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Ostukraine
Für die Rente mit dem Bus durchs Niemandsland

Täglich fahren Kleinbusse zwischen den Separatistengebieten und den von der ukrainischen Armee kontrollierten Städten. Viele der Passagiere sind Rentner. Sie müssen die Separatistengebiete verlassen, um ihre Rente ausgezahlt zu bekommen.

Von Florian Kellermann | 29.12.2014
    Einwohner von Donetzk warten vor einem Geldautomaten. Im Vordergrund ein Obststand
    Die Ukraine hat das Bankensystem in den sogenannten Volksrepubliken lahmgelegt. (dpa / picture alliance / Pochuyev Mikhail)
    Der Kleinbus ist überfüllt. Am Busbahnhof sind mehr Sitzplätze verkauft worden, als es tatsächlich gibt, zehn Passagiere haben sich in den schmalen Gang zwischen den Sitzen gequetscht. Die meisten der Reisenden sind Rentner.
    Solche Kleinbusse fahren derzeit täglich zu Dutzenden über die inoffizielle Grenze zwischen dem Separatistengebiet und den Städten, die von der ukrainischen Armee kontrolliert werden.
    Auf dem Sitz ganz in der Ecke kauert ein Mütterchen, sie hält sich an ihrem Stock fest. Sie fährt öfter von Artemiwsk auf der ukrainischen Seite - nach Donezk, wo die Separatisten eine von ihnen sogenannte Volksrepublik errichtet haben.
    "Früher hat so eine Fahrt zwei Stunden gedauert. Jetzt sind es vier, wenn wir Glück haben. Wir fahren nicht auf direktem Weg über die Schnellstraße, sondern über die kleinen Straßen mit ihren Schlaglöchern, über die Dörfer. Beinahe über die Gemüsegärten. Und das nur, damit sie uns nicht schnappen."
    Die Passagiere links und rechts lachen, denn die meisten im Kleinbus sind Rentner. Wer sollte sie schon schnappen wollen? "Damit uns die Bomben nicht treffen", verbessert sich das Mütterchen und fügt hinzu:
    "Aber zu Fuß wäre es ja noch viel weiter." Wieder sorgt sie für Lacher ringsum. Denn erstens wird der Bus rund 100 Kilometer weit fahren. Und zweitens: Die Vorstellung, zu Fuß an den schwer bewaffneten Straßensperren vorbeizuschlendern, ist einfach zu komisch.
    Trotz allem können die Menschen noch lachen, trotz der Todesgefahr, die sie in den vergangenen Monaten kennengelernt haben. Zwei junge Frauen erzählen:
    "Einmal ist eine Granate direkt neben dem Bus explodiert, das hat uns schon einen Schrecken eingejagt. Man könnte sagen, in diesen Zeiten wird einem nie langweilig. Aber ehrlich gesagt haben wir die Nase voll von den Kämpfen."
    Studenten und Rentner nehmen den Bus
    Die beiden sind Studentinnen, am Wochenende fahren sie zu ihren Eltern nach Hause ins Separatistengebiet. Ihre Universitäten sind umgezogen, in eine von der Ukraine kontrollierte Stadt. So hat es der ukrainische Präsident Petro Poroschenko verfügt. Die Studentinnen fallen beinahe um - der Bus fährt durch einige besonders tiefe Schlaglöcher.
    Auch die vielen Rentner im Bus sind unterwegs, weil die Ukraine eine für sie folgenreiche Entscheidung gefällt hat. Sie hat das Bankensystem in den sogenannten Volksrepubliken lahmgelegt und zahlt keine Renten mehr aus. Wer seine Bezüge dennoch erhalten will, musste sich in einer Stadt außerhalb des Separatistengebietes beim Amt anmelden. Diese Menschen können nun dort bei einer Bank ihr Geld abheben - in der Regel um die 60 Euro im Monat. Ein Fünftel davon geben sie schon für die Busfahrt aus.
    Ein Skandal sei die Regelung, meint eine 78-Jährige aus der Stadt Charzisk.
    "Es nützt ja nichts, wir müssen diese Tortur auf uns nehmen, wir müssen ja irgendwie leben. Aber die ukrainische Regierung hält uns offenbar nicht mehr für ukrainische Staatsbürger, sonst würde sie uns nicht so behandeln. Ich warte nur noch darauf, dass sie uns unsere Pässe wegnehmen."
    Straßensperren und Personenkontrollen
    Der Bus wird langsamer, er fährt an einer Straßensperre der ukrainischen Armee vorbei. Schweres militärisches Gerät ist nicht zu sehen. Aber rechts und links verlaufen Schützengräben durch das flache Land. Auch Panzer und Haubitzen hätten die Ukrainer inzwischen in der Erde eingegraben, sagen die Passagiere - eine echte Verteidigungslinie ist hier entstanden.
    Gerade zweieinhalb Kilometer weiter nähert sich die Straßensperre der Separatisten. Niemandsland nennen die Menschen das Gebiet dazwischen. Die Dörfer dort haben es besonders schwer: Sie bekommen weder von der einen noch von der anderen Seite humanitäre Hilfe.
    Ein Kämpfer der Separatisten, mit Maschinengewehr bewaffnet, kontrolliert die Passagiere. Seine sehr jungen Gesichtszüge zeigen Erschöpfung. Männer bis 55 Jahre und Frauen bis 35 müssen den Bus verlassen. Manche müssen ihre Schulter entblößen: Der Kämpfer will wissen, ob sich dort die Riemen eines Gewehrs abgezeichnet haben. Ob die junge Frau etwa eine Scharfschützin ist.
    Sie könne das alles nicht begreifen, sagt die 78-Jährige aus Charzisk, als der Bus wieder fährt.
    "In diesem Alter will doch keiner sterben. Von ihnen will doch keiner kämpfen, hüben wie drüben. Natürlich gibt es ein paar Verrücktgewordene, aber das ist die Minderheit. So war es doch auch im Zweiten Weltkrieg. Da kamen die Faschisten, aber unter den Deutschen waren auch solche, die uns Arzneimittel gebracht haben. Das hat mir meine Mutter erzählt."
    Schon nach knapp über drei Stunden kommt der Bus an den Stadtrand von Donezk. Die Fahrt war kürzer als gedacht, weil die beiden Seiten seit zwei Wochen nicht mehr so intensiv aufeinander schießen. Aber an einen dauerhaften Waffenstillstand glauben die meisten Menschen im Bus vorerst nicht. Sie haben sich daran gewöhnt, pessimistisch zu denken: Sie wollen nicht, dass die Wirklichkeit ihre Hoffnungen immer wieder enttäuscht.