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Otar Tschiladse: "Awelum"
Schriftsteller im Bürgerkrieg

In seinem 1995 erstmals erschienen Epos erzählt der Georgier Otar Tschiladse das Leben eines Schriftstellers namens Awelum. Während sich auf den Tifliser Straßen georgische Demonstranten und sowjetische Truppen erbitterte Kämpfe liefern, spürt Tschiladses Alter Ego dem Ideal der wahren Freiheit nach.

Von Cornelius Wüllenkemper | 18.02.2019
    Otar Tschiladses Roman „Awelum“ vor georgischen Schriftzeichen
    Liebe und Freiheit in den georgischen Kriegswirren (Buchcover Matthes & Seitz Verlag / Hintergrund dpa-news / Arne Dedert)
    Von der ersten Zeile an lässt Otar Tschiladse keinen Zweifel daran, dass der Verfasser der vorliegenden Geschichte, dieser Awelum, ein "vollberechtigter, freier Bürger" Georgiens, womöglich er selbst ist. Tschiladse greift damit die Erzähl-Tradition der Geschichte in der Geschichte auf, aber das ist erst der Anfang einer ganzen Reihe von Verwirrspielen, Zeitsprüngen und doppelten Böden, die den Leser dieser ausufernden Erzählung über oder von "Awelum" erwarten.
    "Müßiger Leser! Ohne Schwur magst Du mir glauben, dass ich wünsche, er selbst könnte seine Abenteuer beschreiben, er, von dem ich Dir erzählen will, vielmehr an dessen statt ich zu berichten habe, und dann und wann wird es Dir wohl gar schwerfallen, uns beide zu unterscheiden, was Dir, mag es auch verwirren, viel innere Freiheit beim Lesen lässt – wie es Dir beliebt, sollst Du bald den Verfasser, bald den Helden vor Dir sehen, und nicht nur darum, weil wir, Verfasser und Held, zur gleichen Zeit in demselben Land, in derselben Stadt und in demselben Milieu gelebt haben, sondern auch, weil das Schicksal uns zu Komplizen gemacht hat."
    Ein hypnotischer Gedankenstrom
    "Müßiger Leser", diese augenzwinkernde Anspielung auf Miguel de Cervantes’ "Don Quijote" legt nahe, dass wir es trotz allem doch mit einer frei erfundenen Geschichte zu tun haben. Mit seinem Verwirrspiel zieht Otar Tschiladse geneigte Leser von Anfang an in einen literarischen Strudel, aus dem er sie nicht mehr entlässt. In einem hypnotischen Gedankenstrom durchleuchtet sein Awelum die georgische Geschichte von der blutigen Niederschlagung der antisowjetischen Demonstration 1956 bis hin zum Bürgerkrieg 1991. Seit Awelum 1956 vergeblich versuchte, einem schwerverletzten Demonstranten das Leben zu retten, bleibt er von nun an stets in der Rolle des erzählenden Beobachters."
    "Dabei sollte ich es wohl lieber vorweg bekennen, dass in meinem Bericht die Erörterung vor dem Erleben steht, die Reflexion vor der Handlung. Und es ist nicht nur denkbar, sondern auch möglich, dass in der Tat alles sinnlos und dumm vernichtet wird, und dass mein "Werk" sich letztlich als unnütz erweist. Zu schweigen ist jedoch auch nicht mehr möglich."
    Auf der Suche nach der wahren Freiheit
    Zu schweigen ist dem fiebrigen Erzähler nicht möglich, weil unklar ist, ob es morgen noch eine Ordnung, ob es noch Bücher, Leser oder Menschlichkeit gibt, oder doch das Weltenende naht. Von seinem Schreibplatz in Tiflis aus sieht Awelum zu, wie am 9. April 1989 sowjetische Truppen friedlich demonstrierende Studenten mit Spaten niedermetzeln und mit Kampfgas in die Flucht schlagen. Dieses barbarische Geschehen bildet den Auftakt zum Zusammenbruch des "Imperiums" – womit freilich nicht nur das Ende der Sowjetunion gemeint ist, sondern auch Awelums ganz eigenes Imperium, das er "Reich der Liebe nennt". Die Frage nach der Liebe ist für Awelum nämlich vor allem die nach dem abstrakten Begriff wahrer Freiheit.
    "Sodass ich denn, mein lieber müßiger Leser, wie ich es Dir schon sagte, vorerst noch gar nicht weiß, womit ich Dir aufwarten werde. Dort häutet sich das weltbekannte Reich des Bösen, hier stürzt unversehens Awelums eigenes, vielmehr nur für ihn existierendes, in seinem Herzen verborgenes Reich der Liebe ein, für dessen Errichtung er seinerzeit durch wer weiß wie viele Feuer gehen, durch wer weiß wie viele Schlingen schlüpfen, wer weiß wie viele Löcher und Verstecke finden musste. Der Niedergang der beiden Reiche ist selbstredend von untrennbarem Zusammenhang, denn beide sind sie für uns unsichtbar aneinandergekettet."
    Awelums innere Selbstverortung
    Awelums Reich der Liebe ist bevölkert von drei Frauen, die ihrerseits emblematische Figuren innerhalb der Erzählung sind: Françoise, die Französin, mit der sich Awelum unter Beobachtung des KGB in Moskau zu geheimen Liebestreffen verabredet, verkörpert die nervöse, ehrgeizige und getriebene Freiheit des kapitalistischen Westens. Sonja, seine russische Geliebte, steht demgegenüber für die Versklavung des Menschen im sowjetischen System der Unfreiheit. Melania wiederrum, Awelums georgische Ehefrau, ist ein Symbol der tief verwurzelten Heimatliebe.
    Frauen spielen eine zentrale Rolle in Awelums monologisierender Selbstverortung. Seine Tochter Eka etwa inkarniert die Generation derer, die sich am 9. April 1989 vor dem Tifliser Regierungspalast den sowjetischen Panzern entgegenstellten. Sie starben für die Idee der Freiheit, die sie aus den Büchern der Schriftsteller kannten. Als Tochter Eka zwei Jahre später im georgischen Bürgerkrieg kämpft, besucht Awelum sie und ihre Mitkämpfer an der Front.
    "Damit ihr’s wisst – dieser Mensch ist ein Schriftsteller", erklärt Eka den anderen, und wie ein Atman stellt sie den Fuß auf den Pappkarton. Anscheinend ist sie hier Befehlshaber. Die anderen sehen dich staunend und neugierig an. "Nicht wahr", fragt Eka leise, damit es die anderen nicht hören, "für dich ist das Wichtigste doch die Schriftstellerei?" Dabei lächelt sie angespannt und plötzlich gerät sie in Wut: "Deshalb bist du doch hergekommen, oder? Ein Buch wirst du über uns schreiben und damit deine patriotische Pflicht erfüllen, stimmt’s?"
    Kunstvoll fabulierender Stil und psychologische Tiefe
    Genau dieses Buch hat Awelum, oder vielmehr der Autor Otar Tschiladse geschrieben. Es ist ein großes, episches Buch über den Unterschied zwischen dem Verlangen nach Freiheit und der Fähigkeit zur Freiheit, und über die Idee der Freiheit in einem System der Unfreiheit. Es erzählt zugleich über die Angst des Schriftstellers vor der Wirklichkeit.
    Man weiß nicht recht was man an Otar Tschiladses "Awelum" mehr bewundern soll, seinen kunstvoll fabulierenden Stil, der ganz unverhohlen den magischen Realismus Lateinamerikas feiert. Oder die psychologische Tiefe seiner Frauenfiguren, die den Vergleich mit Emma Bovary, Anna Karenina oder Effie Briest nicht scheuen müssen. Oder ist es seine brillant formulierte Selbstkritik als Schriftsteller? Am Ende scheitert Awelum im Kampf um seine eigene und um die Freiheit Georgiens. Gerade weil er keine Partei ergreift, gerät er zwischen die Fronten. Awelums Geschichte kennt keine einfachen Lösungen, sondern zelebriert das unstillbare, widersprüchliche Ringen mit dem Ideal der Freiheit.
    Otar Tschiladse: "Awelum", aus dem Georgischen von Kristiane Lichtenfeld, Matthes & Seitz, Berlin, 602 Seiten, 30 Euro