes, opulentes Fest und schlachteten dafür einen Großteil ihrer Herden. Der Ausgräber Nick Card und seine Kollegen haben die Knochen der Rinder gefunden: In einem rituellen Akt wurden sie rund um das größte, hervorstechendste Gebäude abgelegt:
    "Vielleicht Knochen von drei-, vier-, fünfhundert Rindern. Sie wurden dort gezielt niedergelegt: Die Menschen deponierten zuerst Rinderschädel rund um das Gebäude, errichteten darüber eine Pyramide aus den Schienbeinen von Rindern und darauf legten sie an einigen Stellen noch komplette Skelette von Rehen."
    Was hinter der kunstvollen Deponierung steckt, bleibt ein Rätsel. Aber die Forscher sind sich einig, dass die gesamte Anlage geplant stillgelegt wurde, in einer letzten verzweifelten Demonstration von Reichtum und Selbstbewusstsein, bevor eine neue Zeit anbrach.
    Die Geschichte des Ness von Brodgar, letzter Großbau der Steinzeitkultur auf den Orkneys, endete um 2300 vor Christus in einer Epochenwende. Reisende hatten vom europäischen Festland die Kunst der Metallverarbeitung auf die Britischen Inseln mitgebracht. Als Äxte aus Kupfer und Schmuck aus Gold auftauchten, waren Wissen und Weltanschauung der Steinzeitleute überholt. Die Kultur der großen Ganggräber in Irland riss ab, der Steinkreis von Stonehenge wurde nicht weiter ausgebaut und die Orkneys, einst einflussreiches Zentrum von Wohlstand und Innovation, gerieten in Vergessenheit.