Donnerstag, 18. April 2024

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Ostukraine
"Die Lage ist völlig unübersichtlich"

Die ukrainischen Streitkräfte seien überhaupt nicht in der Lage, den Osten ihres Landes zu befrieden, sagte Harald Kujat im Deutschlandfunk. Um Stabilität zu erzeugen, schlägt der ehemalige Vorsitzende des NATO-Militärausschusses den Einsatz einer internationalen Gruppe vor - ähnlich der KFOR im Kosovo.

Harald Kujat im Gespräch mit Gerd Breker | 30.05.2014
    Harald Kujat, ehemaliger Generalinspekteur der Bundeswehr
    Harald Kujat, ehemaliger Generalinspekteur der Bundeswehr ( picture alliance / ZB)
    Gerd Breker: Die ukrainische Regierung will ungeachtet militärischer Rückschläge und massiver Warnungen aus Russland ihre Offensive gegen die Separatisten im Osten des Landes mit aller Härte fortsetzen. Unsere Aufgabe ist es, Frieden und Ordnung in die Region zu bringen, erklärte der Verteidigungsminister. Er warf Russland vor, verdeckte militärische Einsätze aufseiten der Rebellen zu steuern.
    Und am Telefon sind wir nun verbunden mit Harald Kujat, ehemaliger Generalinspekteur der Bundeswehr und ehemaliger Vorsitzender des NATO-Militärausschusses. Guten Tag, Herr Kujat!
    Harald Kujat: Ich grüße Sie, Herr Breker!
    Breker: Die Separatisten in der Ostukraine, das ist kein homogener Verein, das ist eher so ein bunter zusammengewürfelter Haufen?
    Kujat: Das ist richtig, das ist immer so in solchen Situationen, in solchen Krisen. Da werden immer Kräfte nach oben gespült, von denen man vorher gar keine Notiz genommen hat. Und es kommt hinzu, es gibt, man könnte sagen, sogar einen Tourismus von Terroristen internationaler Art, das haben wir gesehen im Kosovo, das passiert ja auch in Syrien. Also, die Lage ist völlig unübersichtlich und ich habe auch den Eindruck, dass auch Russland nicht in der Situation ist, dass es die Entwicklung dort kontrollieren kann.
    Breker: Es mehren sich die Hinweise, dass tschetschenische Kämpfer von Kadyrow, dem tschetschenischen Präsidenten, eingeschleust wurden. Ist das unwahrscheinlich?
    Kujat: Nein, das ist überhaupt nicht unwahrscheinlich. Das halte ich durchaus für möglich. In einer instabilen Situation versuchen immer Kräfte von außen, die Dinge zu beeinflussen, mitzuspielen dort. Und es ist schwierig sogar in den meisten Fällen zu erkennen, was eigentlich die Motivation dabei ist. Ich hatte manchmal in der Vergangenheit den Eindruck sogar, es sind einfach Leute, die an solchen Ereignissen ihre Freude haben, die kämpfen wollen, weil sie das für eine tolle Sache halten. Und die Ostukraine ist im Augenblick der geeignete Platz dafür.
    Breker: Und diese Gruppen oder diese Separatisten können in dem Sinne auch eigentlich gar nicht zentral gesteuert werden, gelenkt werden?
    Unterschiedliche Gruppierungen mit unterschiedlichen Zielsetzungen
    Kujat: Nein, das ist eine Erkenntnis, die wir eigentlich schon lange hätten haben müssen. Wir waren ja immer der Meinung, dass das alles von Moskau aus inspiriert und auch kontrolliert und gesteuert wird. Sicherlich hat Moskau seine Finger da im Spiel gehabt, insbesondere da am Anfang, aber im Augenblick ist es so, dass es so viele unterschiedliche Gruppierungen mit völlig unterschiedlichen Zielsetzungen gibt, dass man sagen muss, die Russen haben das sicherlich nicht mehr unter Kontrolle. Wenn sie jemals die volle Kontrolle überhaupt hatten.
    Breker: Und dieser Umstand, Herr Kujat, hat auch Auswirkung auf die Art und Weise, wie dort gekämpft wird. Kann überhaupt die ukrainische Armee diesen militärischen Kampf militärisch gewinnen?
    Kujat: Nein. Wir sind im Augenblick in der Situation, dass natürlich die ukrainische zentrale Regierung alles unternehmen muss, und das tut sie ja auch. Aber wir müssen auch sehen, dass die ukrainischen Streitkräfte überhaupt nicht in der Lage sind, diese Gegend zu befrieden. Das halte ich für ausgeschlossen. Obwohl wir sehen, dass auch diese Separatisten, Terroristen, wie auch immer man sie nennen will, sich untereinander bekämpfen. Aber gleichzeitig sind wir ja offensichtlich auch mit der Diplomatie nicht weitergekommen, wir dümpeln ja seit Monaten dahin. Es gibt Telefonanrufe, es wird telefoniert, es wird appelliert, man ringt die Hände, aber es gibt keine Lösung, es zeichnet sich keine Lösung ab in dieser Situation. Wir müssen erkennen, dass wir mit der bisherigen Vorgehensweise zu keinem Ergebnis kommen, jedenfalls zu keinem positiven Ergebnis. Und wenn die Situation uns weiter entgleitet im Osten, also wenn dieses Krebsgeschwür sich dann vom Osten her auf die gesamte Ukraine ausbreitet, dann wird es zu spät sein. Ich habe den Eindruck, dass man im Augenblick ratlos ist in der Diplomatie und in der Politik, wie es eigentlich weitergehen soll.
    Harald Kujat, geboren am 1. März 1942 im polnischen Mielke und aufgewachsen in Kiel, ist ein General a.D.

    Von 2002 bis 2005 war er Vorsitzender des NATO-Militärausschusses, zuvor arbeitete er zwei Jahre lang als Generalinspekteur der Bundeswehr.
    Breker: Und das alles geht zulasten der Menschen, die da einfach nur leben und leben wollen.
    Kujat: Es geht auch langfristig zulasten der internationalen Stabilität und es geht damit auch zulasten unserer eigenen Sicherheit.
    Breker: Herr Kujat, wenn jemand ein Interesse an einer dauerhaften Instabilität in der Ukraine hätte – dann würde er genau so vorgehen!
    Kujat: Das ist richtig. Aber es ist auch häufig so, dass allen Beteiligten die Fäden entgleiten, dass keiner mehr so richtig in einer Kontrollsituation ist. Und das ist eigentlich die schwierigste Situation, wenn sich die Ereignisse verselbstständigen dort. Und ich habe immer mehr den Eindruck, dass allein durch die Tatsache, dass wir es mit immer mehr Akteuren zu tun haben – da sind ja auch kriminelle Organisationen dabei, die ihre eigenen Interessen verfolgen, das ist immer so in solchen Krisensituationen –, dass die Dinge sich also in einer Weise verselbstständigen, dass sie mit den herkömmlichen Mitteln nicht mehr unter Kontrolle gebracht werden können. Und wir schauen im Augenblick zu. Das heißt, viele Staaten schauen auf Deutschland und erwarten sich von Deutschland eine Lösung. Aber die scheint offensichtlich nicht vorhanden zu sein.
    Breker: Wenn herkömmliche Mittel, Herr Kujat, nicht helfen, was kann helfen?
    Kujat fordert internationale Stabilitätsgruppe ähnlich der KFOR
    Kujat: Nun, wir müssen zu den Mitteln greifen, die sich in der Vergangenheit bewährt haben. Und wir müssen, ja, wir wollen verhindern auch, dass Russland, dass eine Situation entsteht, in der Russland gar nicht anders kann als militärisch einzugreifen, um die Sache zu stabilisieren. Also müssen wir selbst etwas tun, um Stabilität zu erzeugen. Und das müssen wir gemeinsam mit Russland tun, daran geht gar kein Weg vorbei. Und da bietet sich aus meiner Sicht an das Modell, dass wir eben Kosovo eingesetzt haben, KFOR, wo wir eine internationale Stabilitätstruppe eingesetzt haben aus westlichen Staaten und russischen Staaten, wo also deutsche, amerikanische und russische Streitkräfte gemeinsam für Stabilität gesorgt haben. Ich denke, das ist ein vernünftiges Modell. Aber es erfordert natürlich, dass man zunächst mal für sich selbst die Erkenntnis sieht, wir kommen mit der Diplomatie nicht weiter, jetzt müssen wir handeln. Und diese Möglichkeit gibt es durchaus, sie ist vorgegeben auch in der Grundakte der strategischen Partnerschaft zwischen der NATO und Russland. Ich denke, dies ist die einzige Lösung im Augenblick, die uns noch zu mehr Stabilität und Sicherheit führt.
    Breker: Die Einschätzung von Harald Kujat, dem ehemaligen Vorsitzenden des NATO-Militärausschusses. Herr Kujat, ich danke für dieses Gespräch!
    Kujat: Ich danke Ihnen auch, alles Gute!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.