Mittwoch, 22. Mai 2024

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Orte der Stille
Eine Reise nach innen

Ruhe und einen festen Rhythmus - ist es das, was der Mensch braucht? Wo bekommt er das? Unsere Autorin hat sich auf die Suche nach stillen Orten gemacht: In Klöstern, auf Almen und auf Inseln - und ist jedes Mal mit einer anderen Stille heimgekehrt.

Von Isa Hoffinger | 21.06.2015
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    Pilgerdenkmal in León: Auch auf dem Jakobsweg finden Menschen Stille. (picture alliance / dpa)
    Es gibt eine Stille, in der man meint,
    man müsse die einzelnen Minuten hören,
    wie sie in den Ozean der Ewigkeit hinuntertropfen.
    - Adalbert Stifter
    Wir sind zu fünft. Barfuß stehen wir auf dem Parkettboden der Hauskapelle im bayerischen Kloster Ensdorf. Wir bilden einen Kreis. Vor den großen Fenstern an der linken Seite des Raumes geht gerade die Sonne unter.
    Neben mir holt Edgar tief Luft. Seine Stimme ist lauter als die der anderen. Und brüchiger.
    Es war ein herrlicher Sommertag, als Edgar und seine Frau eine Radtour durch die Oberpfalz machten. Sie sauste voraus. Der Wind wehte ihr die Haare aus der Stirn. Dann überquerte sie eine Kreuzung. Das Auto, das sie erfasste, hatte Vorfahrt. Edgar sah zu, wie seine Frau an ihren inneren Verletzungen starb.
    Unser Lied war eine Einstimmung. Ab jetzt schweigen wir. Für 20 Minuten. Die Vibrationen, die wir gespürt haben beim Singen, durch den Widerhall unserer Stimmen von den hohen Wänden, haben unsere Sinne wach gekitzelt. Die Töne sind in uns hinein geflossen wie Wasser in einen offenen Krug. Um wirklich ruhig werden zu können, muss man hellwach sein, achtsam.
    Für mich ist diese Meditation das Ende einer langen Reise. Eigentlich hat sie 43 Jahre lang gedauert, denn genau so alt bin ich heute - aber lassen Sie uns lieber da beginnen, wo alles anfing: Bei meiner Suche nach Stille, die mich schon zu vielen Orten geführt hat. Bis ans andere Ende der Welt, in alle fünf Kontinente und wieder zurück.
    Meeresstille! Ihre Strahlen
    Wirft die Sonne auf das Wasser,
    Und im wogenden Geschmeide
    Zieht das Schiff die grünen Furchen.
    Meeresstille! aus den Wellen
    Taucht hervor ein kluges Fischlein,
    Wärmt das Köpfchen in der Sonne,
    Plätschert lustig mit dem Schwänzchen.
    Doch die Möwe, aus den Lüften,
    Schießt herunter auf das Fischlein,
    Und den raschen Raub im Schnabel,
    Schwingt sie sich hinauf ins Blaue.
    - Heinrich Heine
    An Gott habe ich nie geglaubt
    Seit meiner Kindheit liebe ich das Meer. Den Geruch der nassen Algen, die am Ufer liegen und in der Sonne glänzen. Die salzgeschwängerte Luft. Die Miesmuscheln, die in Felsspalten kleben. Das beruhigende Geräusch der Wellen, die an windstillen Tagen in gleichmäßigem Rhythmus ans Land schwappen. Das Tosen der Brandung bei stürmischem Wetter. Am liebsten würde ich auf einer Insel leben. Mich jeden Tag an den Strand setzen. Und stundenlang aufs Meer hinaus schauen bis zu der Linie am Horizont, wo sich der Himmel und die Erde berühren. Gefunden habe ich das Glück der Stille schon auf vielen Inseln. Teneriffa, Kreta. Und auf Fraser Island, das ist die größte Sandinsel der Erde. Sie liegt im australischen Bundesstaat Queensland.
    Der Ranger Peter Meyer hat mir seine Heimat gezeigt und er hat mir ein Geheimnis verraten:
    "Die Aborigines erzählen sich eine Geschichte. Darüber, wie diese Insel entstanden ist. Es gab einen Gott. Sein Name war Beerel, er war der Schöpfer des ganzen Universums, und eines Tages entschied Beerel, dass die Erde der Platz sein sollte, auf dem Menschen leben. Darum schickte er einen Botschafter auf die Erde, sein Name war Djindinchi. Djindinchi schuf die Erde, er schuf all die wundervollen Flüsse und Seen, die Berge und Bäume, dann kehrte er in die Sternenwelt zurück und berichtete seinem Gott, wie schön die Erde geworden war. Der Gott Beerel hatte eine kleine Tochter, ihr Name war K´gari, sie war zusammen mit Djindinchi auf der Erde gewesen - und als sie die Natur auf der Erde sah, war sie so begeistert von ihrer Schönheit, dass sie unbedingt auf der Erde leben wollte. Ihr Vater sagte: "Das geht nicht, du bist ein Gott, kein Mensch." Aber K´gari bettelte und bat - und so gab ihr Vater nach. K´gari legte sich ins Meer - und ihr Vater transformierte ihren Körper zu einer Insel, und er schuf den Wald und die Flüsse, und die Tiere und die Aborigines, damit sie ein bisschen Gesellschaft hatte. Und ihre Augen verwandelte er in zwei große Seen, damit sie mit ihnen in die Sternenwelt schauen konnte. Und ihr Name, K´gari bedeutet Paradies."
    Was für eine schöne Geschichte. An Gott habe ich nie geglaubt. Es fiel mir immer schwer, mir vorzustellen, dass Naturwunder einen Schöpfer haben. Hier, im Regenwald auf Fraser Island, ist es so friedlich, dass ich beginne, die Legende der Aborigines für bare Münze zu halten. Ich bewundere die jahrhundertealten Bäume: Satinay-Trees. Der Suez-Kanal wurde aus ihrem Holz gebaut, weil es so strapazierfähig ist. Einen dieser Baumriesen versuche ich zu umarmen, er ist mindestens drei Meter dick. Ob es Beerel vielleicht doch gibt? Vielleicht steckt er ja "im leisen Säuseln", wie es in der Bibel heißt.
    Der schönste Ort auf dieser Insel ist der Lake McKenzie. Dieser See sieht so atemberaubend aus, dass es fast schon schmerzt, ihn länger zu betrachten. Wie eine Oase schmiegt er sich hinein in sattgrünen Regenwald. Der Sand an seinem Ufer ist weiß und fein wie Mehl. Rund 200 Süßwasserseen gibt es auf Fraser Island. Viele von ihnen speisen sich aus Grundwasser, das über einer Schicht aus Coffee Rock liegt, einer Mischung aus Sand und organischen Bestandteilen. Wer im Lake McKenzie schwimmen gegangen ist, der fühlt sich hinterher wie neu geboren. Das glasklare Wasser ist so sauber, dass man es trinken kann.
    "Die Dosis macht das Gift"
    Von jeder Reise bringe ich seit Jahren eine andere Stille mit nach Hause. In Kathmandu riecht, schmeckt, klingt sie ganz anders als in den weiten Wäldern Kanadas. Die sternenklarsten und stillsten Nächte gibt es in den Anden. Die ruhigsten Tage habe ich dösend in der heißen Sahara verbracht. Meistens begleitet mich die Stille aber nur wenige Wochen und verschwindet dann wieder. Ich beschließe, sie in meiner Nähe zu suchen, damit ich ihr öfter begegnen kann. Vor dem kommerziellen Angebot von "spirituellen Reisen in Deutschland" graut mir ein bisschen. Deshalb schließe ich mich einer Frauengruppe an, die den Jakobsweg geht.
    Die bayerischen Katholikinnen nehmen mich, die gottlose Skeptikerin, mit, ohne nach meiner Konfession zu fragen.
    Jeder Baum, jede Hecke ist ein Strauß von Blumen, und man möchte zum Maienkäfer werden, um in dem Meer von Wohlgerüchen herumzuschweben und alle seine Nahrung darin finden zu können.
    - Johann Wolfgang von Goethe
    Wir wandern in den Frühling. Die Mandelbäume blühen. An den Zweigen der Kastanienbäume, der Birken, Buchen und Eichen sprießt frisches Grün. Irmi Eder, die uns mit Impulsen begleitet, fordert uns auf, Altes ziehen zu lassen und unsere Sinne für Neues zu öffnen.
    "Mir ist so eine Buchenhecke aufgefallen, weil da die alten Blätter noch dran sind und die neuen herausplatzen."
    Schwester Margit Bauschke, eine Missions-Dominikanerin, fragt uns, was wir beobachtet haben.
    "Vielleicht möchte jemand etwas sagen, was Sie wahrgenommen haben?"
    - "Die alten Bäume."
    - "Die schönen Blumengärten."
    - "Die Alpenkette."
    - "Schön, ja!"
    Wir wandern im Schweigen. 17 Kilometer. Gestartet sind wir in Herrsching am Ammersee.
    Eine erste kurze Rast machen wir in der kleinen Gemeinde Rausch, bei einer Bäuerin, die auch Mesnerin ist. Rosa Maria Ruhdorfer ist eine zupackende, bodenständige Frau mit kurzen, schwarzen Haaren und einem freundlichen, runden Gesicht. Sie hält Hühner und kümmert sich um die kleine Kapelle, die seit dem Jahr 1826 auf ihrem Grundstück steht. Immer wieder wollen Wanderer das Kirchlein bewundern. Sie klopfen dann bei Rosa Maria an die Tür und bitten sie, die Kapelle aufzuschließen.
    "Also in der Früh wird noch gelitten. Und auf Mittag läutet schon der nächste, der Jäger. Das war zuerst einmal eine Holzkapelle, und die ist do g'standen, wo der Kastanienbaum steht, aber die ist abgebrannt, und dann hat man es halt da rüber gebaut, da hat man es halt mit Stein gebaut."
    Als Bäuerin hat Rosa Maria natürlich viel zu tun. Ob sie auch manchmal Sehnsucht hat nach der Stille, wie ich?
    "Alles zu seiner Zeit. Ich sag immer: Die Dosis macht das Gift. Zu viel Ruhe ist nix und zu viel Krach ist auch nix."
    In der Abgeschiedenheit eines idyllischen Bergdorfes
    Von Rosa Maria lerne ich, dass wir Menschen einen festen Rhythmus brauchen. Das Leben der Bauern ist vom immer gleichen Wandel der Jahreszeiten geprägt, das gibt ihnen eine feste Struktur: Säen, Wässern, Ernten, wieder neu aussähen. Ein harmonischer Kreislauf. In unserem Stadtleben, in dem wir abends oder am Wochenende am Computer sitzen, manchmal bei künstlichem Licht zu lange wach bleiben, obwohl wir schon müde sind, schaltet sich unsere biologische Uhr ab. Das macht uns nervös. Auch bei unserem Speiseplan gibt es keine Regeln mehr. Erdbeeren können wir das ganze Jahr über in jedem Supermarkt kaufen, aber sie schmecken nicht mehr richtig. Wer sie selbst pflückt, der merkt, wie süß sie sind, wenn sie reif geerntet und gleich gegessen werden. Es macht die meisten Menschen nicht glücklich, alles sofort haben zu können. Den ersten Spargel aus Griechenland schon im März und Spekulatius ab September. Uns fehlt durch diese Kommerzialisierung etwas Entscheidendes: Die Freude, auf ein Fest hin zu leben, auch mal warten zu können, bis die richtige Zeit für etwas gekommen ist.
    Ich bin müde. Rechtschaffen müde. Es gibt einen großen Unterschied zwischen der wohltuenden Erschöpfung und der nervösen, ausgelaugten. Am nächsten Tag ziehe ich in ein Kloster. Nach Benediktbeuern in Oberbayern.
    Aus der Stille werden die wahrhaft großen Dinge geboren.
    - Thomas Carlyle
    Im Kloster Benediktbeuern gibt es Gästezimmer. Claudia Freund leitet das Gästehaus:
    "Jetzt san halt die Kommunionkinder aus Bad Tölz da, da wird dann ein bisschen öfter geläutet. Jetzt gehen wir in unsere Obstgartenwiese, die ist für unsere Gäste da, liegt direkt vor den Gästehäusern, da haben wir auch eine Sitzgarnitur, damit man die Ruhe genießen kann."
    Ich bestaune die alten Obstbäume. Aus den Äpfeln, die die Bäume bald tragen werden, pressen die Ordensmänner Saft. Ob es hier im Sommer sehr voll ist?
    "Wir haben elf Zimmer mit Dusche/WC und 13 Zimmer mit Etagendusche, wir haben sehr viele Gruppen, Yogagruppen, viele Einzelgäste, die nur einmal bissl Ruhe und Zeit zur Besinnung suchen. Für manche ist es so der Zwischenstopp, und dann geht's nach Italien weiter."
    An der Klosterpforte gibt es einen kleinen Laden. Bücher mit Titeln wie "Kraft tanken" oder "Wege zur Gelassenheit" stehen im Regal. Ich bin mit Herlinde Bergrath verabredet und bekomme eine Privatführung.
    "Dieser Raum hier war der Festsaal der Kurfürsten gewesen, und gearbeitet hat hier Johann Baptist Zimmermann, der auch die Wieskirche ausgestaltet hat, der Raum dient heute den Salesianern als Hauskapelle, die Salesianer haben in der Früh und Abend Vesper oder Gottesdienst und die Gebetszeiten finden hier statt, weil es einfach hier nicht ganz so kalt ist wie in der recht frischen Basilika."
    Auch der berühmte Optiker Joseph von Fraunhofer arbeitete in Benediktbeuern. In der Abgeschiedenheit des idyllischen Bergdorfes entwickelte er im 19. Jahrhundert schlierenfreies Glas. Die Fraunhofer Glashütte neben dem Kloster existiert noch, man kann sie besichtigen.
    Außengeräusche als Spiegel des Gemütszustands
    Mit dem Regionalzug bin ich nach Hegne gefahren, an den Bodensee. Jetzt bin ich enttäuscht. Vor dem Kloster Hegne liegt eine breite, stark befahrene Straße. Und hier soll ich die Ruhe finden, die ich doch gerade schon gefunden hatte? Ein paar Minuten später, nachdem ich durch die Klosterpforte gegangen bin, steht die Stille leibhaftig vor mir. Schwester Edith Maria Senn ist 1,80 Meter groß und strahlt so viel Zuversicht und innere Kraft aus, dass ich mich in ihrer Nähe sofort geborgen fühle. Schwester Edith bietet Schweigetage und Gespräche an.
    "Es kommt nicht nur auf die äußere Stille an, sondern dass es auch in mir selber, in meinem Herzen still ist, also ein großer Mystiker zum Beispiel, der schon ganz tief in seiner Beziehung zu Gott lebt und auch verwurzelt ist, der kann mitten im Lärm diese Stille spüren, natürlich brauche ich den äußeren Ort der Stille um hineinzufinden in die innere Stille. Aber es kann eben auch die Herausforderung drin liegen, dass ich in der Stille erst mal ganz viel in mir an Lärm spüre, also Lärm, der im Alltag mich bestimmt, und wenn ich im Alltag nicht genügend Zeit habe, Räume habe, wo ich das anschauen kann, zulassen kann, dann kann es in so einer Stille in mir ganz stark arbeiten und es kann dann manchmal auch schwierig sein, dann kommen Menschen eher dazu, zu sagen, diese Stille macht mich wahnsinnig. Die halt ich nicht aus."
    Nur eine Nacht bleibe ich im Kloster Hegne. Dann fahre ich nach Ensdorf, zur letzten Station auf meiner Reise. Auf dem kurzen Weg vom Kloster zum Bahnhof in Hegne stören mich die Autos nicht mehr.
    "Für mich sind so Außengeräusche immer ein Spiegel, dass ich seelisch nicht gut drauf bin, weil es mich nervt, weil es mich stört, weil es mich ablenkt, und wenn es mir aber gut geht, dann höre ich das manchmal gar nicht."
    Vor der Meditation im Kloster Ensdorf besuche ich den Gottesdienst. Die Salesianer machen Jugendarbeit. Besonders still ist es in ihrem Kloster darum fast nie. Auch in Bad Ensdorf gibt es ein Programm für Stillesuchende. "Atem holen" heißt es. Jeder, der mag, kann eine Weile mit den Brüdern leben, mit ihnen essen, in einem ihrer Zimmer im Haupthaus schlafen und an ihren Gebeten teilnehmen. Ich fühle mich gelassen. Und die wohltuende Stille in mir macht jetzt viel Platz, für die Freude über die hellen Stimmen der Kinder, die den Gottesdienst begleiten.
    Wieviel Schönes ist auf Erden
    Unscheinbar verstreut;
    Möcht' ich immer mehr des inne werden;
    Wieviel Schönheit, die den Taglärm scheut,
    In bescheidnen alt und jungen Herzen!
    Ist es auch ein Duft von Blumen nur,
    Macht es holder doch der Erde Flur,
    wie ein Lächeln unter vielen Schmerzen.
    - Christian Morgenstern